Efeu - Die Kulturrundschau

Realität à la carte

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23.07.2021. Frankreichs Militär malt sich mit einer Gruppe von Science-Fiction-Autoren die Untergangsszenarien der Zukunft aus, weiß die Welt. SZ und FAZ loten mit den Karikaturen von Greser & Lenz in Frankfurt ihre Humortoleranz aus. Alte weiße Männer wurden in der Literatur zwar oft kanonsiert, aber auch oft vergessen, tröstet Tell. Hyperallergic erkennt in der Londoner Tate Modern den Kolonialismus im Werk von Rodin. Die FAZ steht in Tokio in Kengo Kumas Olympiastadion zufrieden im warmen Sprühnebel. Und der Tagesspiegel springt mit Alexander Kluges weiblichem Orpheus schreiend im Feuerkreis herum.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.07.2021 finden Sie hier

Literatur

Es klingt wie der Stoff für einen CIA-Thriller aus den Siebzigern: Frankreichs Militär hat eine Gruppe von Science-Fiction-Autoren zu einem "Red Team" zusammengeschweißt, das sich gemeinsam mit Designern, Künstlern und Wissenschaftlern Gedanken darüber machen soll, welchen Angriffs- und Bedrohungslagen das Land in Zukunft ausgesetzt sein könnte, berichtet Martina Meister in der Welt. Dabei gehe es "nicht nur um Ausrüstung oder Waffen, sondern vor allem um unvorstellbare, geopolitische, gesellschaftliche und ökologische Konstellationen." Eines der nun vom Militär freigegeben Szenarien nennt sich "mort culturelle" und handelt von einer Flutkatastrophe im Jahr 2045 in Kombination mit einem biologischem Angriff unter Bedingungen gesellschaftlicher Abschottung: "Die Menschen leben in Wirklichkeitsblasen, Safe Spheres genannt. Das muss man sich vorstellen wie Realität à la carte." Nun steht das Militär vor der Herausforderung, "200.000 womöglich infizierte Franzosen aus dem Katastrophengebiet zu evakuieren, die keine Information für verlässlich halten und alle etwas anderes glauben. ... Über Jahre wird die Armee damit beschäftigt sein, die sicheren Blasen zu 'desaktivieren', die 'Balkanisierung der Wirklichkeit' zu bekämpfen."

Jürgen Kiel denkt auf Tell über die Frage des literarischen Kanons nach, den es zwar immer weniger geben soll, der aber dennoch heiß umkämpft ist. "Man mag zu Recht einwenden, dass die traditionellen westlichen Bildungskanons einseitig, nämlich männlich und weiß geprägt waren. Dies verwundert nicht, da auch die Kultur des Westens männlich und weiß dominiert war. Letzteres ändert sich bekanntlich rapide, und die Auswirkungen auf die Vorstellung vom literarisch Wichtigen werden sich zeigen. Ein Trost hinsichtlich der Vergangenheit mag sein, dass die Dominanz weißer, männlicher Autoren naturgemäß bewirkte, dass auch zu den Aussortierten viele weiße, männliche Autoren gehören, darunter manche, von denen man zu ihren Lebzeiten nicht erwartet hätte, dass sie aus dem Kanon entfernt werden würden."

Außerdem: Nach Protesten des Schriftstellers Lutz Seiler (unser Resümee) und einer Mahnung durch PEN Deutschland (siehe FAZ) wird das Land Berlin das Grab des Dichters Oskar Loerke wohl doch für weitere zwanzig Jahre als Ehrengrab pflegen, meldet Cornelia Geißler in der Berliner Zeitung. Iris Radisch bündelt in der Zeit die literarischen Debatten der letzten zwei Wochen rund um Moritz Baßler, Denis Scheck und Matthias Politycki. In den Actionszenen der Weltliteratur erinnert Detlev Schöttker an das demonstrative Nicht-Verhältnis, das Hannah Arendt zu Paul Celan unterhielt.

Besprochen werden unter anderem Heinz Strunks "Es ist immer so schön mit dir" (Freitag), Garry Dishers Krimi "Barrier Highway" (FR), Jörg-Uwe Albigs "Das Stockholm-Syndrom und der sadomasochistische Geist des Kapitalismus" (taz) und John Clares Lyrikband "A Language That Is Ever Green" (SZ).
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Kunst

Bestens amüsiert kommt Alex Rühle in der SZ aus der den beiden FAZ-Karikaturisten Achim Greser und Herbert Lenz gewidmeten Ausstellung "Ein Vierteljahrhundert Witze für Deutschland" im Frankfurter Caricatura Museum, die ihm noch einmal vor Augen führt, wie genial die beiden "Kleinbürgerwelt und politische Großwetterlage" verbinden: "Ihrem Personal sind sie stets mit weichem Herzen zugetan, die Menschen haben Haare statt Frisuren, Mode kennen sie höchstens aus dem Wort Modelleisenbahn, und es ist ein großes Glück, dass man auf den Zeichnungen nicht an den ausgelatschten Hausschuhen riechen kann. Ein Fitnessstudio dürften die wenigsten von ihnen je von innen gesehen haben, sie schleppen ihren Körper eher wie eine Alditüte durch den provinziellen Alltag."

Und in der FAZ schreibt Andreas Platthaus: "Greser & Lenz loten die Grenzen der Leser dieser Zeitung in Sachen Humortoleranz und Witzanarchie stets aufs Neue aus, und manch einer mag sich ein Ende der Freizügigkeit für diese freien Mitarbeiter wünschen. (...) Es gibt eine ganze Wand mit Islamismus-Witzen und noch viel mehr Blätter mit Spott über AfD, SPD, katholische Kirche und Neonazis. Man könnte den nonchalanten Umgang von Greser & Lenz mit allem, was Menschen heilig ist, Abkanzel Culture nennen."

Auguste Rodin Study for The Thinker 1881 Musée Rodin

Im Jahr 1900 organisierte Auguste Rodin selbst eine Retrospektive zu seinem Werk, in der er vor allem seine Gipsarbeiten zeigte, die lange nur als Vorarbeiten zu seinen Bronzen galten. Die Londoner Tate Modern hat sich in "The Making of Rodin" von jener Ausstellung inspirieren lassen, interessant findet Anna Souter auf Hyperallergic aber vor allem die hier erkundeten Verbindungen Rodins zum Kolonialismus: "In den späten 1800er Jahren boomte der Antiquitätenhandel in Frankreich als Folge der Expansion des französischen Reiches, wobei viele Objekte aus geplünderten oder ausgebeuteten Stätten stammten. Rodin sammelte rund 6.000 antike Gegenstände und ergänzte manchmal antike Schalen und Vasen mit eigenen Figuren. Mehrere dieser außergewöhnlichen Hybridkunstwerke sind in der Ausstellung zu sehen, aber die Kuratoren bemühen sich, darauf hinzuweisen, wie Rodins Prozess die Kulturgeschichte jedes Objekts effektiv auslöschte und dabei im Wesentlichen zerstörte."

Außerdem: In der taz erinnert Katrin Bettina Müller an die heute vor dreihundert Jahren geborene Rokoko-Malerin Anna Dorothea Therbusch, der lediglich die Künstlerinneninitiative Fair Share eine Feier im Berliner Kolonnadenhof ausrichtet. In der FR gratuliert Arno Widmann der Malerin, die den nackten Diderot sehen und malen durfte. Für die taz erkundet Bettina Maria Brosowsky den Braunschweiger Kunstverein. Uwe Rada besucht verschiedene Ausstellungen, die sich dem 100. Geburtstag des Malers Kurt Mühlenhaupt widmen, darunter die Schau "Die Erfindung Kreuzbergs" im Kunsthaus Bethanien. Der Tagesspiegel empfiehlt verschiedene Berliner Sommerausstellungen. Brancusis Skulptur "Le baiser" wird auf dem Pariser Friedhof Montparnasse bleiben, meldet Jürg Altwegg in der FAZ: Der Pariser Kunsthändler Guillaume Duhamel hatte im Namen der in Russland lebenden Erben eine Ausfuhrbewilligung beantragt, das französische Verfassungsgericht entschied nun, "dass es sich um ein 'unteilbares Grabmal' handele und der Staat berechtigt sei, es in sein Inventar der nationalen Kulturgüter aufzunehmen." Im NZZ-Gespräch mit Philipp Meier begrüßt der Zürcher Kunstanwalt Florian Schmidt-Gabain die Entscheidung für Ann Demester als neue Direktorin des Zürcher Kunsthauses.
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Architektur

Ob der Umgang mit Zaha Hadid, deren Entwurf für das Tokioter Olympiastadion 2012 gewonnen hatte und dann ausgebootet wurde, fair war, möchte Ulf Meyer in der FAZ lieber nicht beurteilen. Mit dem umgesetzten Entwurf von Kengo Kuma ist er dennoch glücklich: "Kumas Stadion ist all das, was Hadids Entwurf gerade nicht sein wollte: konventionell oval, einfach baubar und warm in seiner Wirkung. Das Stabwerk der Dachträger besteht aus Holz, und die geschuppte Fassade erinnert an die Kontur der Goju-no-to-Pagode in Nara. Das weiße Teflon-Dach ruht auf einem Hybrid-Tragwerk aus Stahl und Holz-Fachwerkträgern. Etwa 2000 Kubikmeter Lärchen- (für die sichtbaren Elemente) und Zedernholz-Laminate (für die unsichtbaren) aus Japan wurden im Olympiastadion verbaut. Angesichts der strengen örtlichen Auflagen für Brandschutz und Erdbebensicherheit kommt das einer bautechnischen Revolution gleich."

Außerdem: Schon an diesem Wochenende soll die Entscheidung fallen, welche der fünf von Deutschland zur Auswahl gestellten Stätten zum Weltkulturerbe ernannt werden könnten. Auf zwei Seiten reisen FAZ-Redakteure zum "Nassen Limes", zu den jüdischen Stätten in Worms, Speyer und Mainz, in die Bäderstädte Bad Ems, Bad Kissingen und Baden-Baden und zur Mathildenhöhe nach Darmstadt, um die Chance der Kandidaten auszuloten. In der NZZ gratuliert Ulf Meyer dem japanischen Architekten Arata Isozaki zum Neunzigsten.
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Film

Alle Toten sollen zurück: "Orphea" von Alexander Kluge und Khavn de la Cruz (Rapid Eye Movies)

Staunend steht Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche vor "Orphea", der zweiten Zusammenarbeit des deutschen Autorenfilmers Alexander Kluge und des philippinischen Guerilla-Filmkünstlers Khavn de la Cruz. Im letzten Herbst wurde der Film im Kino vom Lockdown gefressen (unsere damalige Kritik), jetzt startet der Verleih den zweiten Versuch. Mitten im Geschehen: Lilith Stangenberg als weiblicher Orpheus und als solcher geht sie an Grenzen. "Sie springt und schreit gitarreschwingend in einem Feuerkreis herum, rezitiert Ovids Metamorphosen (manchmal mit der Stimme des Regisseurs Alexander Kluge) und kriecht durch einen Lüftungsschacht in die Unterwelt." Sie "will alle Toten auf die Erde zurückholen, da spricht die wahre Revolutionärin. Es geht Kluge und Khavn um nicht weniger als die Unsterblichkeit - des Menschen und der Kunst. Inspiration findet Orphea bei den russischen Biokosmisten, den Afterlife-Experimenten im Silicon Valley, in der Theologie. Und natürlich der Musik."

Der freudig irrlichternde Film ist "weder Dekonstruktion noch ein stream of consciousness, wenngleich er sich beider Methoden bedient", schreibt Zviad Gamsachurdia auf critic.de. "Es geht ihm auch nicht um eine Reflexion der filmästhetischen Mittel - es gilt ernst zu nehmen, dass der Film bewusst mythisch, nicht wissenschaftlich ist. Das Programm der Wiederbelebung löst die eigene Programmatik in ein kreatives Chaos auf, indem es emphatisch bejaht, was schon immer durch das Wesen des Experimentalfilms geisterte: den Dilettantismus. Damit versperrt sich der Film jeder Vereinnahmung durch eine Form und bleibt freies, aber auch gespenstisches Spiel."

Weitere Artikel: Andreas Busche porträtiert im Tagesspiegel die Berliner Filmemacherin Henrika Kull, deren Film "Glück" selbiges in einem Bordell sucht. Für Artechock liefert Rüdiger Suchsland weiter Berichte von seinen Cannes-Beobachtungen.

Besprochen werden Jon M. Chus' Kinoadaption von Lin-Manuel Mirandas und Quiara Alegria Hudes' Musical "In the Heights" (Standard, SZ), Thomas Vinterbergs "Der Rausch" (FAZ, Zeit, Welt, mehr dazu hier), François Ozons "Sommer 85" (Standard), David Clay Diaz' "Me, We" (Presse), Peter Thorwarths auf Netflix gezeigter Horrorthriller "Blood Red Sky" (Presse) und Marc Bauders Essayfilm "Wer wir waren" (NZZ).
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Bühne

Szene aus "Nerone". © Bregenzer Festspiele/Karl Forster

Fast ein Leben lang arbeitete sich Arrigo Boito an seiner musikalischen Tragödie "Nerone" ab - und dennoch sind die KritikerInnen nur mäßig begeistert, wenn Olivier Tambosi die selten gespielte Oper nun zum Auftakt der Bregenzer Festspiele wieder auf die Bühne bringt. Dem FAZ-Kritiker Werner Müller Grimmel fehlt nicht nur Verdis "Schlagkraft", auch Tambosis Inszenierung scheint ihm "unersprießlich": Sie "zieht Parallelen zwischen den dekadenten Umbruchzeiten im nachaugusteischen Rom und in Europa vor dem Ersten Weltkrieg. ... Spiegelwände und Rotlichtflächen erzeugen ein verwirrendes Spiel permanenter Täuschungen. Schauen wir hier in den Kopf eines größenwahnsinnigen Narzissten, der Erotisierung von Folter, Sadismus und Tod als ästhetische Genuss und wertfreie Lust feiert? Tambosi will eine 'Gesamtansicht des Menschseins' entfalten. Spätestens nach den Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts weckt solcher Flirt mit einem relativierenden 'Jenseits von Gut und Böse' Unbehagen."

"Bemüht" nennt Daniel Ender im Standard die Inszenierung und in der FR ergänzt Marcus Thiel: "Irgendwann kreist die Aufführung wie die fleißig bediente Drehbühne mit ihren Psychoräumen um sich selbst". "Fatal" findet es Michael Stallknecht in der NZZ, dass Tambosi "handwerklich kaum in der Lage scheint, bildhaft griffige Szenen herzustellen, so dass wer vorab das Libretto nicht gelesen hätte, hier schlicht überhaupt nichts verstünde." In der Welt lobt Manuel Brug allerdings das Dirigat von Dirk Kaftan: "Dirk Kaftan am Pult der willigen Wiener Symphoniker holt alle Facetten aus dieser mal brütenden, mal explodierenden Partitur heraus, der Prager Philharmonische Chor barmt als Christen und wütet als Römer."

Besprochen werden außerdem Ferdinand Schmalz' Roman "Mein Lieblingstier heißt Winter" (nachtkritik), Guilhermes Botelhos Performances "Sideways Rain" und "Normal" beim Wiener Impulstanz Festival (Standard).
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Musik

Ole Schulz wirft für die taz einen Blick in die brasilianische Pop- und Rockmusik, deren Underground sich als wahrer Schmelztiegel erweist und zudem noch immer wieder spannende Wiederveröffentlichungen hervorbringt. Nahezu überall finden sich hier "neben reichen Musiktraditionen lebendige Subkulturen. Ein Trend geht zweifellos dahin, die Grenzen der Genres zu verwischen. Nehmen wir zum Beispiel Omulus und Bnegãos 'Salve 2 (Ribuliço Riddim)'. Die beiden Musiker aus Rio de Janeiro verbinden konventionellen, mit Akkordeon und Triangel gespielten Forró aus dem Nordosten mit HipHop und dem neuen elektronischen Stil Pisadinha, eine Mischung aus Technobrega und Elektro-Forró. ... Wichtigster Trend im Underground ist momentan die Adaption und (in der Tradition des kulturellen Kannibalismus stehende) fröhliche Einverleibung und Verwandlung von britischem Grime- und Drillsound durch afrobrasilianische Künstler, darunter zunehmend Frauen. Es sind eher düstere Genres, deren Beliebtheit im Land von Bossa Nova und Samba überraschen mag."

Weitere Artikel: In der SZ berichtet Reinhard J. Brembeck von der Konzertwoche der Salzburger Festspiele, die dem Totengedenken gewidmet ist. Max Dax (FR), Ueli Bernays (NZZ), Magnus Klaue (Jungle World) und Christiane Lutz (SZ) erinnern an Amy Winehouse, die heute vor zehn Jahren gestorben ist.

Besprochen werden Rắn Cạp Đuôis Album "Ngủ Ngày Ngay Ngày Tận Thế" (The Quietus), DJ Mannys "Signals in My Head" (Pitchfork), das Comeback-Album des österreichischen Rappers Raf Camora (Standard) und das Album "Dark Lux" des Berliner Experimental-Ensembles LUX:NM, bei dem laut tazlerin Sophie Beha "Hohngelächter, bedrohliche Klangcollagen, düstere Farben und Schauder" geboten werden. Wir hören rein:

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