Efeu - Die Kulturrundschau

Schoppe blieb cool

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26.08.2021. Ein betretener Tagesspiegel lernt aus einer Ausstellung über Künstler des Nationalsozialismus, wie ungeniert diese oft ihre Karriere nach dem Krieg fortsetzen konnten. Sogar NS-Gedenkstätten durften einige gestalten, erzählt Kurator Wolfgang Brauneis in Monopol. Frauen hatten es in der Bundespolitik dagegen deutlich schwerer, weiß die Zeit aus Torsten Körners Doku "Die Unbeugsamen". Die neue musikzeitung hört in Bayreuth Siegfried Wagners polyamourösen "Friedensengel". Die taz lässt sich vergnügt auf dem Dancefloor zwischen Waldbrand und Flutkatastrophe von der Hamburger "School of Zuversicht" beschallen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.08.2021 finden Sie hier

Film



Was für eine exzellente Idee! Torsten Körner hat mit "Die Unbeugsamen" einen Dokumentarfilm über Politikerinnen in der Bundesrepublik gedreht. Mit dabei die ehemalige SPD-Justizministerin Herta Däubler-Gmelin, die ehemalige Familienministerin und Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU), die Finanzexpertin Ingrid Matthäus-Maier (FDP, später SPD), Ursula Männle (CSU) und Christa Nickels (Die Grünen), schreibt Carolin Ströbele bei Zeit online. "Aus ihren Stimmen und historischen Aufnahmen aus dem Bundestag, Fernsehsendungen und Interviews setzt der Regisseur ein Panorama der deutschen Nachkriegspolitik zusammen und fragt: Welchen Einfluss hatten Politikerinnen darin?" Mit dabei auch Renate Schmidt, Ex-SPD-Familienministerin, die im Film sagt: "'Macht wird als unweiblich angesehen.' Sie habe Macht haben wollen, sagt Schmidt. Und wie sie das sagt, mit ihren weißen Haaren, elegant und selbstsicher, ist das ein tolles Bild, das den Ton setzt für die weiteren Porträts. 'Wenn ich machtlos bin, dann bin ich ohnmächtig und ich will, gerade weil ich eine Frau bin, nicht ohnmächtig sein', sagt Schmidt weiter. 'Ich möchte Macht haben, Einfluss haben, um die Dinge, die ich für richtig halte, umsetzen zu können.'"

Wieviel Standvermögen man noch in den achtziger Jahren als Frau im deutschen Parlament brauchte, lernt Welt-Kritikerin Cosima Lutz aus dem Film: "Im Mai 1983 brauchte es nur eine Rede der Grünen-Abgeordneten Waltraud Schoppe im deutschen Bundestag, und schon offenbarten sich die Herren Abgeordneten als grölender Haufen Spätpubertierender. Es ging um den Paragrafen 218. Schoppe sprach geduldig aufklärend über einvernehmlichen Sex in der Ehe. 'Hexe!' schrie einer ungeniert, als sei man schon im Internet, 'sowas hätte man früher verbrannt'. Schoppe blieb cool, es waren die Anzugträger, die jaulten. Der etwas andere #Aufschrei."

Weitere Artikel: Fabian Tietke berichtet in der taz vom Festival filmPolska im Berliner Zeughauskino, das an den Regisseur Wojciech Jerzy Has erinnert. Nina Jerzy porträtiert für die NZZ den ehemaligen Gucci-Designer Tom Ford, der sich 2009 als Filmregisseur wiedererfand. Wilfried Hippen berichtet in der taz vom 4. Obscura Filmfestival Hannover. In der SZ schreibt Fritz Göttler zum Achtzigsten des französischen Nouvelle-Vague-Filmregissseurs Barbet Schroeder.

Besprochen werden Malgorzata Szumowskas Kino-Kunstwerk "Der Masseur" (Welt), Pietro Marcellos Verfilmung von Jack Londons Roman "Martin Eden" (Perlentaucher, FR, Zeit), Lisa Joys Zukunftsthriller "Reminiscence" (FR, SZ), Florian Zellers Filmdrama "The Father" (Perlentaucher, Tsp, Standard, FAZ), Sven O. Hills Spielfilm-Debüt "Coup" (taz), Timo Großpietschs Dokumentarfilm "Land" (Zeit) und die Amazonserie "Nine Perfect Strangers" mit Nicole Kidman (Welt).
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Kunst

Bild: Willy Meller, Die Trauernde. Vor der Gedenkhalle in Oberhausen, 1962 © DHM/Fotograf: Thomas Bruns, 2020

Sehr verdienstvoll findet Nicola Kuhn im Tagesspiegel die Ausstellung "Die Liste der 'Gottbegnadeten'. Künstler des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik" im Deutschen Historischen Museum, die ihr jene regimetreuen NS-Künstler zeigt, die ihre Karrieren in der BRD fast unbehelligt fortsetzen konnten: "Die meisten bekamen an den Akademien in Düsseldorf und München nach kurzer Anstandspause ihre Professuren wieder. Bayern, Nordrhein-Westfalen und Berlin erwiesen sich als besonders tolerant gegenüber alten Bekannten. In Museen, Ausstellungen waren die 'Gottbegnadeten' zwar nicht mehr zu sehen, aber an Wettbewerben für öffentliche Plätze, Parks, Rathäuser, Schulen, Postämter durften sie weiter teilnehmen, ohne dass sich jemand daran störte. Häufig genug setzten gerade sie sich durch."

Wie viele Aufträge an jene Künstler in der BRD vergeben wurden, hat auch den Kurator Wolfgang Brauneis in der Vorbereitung der Ausstellung entsetzt, wie er im Monopol-Interview erklärt. Und selbst NS-Gedenkstätten durften sie ausgestalten: "Anfang der 1960er gestaltete Willy Meller eine Monumentalskulptur für das erste westdeutsche NS-Dokumentationszentrum, in Oberhausen. Die Entrüstung darüber blieb aus, erstaunlicherweise, denn Meller war einer der erfolgreichsten Bildhauer im Nationalsozialismus gewesen. Er wurde unter anderem mit der Bauplastik für NS-Ordensburgen oder dem KdF-Seebad Prora beauftragt. Dass dieser Künstler eine figürliche Plastik vor diesem Dokumentationszentrum errichten durfte, das war einer der Momente während der Recherche, in denen ich dachte, ich werde bekloppt." Für ein Entfernen jener Werke plädiert er allerdings nicht.

Bild: ATTAKWAD: Hype, 2021 ©Maija Toivanen/HAM/Helsinki Biennial 2021

Noch lange hallt die erste Helsinki-Biennale bei FAZ-Kritikerin Naomi Smolik nach, die sich unter dem Titel "The Same Sea" einfühlsam dem Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt nähert: "Die ukrainische Künstlergruppe ATTAKWAD (…) sammelte auf der Insel zweiunddreißig Baumpilze, die als Parasiten auf Bäumen leben, und fertigte von ihnen exakte Kopien aus Bronze, die sie dann an den Stamm eines Baumes wieder anbrachte. Allerdings in einer Form, die der Doppelhelix der DNA mit ihrer genetischen Information ähnelt. 'Hype' ist der Titel dieses Werkes, das auf die Frage nach der genetischen Veränderung von Pflanzen anspielt."

Weitere Artikel: In der taz porträtiert Fabian Lehmann die kamerunische Kuratorin Princess Marilyn Douala Manga Bell, die mit ihrem Mann das Kunstzentrum doual'art in Douala gründete und für ihren Einsatz für Gegenwartskunst in Kamerun nun mit der Goethe-Medaille des Goethe-Instituts geehrt wird. Felix Lill porträtiert in der FR die japanische Fotokünstlerin Mari Katayama, der an einer Hand drei Finger fehlen und deren Beine früh amputiert wurden und die mit ihren Fotos gängige Schönheitsideale dekonstruieren möchte (Peter Truschner feierte sie letztes Jahr in seinem Fotolot im Perlentaucher). In der SZ freut sich Dorothea Baumer über die Eröffnung des neuen Bernsteinmuseums in Danzig. Besprochen wird die Ausstellung "Moderne Zeiten. Industrie im Blick von Malerei und Fotografie" im Hamburger Bucerius Kunstforum (Tsp).
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Bühne

Szene aus "Der Friedensengel". Foto: ppp-musiktheater


In der nmz zieht Roland H. Dippel den Hut vor dem pianopianissimo-musiktheater und den Siegfried-Wagner-Festspielen in Bayreuth, die Siegfried Wagners "Der Friedensengel" auf die Bühne brachten: "Mit 'Friedensengel' ist nicht nur eine Grabfigur oder ein Geistwesen, sondern der erlösende Selbstmord-Dolch gemeint. In diesem knapp dreistündigen Dreiakter outet sich Siegfried als einfallsreicher Klangkonstrukteur neben Franz Schreker und vergleichbar erotisch durchsetzter Dramaturgie. Die im 16. Jahrhundert in Franken angesetzte Handlung atmet einen Sarkasmus, der hinter den wildesten Volksstücken von Herbert Achternbusch, Franz Xaver Kroetz und Martin Sperr kaum zurückbleibt. Wie in Siegfrieds Opus 3 'Der Kobold' oder im Opus 8 'Sonnenflammen' begraben Skurrilität, Derbheit, ja Obszönität den dekorativen Schwulst à la Hans Makart und Felix Dahn aus kreativem Vorsatz, nicht als poetische Ausrutscher. Zum Beispiel singt Reinhold ein Plädoyer für Polyamorie im Bauarbeiter-Jargon."

"Heute gab es eine Pressekonferenz hier in Kabul, bei der ein Sprecher der Taliban Leuten wie uns Ratschläge zum Überleben gab: Wir sollten möglichst schnell den Job wechseln", sagt im FAZ-Interview mit Elena Witzeck der an der Universität Kabul lehrende Theaterwissenschaftler Ahmad Samim Farahmand und erinnert sich an die letzte Herrschaft der Taliban: "Es gab Professoren und Direktoren, denen es gelang, die Stammeskrieger zu besänftigen. Sie sagten: 'Kommt und diskutiert mit uns.' Ich erinnere mich an eine Aufführung, in der es um einen dummen Prediger ging. Die Taliban saßen im Publikum und schlugen sich lachend auf die Schenkel. Jahre später haben wir ein Stück inszeniert, das von einem Selbstmordattentäter handelte. Wir wurden bedroht. Das Problem ist, dass die meisten von ihnen gar nicht wissen, was Kunst und Theater sind."

Weitere Artikel: Nachtkritiker Max Florian Kühlem hat bei Selen Kara und Emel Aydoğdu, beide deutsche Regisseurinnen mit türkischem Migrationshintergrund, nachgefragt, wie es denn inzwischen um Diversität an deutschen Theatern steht. Noch lange nicht gut, meint Kara: "Jedes Theater schreibt sich gerade 'Diversität' groß auf die Fahne, aber oft wird dieses Konzept gar nicht richtig verstanden."

Besprochen werden Pavel Haas' Oper "Šarlatán" Isny Opernfestival in München (nmz), die "Trilogie des Contes Immoraux" der französischen Performerin Phia Menard bei den Wiener Festwochen (Standard), Alexander Weises Eddy-Projekt, das die Romane von Édouard Louis für die Bühne adaptiert, in der Wabe Berlin (nachtkritik) und der erste Teil von Nuran David Calis' Reenactment des NSU-Prozesses beim Kunstfest Weimar (nachtkritik - den zweiten Teil streamt die nachtkritik heute ab 18 Uhr).
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Literatur

Besprochen werden Gedichte von Archilochos (NZZ), Stuart Turtons Krimi "Der Tod und das dunkle Meer" (FR), Ann-Christine Woehrls Fotoband "Witches in Exile" (SZ), Emran Feroz' Band "Der längste Krieg" (SZ), Carl Hegemanns "Dramaturgie des Daseins" (Zeit) und Maxim Billers Roman "Der falsche Gruß" (Zeit).
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Stichwörter: Biller, Maxim

Musik

In der Zeit schwärmt Malakoff Kowalski von der russisch-ossetischen Pianistin Zlata Chochieva, die für ihr Album (re)creations Klavierbearbeitungen zu Stücken aus 300 Jahren spielt: "Das größte Glück auf diesem Album ist das Cembalo-Adagio in g-Moll von Giovanni Battista Grazioli, von Ignaz Friedman für Klavier bearbeitet. Auf dem Cembalo, italienisch und ganz barockhaft, etwas eckig und kantig, kommt dieses Stück kaum zu seiner tatsächlichen Geltung: zu seiner lyrischen Stimme nämlich. Was Friedman dagegen mit seiner Transkription - beinahe in der Romantik wandelnd - und Chochieva mit ihrer Interpretation gelingt, ist, dieses Stück im Schubertschen Sinne singen zu lassen. Wenn es so etwas wie universelle Schönheit gibt, das vollendete Gleichgewicht aller inneren und äußeren Beschaffenheiten, dann wäre dies ein Beispiel hierfür."

"An allem ist zu zweifeln" heißt - mit Karl Marx - das neue Elektropop-Album der Hamburger Musiksippe "School of Zuversicht", aber kann man dazu tanzen, ruft Maurice Summen in der taz. "Die Hoffnung und Energie spendende Musik ist dabei gerade wegen aller Zweifel bestens geeignet, um den imaginären Dancefloor zwischen Waldbrand und Flutkatastrophe zu beschallen. ... Musikalisch bewegt sich die 'School of Zuversicht' häufig in Neunziger-Jahre-House-orientierten Popsong-Gefilden, wie etwa in dem Smasher 'Swimmingpool der Empathie', der sich mühelos zwischen die Evergreens von Zugpferden wie Whirlpool Productions und Andreas Dorau einordnen lässt. In diesem Track geht es um den traurigen, narzisstisch-gestörten weißen Mann. DJ Patex besingt die Schönheit seiner Wunden, die er auf den Bühnen dieser Welt seit mehreren Generationen ungerührt zur Schau stellt, um dabei Trost durch Applaus zu finden. 'Im Swimmingpool der Empathie / Ertrinkt man nie', heißt es im Refrain zur funky Basslinie."

Da schauen wir doch mal rein:



Weiteres: In der nmz berichtet Arndt Voß vom Schleswig-Holstein-Musikfestival. Zum Tod des Rolling-Stones-Schlagzeugers Charlie Watts schreiben Ueli Bernays in der NZZ, Ulrich Berls auf Zeit online, Julian Weber (hier) und Jenni Zylka (hier) in der taz.
Archiv: Musik