Efeu - Die Kulturrundschau

Leben in der Kompaktform

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.07.2021. Die Zeitungen feiern 150 Jahre Marcel Proust, nur der NZZ bleibt die Madeleine im Halse stecken. Die FAZ bereitet Angela Merkel mit Andreas Mühe in Dresden schon mal auf die Rente vor. Der Guardian kämpft in Aberdeen mit Aalen um den Biss in einen Fettklumpen. Die Filmkritiker feiern in Cannes mit Lars von Trier und Paul Verhoeven die Macht des Kinos - und der Männer. Die taz hört radikalen Underground-Metal aus Tunesien. Und die SZ möchte sich bei Festival Theaterformen in Hannover beim Pinkeln nicht bevormunden lassen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.07.2021 finden Sie hier

Literatur

Heute vor 150 Jahren wurde Marcel Proust geboren - Hochamt fürs literarische Feuilleton. Der Literaturwissenschaftler Robert Pogue Harrison begibt sich für die NZZ auf die Suche nach der Zeit, die er beim Proust-Lesen verloren hat. Ein Proustianer ist er nämlich - trotz der "wahren Sinfonie der Worte", die die "Recherche" darstellt - ganz und gar nicht: "Prousts Prosa ist mir zu schwammig und honigsüss, wie die Madeleine, die er beschreibt; aber auch sein Grübeln über Zeit, Erinnerung und eine höhere Ordnung der Wirklichkeit, die sich in Momenten intensiver Empfindsamkeit abzeichnen soll, schlägt mich nicht in den Bann. ... Ob 'À la recherche du temps perdu' ein literarisches Meisterwerk ist, hängt davon ab, wie man den Begriff definiert. Wenn damit ein Roman gemeint ist, an dem nichts verändert oder abgezogen werden kann, ohne das Gesamtwerk zu beeinträchtigen, dann kommt der 'Recherche' dieser Rang nicht zu. Ich glaube, dass man das Buch durch eine Straffung um die Hälfte tatsächlich verbessern oder zumindest weniger ermüdend machen könnte."

Mit Prousts Figuren würde Harrison im übrigen auch nicht wirklich gerne eine Abend verbringen. Dabei liegt doch gerade in diesem Figurenarsenal der eigentliche Reiz, beteuert Jürgen Kaube in der FAZ: "Sie werden meistens ganz klar gezeichnet und bis in die Winkel ihrer Kleinlichkeit und Größe ausgeleuchtet. Und dann werden sie auf einmal ihr Gegenteil. Oder besser: Es wird deutlich, dass wir und oft auch der Erzähler etwas Entscheidendes an ihnen nicht bedacht haben. ... Überhaupt werden vor allem die Befürchtungen wahr, die man gar nicht hatte. Auch das führt zur Länge des Romans: Es gibt in ihm kaum Figuren, von denen feststeht, dass es Nebenfiguren bleiben werden." Eine Besichtung der "Recherche" leistet auch Tilman Krause in der Welt.

In der FR spricht Ina Hartwig über Prousts "Recherche", die sie bis heute für aktuell und als Feier der Schönheit der Belle Epoque missverstanden hält: Er "feiert aber rein gar nichts als schön, obwohl viel von schönen Dingen die Rede ist im Roman. Prousts Blick auf die Gesellschaft ist sezierend und analytisch. Er ist kein gutmütiger Autor." Nicht so sehr die Epoche an sich sondern deren Transformation ist Prousts großes Thema, schreibt Lothar Müller in der SZ: Sicher, "die 'Recherche' ist ein Roman über die Belle Époque. Ebenso gut könnte man von ihr sagen, sie sei zwischen zwei Kriege gespannt."

Weiteres zu Proust: Marleen Stoessel empfiehlt den Proust-Podcast des RBB. Sylvia Staude erinnert in der FR an eine offenbar legendäre Frankfurter Proustlesung aus den 90ern. Dlf Kultur widmet sich Proust mit einer Langen Nacht und einem Musikfeuilleton, beide von Sabine Fringes. Und, wenn es gestattet ist: Ganz viel Proust finden Sie natürlich in unserem Online-Buchladen Eichendorff21.

Themenwechsel: Schade findet es Dirk Knipphals in der taz, dass der WDR Christine Westermanns Buchtipps unter der Begründung, dass es für Bücher wenig Interesse gebe, aus dem Fernsehprogramm streicht: "Die Kohorten von Medienmanagern, die sich mit antielitären Schlagworten und Kampfansagen gegen vermeintliche Bildungsbürgerlichkeit ihre Sessel erstritten, sitzen jetzt in den Gremien. Wie es aussieht, werden sie erst Ruhe geben, wenn das letzte Fitzelchen Anspruch zumindest aus den Hauptprogrammen der Sender getilgt ist. ... Der Kampf gegen 'das Feuilleton' als Ort der Abgehobenheit und der bildungsbürgerlichen Selbstverliebtheit ist doch längst geschlagen. Wer Relevanz will, kommt um die Beschäftigung mit aktuellen Büchern nicht herum."

Weitere Artikel: In der Welt spricht Marc Reichwein mit Messechef Juergen Boos über dessen Pläne, die Frankfurter Buchmesse im Herbst wieder als physische Veranstaltung vor Ort stattfinden zu lassen. Im Literarischen Leben der FAZ widmet sich Friedrich Christian Delius Christian Wolff.

Besprochen werden unter anderem Björn Stephans Debütroman "Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau" (FAZ), Marcel Prousts "Der geheimnisvolle Briefschreiber" mit frühen Erzählungen (taz), Evie Wylds "Die Frauen" (Literarische Welt) und Björn Stephans "Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Bild: Ausstellungsansicht © SKD, Foto: Oliver Killig
FAZ-Kritiker Andreas Platthaus nimmt mit Andreas Mühe in der Ausstellung "Alles, was noch nicht gewesen ist, ist Zukunft, wenn es nicht gerade jetzt ist" im Dresdner Lipsiusbau schon einmal Abschied von Angela Merkel. Mühe inszenierte unter anderem seine Mutter als Merkel und fotografierte drei Tage lange im unbewohnten Bonner Kanzlerbungalow: Die Fotos "spielen mit dem Gedanken, was die Kanzlerin wohl nach dem Abschied von der Macht tun wird. Mühe inszeniert Merkels Doppelgängerin als Rentnerin in einem Gebäude, das selbst im Ruhestand ist, nachdem es ehedem Wohnung der Mächtigen war, und über den Witz dieser Idee hinaus entsteht auch das aus der Außen- und Innenarchitektur des Bungalows geborene Psychogramm einer verlorenen Republik."

Bild: Florence Peake, Crude Care (still), 2021 © the artist. Courtesy the artist. Photo: Anne Tetzlaff

Allerhand Exzentrik bekommt Jonathan Jones im Guardian in der British Art Show 9 in der Aberdeen Art Gallery geboten, in der zeitgenössische britische Künstler sich fantasievoll Forschungsfragen der Gegenwart widmen: "Kunst war schon immer das praktischste Mittel der Menschheit, um unsere komplexe Beziehung zur Natur auszudrücken. Joey Holder hat ihr Zimmer mit monströsen insektenartigen Kreaturen an den Wänden in Höhlenkunst des 21. Jahrhunderts verwandelt. Wir sind in einer unterirdischen gotischen Kammer. Über dem viktorianischen Kamin gleiten lebende Aale in einem Film übereinander und kämpfen um Bissen von einem schwimmenden Fettklumpen. Holder dramatisiert unsere Entfremdung von der Natur in einer kraftvollen Installation voller Lovecraft-Horror."

Weiteres: Nachdem bei der Staatsanwaltschaft Düsseldorf Strafanzeige wegen versuchter Untreue gestellt wurde, ist die Rückgabe von Franz Marcs Gemälde "Die Füchse" an die Erben des einstigen jüdischen Besitzers zunächst gestoppt, meldet Dorothea Hülsmeier in der Berliner Zeitung mit dpa. In der FAZ gratuliert Stefan Trinks dem Maler Herman de Vries zum Achtzigsten. Besprochen wird die Ausstellung "be welat - the unexpected storytellers" in der nGbK, in der kurdische KünstlerInnen von Traumata, unterdrückter Identität und Exil erzählen (taz), die Ausstellung "Theater des Überlebens. Martin Disler. Die späten Jahre" im Kirchner-Museum Davos (NZZ) und die Ausstellung "Martin Kippenberger: Metro-Net" im Leipziger Museum für Bildende Künste (SZ).
Archiv: Kunst

Film

Hauch mir in den Mund, Kleines: Joachim Triers "Worst Person in the World"

Andreas Busche wagt im Tagesspiegel nach vier Tagen Cannes ein erstes Zwischenfazit: "Der diesjährige Jahrgang ist ein Festival der wütenden Männer. ... Sie verzweifeln an den politischen Zuständen, aber vor allem an sich selbst. Selbstkritik ist bereits integriert: In Joachim Triers Wettbewerbsbeitrag 'The Worst Person in the World' erklärt ein älterer Mann einer jungen Frau im passiv-aggressiven Unterton den Begriff 'Mansplaining'. Das ist dann wiederum komisch." Standard-Kritiker Dominik Kamalzadeh sieht in diesem Film "Momentaufnahmen, die das Leben in der Kompaktform verstehen wollen. Das verleiht dem Film eine erfrischend literarische Anmutung. Scheinbar mühelos verbindet Trier Komik mit Tiefgang; die Endlichkeit schleicht sich durch die Erkrankung Aksels gleichsam durch den Seiteneingang in den Film und verleiht dann auch dem Ephemeren ein anderes Gewicht."

Mit Paul Verhoevens Nonnenfilm "Benedetta" fühlt sich FR-Kritiker Daniel Kothenschulte mitunter in den softpornösen Nunsploitationfilm der 70er zurückversetzt: "Warum sucht Cannes einen so vorhersehbaren Skandal, wenn man andererseits ein Problem mit der geringen Repräsentanz von Filmemacherinnen hat? Was man Verhoeven lassen muss: Er weiß genau, was er tut. Der Voyeurismus-Vorwurf kümmert ihn wenig, das Ziel seiner Provokation ist die latente Sexualisierung des Jesus-Kults und insbesondere die Ikonografie des Nonnenfilms. Und da macht er zweifellos einen Punkt: Hollywood liebte es, attraktive Schauspielerinnen wie etwa Audrey Hepburn zu Unschuldsikonen zu stilisieren. ... Hier ist wohl die Erklärung zu suchen, wie es dieses hemmungslose Stück Camp in den Wettbewerb geschafft hat: Es feiert die Macht des Kinos - am Beispiel eines Genres, das für schwelgerische Scheinheiligkeit berüchtigt ist." "Sex ist nicht das Thema dieses Films", ruft Andreas Kilb aus der FAZ all denjenigen zur Enttäuschung zu, die mit anderem schon gerechnet hatten. Verhoeven gehe es vielmehr um "das System, mit dem die katholische Kirche im Mittelalter und der frühen Neuzeit ihre Schäfchen zusammengehalten hat, der organisierte Wahnsinn aus Askese, Körperfeindlichkeit, Aberglauben und Angst."

In der Welt verneigt sich Hanns-Georg Rodek vor der Schauspielerin Léa Seydoux, die auf dem Festival gleich in mehreren Filmen zu sehen ist. Von weiteren aktuellen Filmen an der Croisette berichten Anke Leweke (ZeitOnline) und Tobias Kniebe (SZ).

Weitere Artikel: Im Standard spricht Dominik Kamalzadeh mit Radu Jude über dessen (in der Jungle World, in der Welt und bei uns besprochenen) Berlinalegewinner "Bad Luck Banging or Loony Porn". Paul Jandl ärgert sich in der NZZ erheblich darüber, dass es ihm die an der Medienrealität völlig vorbeizielenden Jugendschutzbestimmungen in Deutschland untersagen, sich Filme ab 16 auch tagsüber in einer Mediathek der Öffentlich-Rechtlichen anzusehen. Besprochen werden Chloé Zhaos "Nomadland" (Freitag, unsere Kritik hier), John Lee Hancocks Polizeifilm "The Little Things" mit Denzel Washington (SZ) und der Horrorfilm "The Nest" mit Jude Law und Carrie Coon (SZ).
Archiv: Film

Bühne

Festival Theaterformen. Lola Arias: "Ich bin nicht tot". Bild: Kerstin Schomburg

Beim Festival Theaterformen in Hannover hat SZ-Kritiker Till Briegleb nicht nur Probleme damit, dass in den Urinalen unter der Parole "Blumen für eine Welt ohne Gender" Pflanzen in Plastikübertöpfen steckten, um die Herren auf die Kloschüsseln zu zwingen, sondern auch mit dem Mix aus "großen Themen und sektiererischem Jargon", der das Programm prägt: "Eine beeindruckende Symbolhandlung wie die Übergabe des fantastischen Stadtraums der vierspurigen Raschplatzbrücke an die Fußgänger steht neben Bevormundungsmaßnahmen wie dem Urinalgarten (den am Ende irgendeine Putzkraft wieder sauber machen muss). Konkrete Gesprächseinladungen und Inszenierungen zu klimatischen Zusammenhängen von Konsum, Reisen, Essen und Achtlosigkeit stehen neben ausgrenzenden Insiderveranstaltungen über 'intersektionale Aspekte von Bündnisfähigkeit und Allianzenbildung', die mit dieser Art zu sprechen wohl beides nie erreichen werden."

Die von der argentinischen Regisseurin Lola Arias inszenierte Eröffnungspremiere "Ich bin nicht tot", in der sechs ältere Menschen in Boxen begleitet von zwei Pflegekräften über ihr Leben, Sex, Feminismus, Rassismus oder Selbstmord sprechen, findet Briegleb "berührend", Nachtkritiker Jan Fischer gerät die Inszenierung allerdings zu oberflächlich.

Besprochen wird Daniel Kunzes Inszenierung von Salman Rushdies Roman "Quichotte" am Staatstheater Wiesbaden (FR).
Archiv: Bühne

Architektur

Die ehemalige Stalinallee und das Hansaviertel bewerben sich beide um den Rang des Weltkulturerbes. Dankwart Guratzsch nimmt das in der Welt zu Anlass, um daran zu erinnern, wie durch die beiden gleichzeitig entstandenen Nachkriegsprojekte in Ost- und Westberlin ganz ähnlich die Wohnungsfrage gelöst werden sollte: "Es war eine Konkurrenz in Stein und Beton, wie ihn die Welt bis dahin nicht gesehen hatte. Aber mit der Eigentumsfrage hatte sie nichts zu tun. Hier wie dort wurde tatsächlich auf 'Boden für alle', also völlig frei von Eigentumsschranken, gebaut. Die Altbesitzer der in Grund und Boden gebombten Häuser wurden zum Verkauf gedrängt oder enteignet (im Westen) oder durch Verbote, auch nur einen Ziegelstein anzurühren, gleich um ihr Eigentum gebracht (im Osten). Damit war freie Bahn, wie schon zu Nazizeiten im Bereich der Großen Achse, geschaffen, um endlich all das realisieren zu können, was die Boden- und Gesellschaftsreformer seit 100 Jahren gefordert hatten."

Weiteres: Für die 10 nach 8 Serie der Zeit streift die Schriftstellerin Annett Gröschner zunächst durch durch Eisenhüttenstadt und dann durch die Ausstellung "Anfang ohne Ende" im Museum Utopie und Alltag, die sich der Transformation der sozialistischen Stadt widmet.
Archiv: Architektur

Musik

Bis auf Frust ist unter Tunesiens Underground-Musikern vom Aufbruch der Arabellion vor zehn Jahren wenig geblieben, berichtet Tobias Griesebach in der taz. Rege aktiv ist der Underground dennoch, insbesondere Metal (in den höher gestellten Schichten) und Hiphop (im städtisch verarmten Segment) sind angesagt, erfahren wir. Und: Bands, die auf orientalische Klangsignaturen verzichten, geben schon dadurch ein politisches Statement ab und ein Großteil zieht sich in die Anonymität zurück, denn "offene Kritik an polizeilicher Willkür, Korruption und politischem Missmanagement gilt als gefährlich. ... Anonymität in der Öffentlichkeit ist der entscheidende Marker für die Brisanz der Botschaft. Bands wie Znous, die unumwunden die Missstände in Tunesien anprangern, sehen sich dadurch zu einem indirekten Auftrittsverbot und einem künstlerischen Leben in Konspiration gezwungen. Sein Gesicht zu zeigen oder nicht, macht den Unterschied deutlich zwischen radikal und ungefährlich. Je anonymer ein Künstler oder eine Band, desto radikaler und kritischer ist die Botschaft." Das klingt dann im Falle von Znous so:



Selbst wenn es in derb misogynen Raptexten lediglich um Kunstfiguren gehe, liegt in der aktuellen Deutschrapmetoo-Debatte doch einiges Potenzial, findet Elena Witzeck in der FAZ: "Vielleicht finden sich auf diese Weise noch mehr neue Ideen für Kunstfiguren, die ihre Macht nicht mehr aus der Erniedrigung von Frauen schöpfen."

Weitere Artikel: Christian Wildhagen schreibt das Editorial der NZZ-Beilage zum Lucerne Festival. Darin porträtiert Corina Klobe die Pianistin Yuja Wang. Wolfgang Stähr lässt sich von Riccardo Chailly und Yannick Nézet-Séguin auf Unerhörtes bei Beethoven und Mozart aufmerksam machen. Außerdem spricht die NZZ mit dem Festival-Intendanten Michael Haefliger. Die Zeit hat Diedrich Diederichsens Essay über MeToo im Pop (unser Resümee) online nachgereicht. Besprochen werden das neue Album von Koreless (ZeitOnline) sowie Claire Huangcis und Grigory Sokolovs Auftritte beim Klavierfestival Ruhr (FAZ),
Archiv: Musik