Efeu - Die Kulturrundschau

Neues schillerndes Spielmaterial

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13.07.2021. Der Standard bewundert vor der Wiener Villa Beer Josef Franks moderate Moderne, der jede "teutonische Präzision" abgeht. Die NZZ erinnert an den Gestalter Mart Stam, der die Produktkultur der DDR mit hochwertigen Gebrauchsgütern formen wollte. ZeitOnline genießt mit Cedric Burnside den rohesten Blues, den Mississippi zu bieten hat. Die FAZ schmilzt unter  Rachael Wilsons seidenmattem Mezzosopran. Und in Cannes liegt die Kinokritik Wes Anderson zu Füßen, der mit "The French Dispatch" einen völlig weltfremden und überflüssigen Film gedreht hat.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.07.2021 finden Sie hier

Design

Freischwinger Modell S 43, Entwurf von Mart Stam von 1926/27, hier in der DDR-Ausführung der 60er. (Bild: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Sammlung industrielle Gestaltung/Johannes Kramer)

Bettina Maria Brosowsky führt in der NZZ durch Leben und Wirken des niederländischen Produktgestalters Mart Stam, der den Freischwinger-Stuhl mit auf den Weg brachte. Im Berliner Museum der Dinge ist derzeit eine ihm gewidmete Ausstellung zu sehen, die mit vollen Händen aus seinem Archivfundus schöpft. In der jungen DDR schuf er das Institut für industrielle Gestaltung: "Es sollte mustergültige Entwürfe erarbeiten und durch Belegexemplare dokumentieren sowie als Zertifizierungsstelle die gesamte Gebrauchsgüterindustrie kontrollieren. Die Bedingungen in Berlin, der jungen Hauptstadt der DDR, schienen günstig, Stams Utopie zum Greifen nah: eine Produktkultur qualitativ hochwertiger Gebrauchsgüter für den elementaren Lebensalltag - der 'Volksbedarf' im Geiste Hannes Meyers - als kollektiver Ausdrucksträger einer sozialistischen Gesellschaft." Doch "arbeitete die ideologische Indoktrination der Staatspartei SED gegen Mart Stam: Im Zuge der 'Formalismusdebatte' zu Beginn der 1950er Jahre wird er des rückwärtsgewandten Beharrens auf der ornamentlosen Form sowie des 'Kosmopolitismus' geziehen und seiner Posten enthoben."

Außerdem: Für das von Olivier Saillard produzierte Modeperformanceprojekt "Embodying Pasolini" hat sich Tilda Swinton in Danilo Donatis für Pasolini entstandene Filmkostüme geworfen, berichtet Dominique Sisley in Another Mag. Zahlreiche Eindrücke gibt es aktuell hier auf Instagram:

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Archiv: Design

Film

Symmetrisches Bild, dieses typische Gelb zwischen Senf und Zitrone, mittendrin Bill Murray: Wes Anderson ist wieder da.

Für Cannes hat Wes Anderson die Premiere seines neuen Films "The French Dispatch" extra um ein ganzes Jahr verschoben und SZ-Kritiker Tobias Kniebe sieht auch auf den ersten Blick, warum: Der bis in den letzten Winkel mit Stars besetzte "Film ist eine satirische, aber durchweg liebevolle Hommage an alles Französische, gesehen durch amerikanische Augen". Bill Murray spielt einen brummigen US-Chefredakteur, der die Produktion seines Provinzblatts von Kansas kurzerhand nach Frankreich verlegt und dort eine publizistische Perle daraus macht. "Die Liebe zu Texten und der Arbeit daran durchzieht den ganzen Film. Passagenweise werden die Reportagen im Voice-over auch vorgelesen, so schnell allerdings, dass man ihre Feinheiten kaum ganz goutieren kann. Bald möchte man deshalb den ganzen Film ablegen wie eine geliebte Magazinausgabe, die man wieder und wieder hervorholen und darin schmökern kann."

Diesen Film "als geistreich zu bezeichnen wäre eine Untertreibung", schwärmt Andreas Kilb in der FAZ: "Jede Szene ist ein visuelles Aperçu, jede Wendung des Plots eröffnet neues schillerndes Spielmaterial." Sicher, "man kann dieses Kino der Hommagen und Reminiszenzen, dessen Design der Regisseur bei den Illustratoren der Zeitschrift New Yorker entliehen hat, für überflüssig und weltfremd halten, und tatsächlich balanciert 'French Dispatch' wie schon 'Grand Budapest Hotel', mit dem Anderson vor sieben Jahren den Jurypreis in Berlin gewann, immer an der Grenze zum Kunstgewerbe. Aber auch eine Spieluhr zeigt manchmal die richtige Zeit an."

Im Tagesspiegel zieht Andreas Busche Bilanz zur Festival-Halbzeit: "Der Drang zum Erzählen erweist sich" bislang "als großes Manko. ... Im Wettbewerb herrscht großer Redebedarf: in Voiceovern, in Flashbacks, am Sterbebett - oder auf alten Kassetten." Nur wirklich neue Ideen findet Busche derzeit noch nirgends. "Für solche cinephilen Spitzfindigkeiten ist Cannes dieses Jahr aber vielleicht der falsche Ort. Im Moment überwiegt an der Croisette die Erleichterung, dass das Kino die vergangenen 15 Monate einigermaßen überstanden hat."

Weitere Artikel: Thomas Abeltshauser spricht im Freitag mit François Ozon über dessen neuen Film "Sommer 85". Besprochen werden der neue Teil der Autofahrer-Actionreihe "Fast & Furious" mit Vin Diesel (Standard) und die Sky-Serie "The White Lotus" (FAZ).
Archiv: Film

Architektur

Edles Ensemble, das Unordnung erlaubt: Die Villa Beer. Foto: Wolfgang Thaler

Die von Josef Frank entworfene Villa Beer in Wiens noblem Stadtteil Hietzing soll wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Im Standard würdigt Maik Novotny den österreichischen Architekten als Meister der gemäßigten Moderne: "Jener ist im Pantheon des 20. Jahrhunderts noch immer eine unterschätzte Figur. Er war beteiligt an der Weißenhofsiedlung in Stuttgart und der Werkbundsiedlung in Wien, doch er distanzierte sich schon damals deutlich von den Funktionalisten, für die Gemütlichkeit der Gottseibeiuns war. Er dachte nicht in industriellen Normen, er dachte das Wohnhaus vom Wohnen her. War bei Mies van der Rohe alles teutonisch präzise, forderte Frank eine gewisse Unordnung geradezu heraus und ließ seinen Bauherren mehr Freiheit als sein Landsmann Adolf Loos, dessen Villen bis ins kleinste Detail durchmöbliert sind. Franks Häuser wollen benutzt und bewohnt werden, ohne dass man dazu eine Gebrauchsanweisung benötigt oder ein falscher Sessel das edle Ensemble zerstört."
Archiv: Architektur

Bühne

Rachael Wilson und Arturo Chacón-Cruz in Massenets "Werther". Foto: Philip Frowein / Oper Stuttgart

Den Namen Rachael Wilson wird man sich merken müssen, ruft Jan Brachmann in der FAZ völlig hingerissen von dem Mezzosopran dieser Sängerin, die an der Stuttgarter Oper in Jules Massenets "Werther" brillierte: "Rachael Wilson macht sich die Rolle der Charlotte ganz zu eigen - und zwar gegen den traditionell herrschenden Typus eines vollen, auch barmenden Mezzosoprans. Ihre Stimme hat nicht die sinnlich blühende Üppigkeit einer Brigitte Fassbaender oder einer Elina Garanča. Wenn Wilson singt, denkt man überhaupt kaum an einen Mezzosopran; eher erinnert sie an die Jugendzeit der Sopranistin Elly Ameling, die im französischen Repertoire eine exzellenzfundierte Hoheit ausstrahlte. Seidenmatten Glanz hat Wilsons helles Timbre. Auch bei den Nasalen schwingt die ganze Maske im Kopf beneidenswert mit." In der SZ lobt Egbert Tholl Felix Rothenhäuslers Inszenierung.

Hier singt Wilson "Transit aetas" aus Vivaldis "Juditha Triumphans":



Besprochen werden weiter Aufführungen der Tiroler Festspiele Erl (FR), Gerd Kührs Oper "Paradiese" nach einem Libretto von Hans-Ulrich Treichel in Leipzig (Welt), Roland Schimmelpfennigs Schnitzler-Überschreibung "Siebzehn Skizzen aus der Dunkelheit" in Stuttgart (FAZ).
Archiv: Bühne

Kunst

Guardian-Kritiker Adrian Searle ist durch die edlen Gärten von Blenheim Palace spaziert, um dort eine "wunderbar alberne" Performance von Tino Sehgal zu erleben. Marc Zitzmann porträtiert in der FAZ Laurent Le Bon, den neuen Direktor des Centre Pompidiou. Besprochen werden die große Isa-Genzken-Schau im Düsseldorfer K21 (Tsp) und die Ausstellung des belgischen Malers Walter Swennen im Bonner Kunstmuseum (FAZ).
Archiv: Kunst
Stichwörter: K21, Genzken, Isa

Literatur

Willi Winkler freut sich in der SZ, dass der deutsche Penguin-Ableger das modernistisch-minimalistische Coverkonzept des englischen Originals nun auch für eine deutsche Edition übernimmt. In der Dante-Reihe der FAZ wirft Christiane Liermann Traniello einen Blick darauf, wie Dante im Laufe der Jahrhunderte vereinnahmt wurde.

Besprochen werden unter anderem Audur Ava Olafsdottirs "Miss Island" (NZZ), Oswald Eggers "Entweder ich habe die Fahrt am Mississippi nur geträumt, oder ich träume jetzt" (Standard), Sarah Halls "Die Töchter des Nordens" (FR), eine Neuübersetzung von Louis-Ferdinand Célines "Tod auf Raten" (NZZ), Jovana Reisingers "Spitzenreiterinnen" (ZeitOnline), Ágnes Hellers "Vom Ende der Geschichte" (SZ) und Schuldts "Leben und Sterben in China" mit 111 Fabeln nach 111 chinesischen Schriftzeichen (FAZ).
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Musik

Jonathan Fischer porträtiert für ZeitOnline den Bluesmusiker Cedric Burnside, den Enkel von Großmeister R.L. Burnside. Aktuell spielt Burnside "das Roheste, was Mississippi zu bieten hat", aufgenommen wurde zudem im Royal Recording Studios in Memphis, wo schon einige Legenden vor dem Mikro standen. "Die Energie zwischen den Beteiligten ist beim Hören des Albums geradezu körperlich spürbar, das Video zur Single Step In zeigt dann auch Cedric und Boo frenetisch kopfnickend im Kontrollraum, vom unwiderstehlichen Gitarrenriff wie unter Hypnose gesetzt. Tatsächlich gibt Burnsides spartanischer, roher Sound in der mit groben Sackleinen verhängten und seit fünfzig Jahren nicht mehr renovierten Studiohöhle eine Art Heimspiel. Sonst schürfen hier vor allem lokale Rapper nach erdigen Sounds. Nicht zuletzt die Hip-Hop-Ästhetik war es, die den schweren, basslastigen Rhythmen des Hill Country Blues die Tür ins urbane Milieu geöffnet hat."



Die NZZ bringt weiter ihre Beilage zum Lucerne-Festival vom Wochenende online: Rebecca Saunders spricht über ihre Arbeit als "Composer-in-Residence" des Festivals. Paavo Järvi erklärt, warum seine Wahl für den Auftakt mit dem Tonhalle-Orchester beim Lucerne Festival auf Schumann gefallen ist. Julia Spinola erzählt die unterschiedlichen Lebensläufe von Daniel Barenboim und Kirill Petrenko. Iván Fischer und sein Budapest Festival Orchestra widmen sich auf dem Festival der Musik der Roma, berichtet Marco Frei. Martina Wohlthat wirft einen Blick auf Händels Oper "Partenope", die der Dirigent William Christie mit Musikern seines Nachwuchsprojekt "Le Jardin des Voix" spielen wird. Corinne Holtz denkt über das Festivalmotto "Verrückt" nach. Corina Kolbe weiß, warum Pierre Boulez zeit seines Lebens mit seiner "Polyphonie X" haderte.

Außerdem: Silke Egeler-Wittmann schreibt in der NMZ einen Nachruf auf Sigune von Osten. Besprochen werden das Comebackalbum der Kings of Convenience (online nachgereicht von der FAZ), das Debütalbum der Koloratursopranistin Hila Fahima (Tagesspiegel), ein Konzert der Wiener Symphoniker unter Marie Jacquot (Presse), ein Konzert des Jazztrios Jung, Schönecker und Neubauer (FR), Lucy Goochs Album "Rain's Break" (Jungle World, Pitchfork), neue Jazzveröffentlichungen mit in Europa entstandenen Aufnahmen von US-Jazzern (SZ) und das Album "Lucy & Aaron" mit experimenteller Musik von Lucrecia Dalt und Aaron Dilloway (taz). Wir hören rein:

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