Efeu - Die Kulturrundschau

Ästhetisches Kuschelszenario

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09.07.2021. Monopol denkt anlässlich der neuesten Kollektionen von Gucci und Balenciaga über den Unterschied von Kopie und Original nach. Die misogynen Fantasien einiger Deutschrapper folgen nur der kapitalistischen Logik, ist die SZ überzeugt. In der FAZ kritisiert Moritz Baßler die Wohlfühlliteratur der Gegenwart. Surrealismus ist der neue Realismus, meint Salman Rushdie im Interview mit Dlf Kultur mit Blick auf das brennende Meer im Golf von Mexiko. Der Standard blickt gerührt auf den frischen Humus des verstorbenen Künstlers Lois Weinberger.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.07.2021 finden Sie hier

Design

In einem langen interessanten Essay in Monopol zum Thema Fakes schreibt Alia Lübben über die neuen Kollektionen von Gucci und Balenciaga, deren Chefdesigner Alessandro Michele und Demna Gvasalia sich auf ein "Hacker-Projekt" (Bilder hier) geeinigt haben, bei dem jeder vom anderen klauen darf - was sich im wesentlichen offenbar auf das Klauen der Logos beschränkte: "Das Kapern der anderen Marke wird beim 'Hacker-Project' zur Inspirationsquelle: 'Das, was nicht erlaubt ist, triggert auch Kreativität auf eine Weise'", zitiert Lübben Gvasalia. "'Bei Luxusmode gibt es immer die Kopie, etwas, das so sein will, das aber sehr oft sehr hässlich und schlecht verarbeitet ist. Aber manchmal sehe ich auch billige Kopien von meinen Entwürfen oder von Alessandros, die wirklich interessant sind. Und ich denke mir: Es braucht Kreativität, um so etwas zu machen, auch wenn sie es nur machen, um nicht verklagt zu werden. Ironischerweise entsteht hier durch das Kopieren Kreativität.'" Lübben bemerkt aber auch, dass mit dieser Art von Hacks - auch wenn sie nicht abgesprochen sind - nur große Labels durchkommen. Die kleinen werden immer noch verklagt.

Hier die Schau von Balenciaga:



Außerdem: In der NZZ analysiert Tilman Allert die Tattoos der Fußballstars.
Archiv: Design

Musik

Wenn im Deutschrap wüste misogyne Fantasien in den Texten erst zelebriert und von dem einem oder anderen Protagonisten dann vielleicht sogar zumindest ansatzweise in der Wirklichkeit ausgelebt werden, dann ist das nicht das Problem von Deutschrap, sondern vor allem ein Ausdruck der Gesellschaft, meint Jakob Biazza in der SZ erkannt zu haben. Entsprechende Tracks handeln schließlich selten nur davon, Frauen zu erniedrigen, sondern erzählen Geschichten von der Sehnsucht nach Erfolg. "Underdog-Sagen. Schulabbrecher-Selfmade-Romantik. Und darin: absolute Kapitalismusjüngerschaft." Biazzas Frage: "Was also, wenn das eigentliche Thema hier gar nicht so sehr Gangsta-Rap wäre, sondern eher das männlich dominierte kapitalistische System? Selbst die misogynsten Rapper wären dann weniger das böse, dunkle Andere. Und vielmehr ein besonders extremer Teil einer Gesellschaft, in der Frauen keine Dax-Vorstände sind."

Nicholas Potter schlägt in der Jungle World die Hände über dem Kopf zusammen, weil den Veranstaltern einer queer-antizionistischen Berliner Partyreihe aufgefallen ist, dass die Betreiber des Clubs 'About Blank' viel zu weiß und israelsolidarisch sind. "Wie lässt sich erklären, dass Teile einer sich als emanzipatorisch und alternativ verstehenden Technoszene sich mit der palästinensischen Sache derart überidentifizieren?" Zwar tragen die entsprechenden Gruppen "selbstredend überhaupt nichts dazu bei, um den Menschen in Gaza zu helfen, aber viel dazu, die Berliner Feierblase zum Platzen zu bringen. Denn wer sich nicht eindeutig gegen Israel positioniert, wird als Feind, Unterdrücker oder schlicht 'Zionist' abgestempelt - als sei Letzteres etwas Negatives."

Außerdem: Andreas Hartmann trifft sich für den Tagesspiegel mit der Musikerin Mieke Miami. Ihr angesoulter Pop lädt zum Entspannen ein:



Besprochen werden Christoph Dallachs Interview-Collage "Future Sounds" über den Krautrock der Siebziger, die nach tazler Uwe Schüttes Ansicht mit Blick auf bereits zahlreiche Veröffentlichungen im englischsprachigen Ausland "etwas spät" erscheint, aber "für ein tiefgreifenderes Nachdenken" über diese Musik noch "genügend Ausgangsmaterial" biete, das neue Album von Tyler, the Creator (taz, SZ, mehr dazu bereits hier) und Dimitri de Perrots in Zürich gezeigte Klanginstallation "Niemandsland" (NZZ).
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Film

Das Streben nach Macht: Virginie Efira in "Benedetta"

Nonnen in der frühen Neuzeit, die unter Gottes befürwortendem Blick Sex haben: Paul Verhoeven zeigt in Cannes seinen neuen Film "Benedetta", das auf einem Buch von Judith Brown und dem Leben der Nonne Benedetta Carlini basiert. Der einstige Skandalregisseur ("Türkische Früchte", "Basic Instinct", "Showgirls") kehrt damit gewissermaßen zurück zu seinen Wurzeln. Ihn interessierte das Moment der Revolte an dem Stoff, erklärt er im Welt-Interview: "Für mich strebte Benedetta nach Macht, um so leichter eine Beziehung zu einer anderen Nonne führen zu können. Wenn sie beispielsweise Äbtissin wird, dann bekommt sie ein eigenes Zimmer, wo sie ungestört Sex haben kann. ... Im Film wird man sehen, dass Benedetta Visionen von Jesus hatte. Jesus gibt ihr Anweisungen, nach denen sie eine Liebesbeziehung zu einer anderen Nonne eingehen soll."

Mehr aus Cannes: Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche sah an der Croisette Neues von François Ozon und Joanna Hogg. Im Festivalblog der FAZ erzählt uns Andreas Kilb, was sich vor Ort nach der Coronalücke geändert hat und was beim Alten geblieben ist.

Weitere Artikel: Die Kinopolis-Gruppe, die in Deutschland einige Multiplexe betreibt, weigert sich, den neuen Marvel-Blockbuster "Black Widow" zu zeigen, weil der Disneykonzern den Film bereits in wenigen Tagen online stellen will, meldet David Steinitz in der SZ. Dietmar Dath gratuliert in der FAZ dem Schauspieler Chris Cooper zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Silvan und Ramon Zürchers "Das Mädchen und die Spinne" (Tagesspiegel, unsere Kritik hier), Kelly Reichardts "First Cow" (SZ), Radu Judes "Bad Luck Banging or Loony Porn" (SZ, unsere Kritik hier), Masayuki Kojimas auf BluRay veröffentlichter Anime "Made in Abyss" (FAZ), François Ozons "Sommer 85" (Tagesspiegel), die Netflix-Serie "Katla" (FR) und der auf Amazon gezeigte Action-Science-Fiction-Film "The Tomorrow War" mit Chris Pratt (SZ).
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Bühne

Im Tagesspiegel stellt Sandra Luzina das Progamm des Berliner Festivals Tanz im August vor. In der taz berichtet Jan-Paul Koopmann über das inklusive Bremer Theaterfestival "Mittenmang". Besprochen wird Thomas Jonigks Neufassung des Komödienklassikers "Pension Schöller" im Staatstheater Kassel (FR)
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Literatur

Joachim Scholl unterhält sich für Dlf Kultur ausführlich mit Salman Rushdie, dessen gesammelte Essays der letzten 17 Jahre gerade unter dem Titel "Sprachen der Wahrheit" erschienen sind. Für ihn ist das Beharren auf der Wahrheit drängender denn je, er glaubt, "dass die Welt einfach nicht mehr realistisch ist, dass sie einfach nicht mehr so naturalistisch ist, wie sie mal war, sondern die Welt ist so absurd geworden. Ich habe gestern in den Nachrichten Bilder gesehen vom Golf von Mexiko, wo das Meer gebrannt hat. Wenn sich das ein Schriftsteller im Magischen Realismus ausgedacht hätte, hätte man das unglaublich gefunden. ... Das Meer brennt und man schaut dem Meer dabei zu. Früher wäre das etwas Surrealistisches gewesen, wenn man das behauptet hätte, insofern hat der Surrealismus eine sehr wichtige Aufgabe, Dinge zu benennen, die eigentlich nicht realistisch erscheinen, aber immer realistischer werden."



Im Gespräch mit der FAZ verteidigt der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler seinen in der Pop-Zeitschrift erschienenen Essay "Der neue Midcult", der unter anderem von der SZ schwer kritisiert wurde (unser Resümee). Baßler sieht zwischen Schriftstellern, Lesern und Kritikern eine stille Übereinkunft im "populären Realismus", der sich sozialer Schieflagen annimmt: Gesellschaftspolitisch sei man sich eh einig - so entstehe "Wohlfühlliteratur", auch wenn es zum Beispiel um Rassismus geht. "Die Themen sind existenziell und selbstverständlich von allgemeinem Interesse. Deshalb erfordern sie unsere intensive politische, ethische, fachliche und sachliche Auseinandersetzung, mit den entsprechenden Urteilen und Instanzen. Eine solche Auseinandersetzung findet aber eben gerade nicht oder reduziert statt, wenn ethische Positionen zu Selbstverständlichkeiten, Identitätsmarkern in einer ästhetischen Angebot-und-Nachfrage-Struktur werden, in Bubbles, in denen immer schon entschieden ist, was o.k. ist und was nicht. Diese Themen gehören nicht in ein ästhetisches Kuschelszenario."

Weitere Artikel: Im Dlf Kultur spricht die Schriftstellerin Nora Bossong über ihren Band "Auch morgen" mit politischen Texten. Iso Camartin schreibt in der NZZ über Honoré de Balzacs Figur Eugène de Rastignac. Patrick Bahners gratuliert in der FAZ der Nobelpreisträgerin Alice Munro zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Johanna Adorjáns Feuilletonsatire "Ciao" (ZeitOnline, Freitag, Tagesspiegel), Kazuo Ishiguros "Klara und die Sonne" (54books-Kritiker Sebastian Moitzheim widmet sich dem Buch "aus autistischer Perspektive"), Quentin Tarantinos Romanfassung seines letzten Films "Once Upon a Time in Hollywood" (NZZ), Taiyō Matsumotos Manga "GoGo Monster" (Tagesspiegel), Tatiana Tibuleacs Debütroman "Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte" (FR), Hans Falladas "Lilly und ihr Sklave" mit bislang unveröffentlichten Erzählungen (SZ) und Christina von Brauns Memoir "Geschlecht" (FAZ).
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Kunst

Lois Weinberger, Green Man, 2004. Foto: Paris Tsitsos, Studio Lois Weinberger. Courtesy Studio Lois Weinberger und Galerie Krinzinger Wien


Der Konzeptkünstler Lois Weinberger hat seine letzte große Ausstellung im Wiener Belvedere 21 noch konzipieren können, bevor er 2020 starb, und sie zeigt dann auch das Wesentliche seiner Arbeit, schreibt Katharina Rustler im Standard, in der die Natur sich ihren Raum vom Menschen wieder zurückerobert: "Dies spiegelt sich auch in der zentralen Arbeit mit dem Titel 'La Gomera' wieder: Aus aufgeschütteten Kieselsteinen wächst ein trockener Strauch, auf dessen Äste getragene Schuhsohlen gesteckt sind, die der Künstler tatsächlich auf der spanischen Insel gefunden hat. Immer wieder schafft es Lois Weinberger, in seinen Werken aus Altem etwas Neues zu schaffen - und so eigene Kreisläufe zu erzeugen, aber auch offenzulegen. So ließ er in der Installation 'Laubreise', die er 2009 mit seiner Frau für den österreichischen Pavillon auf der Venedig-Biennale schuf, aus Laub frischen Humus entstehen. Oder aus Erde und Holz kleine, Erdmännchen-artige, geknetete Figuren, die hier wie Mumien schlummern."

Weiteres: Bei Hyperallergic stellt John Yau zwei Künstlerinnen vor, Emily Pettigrew und Aubrey Levinthal, die gerade gemeinsam in der Monya Rowe Gallery in New York ausstellen. Ingeborg Ruthe gratuliert in der FR dem Maler und Filmemacher Strawalde alias Jürgen Böttcher zum Neunzigsten.

Besprochen werden Musikvideos von Künstlerinnen und Künstlern in geschlossenen Clubs in Frankfurt und Offenbach, inklusive Sound!, in der Frankfurter Schirn (monopol) und die Berliner Ausstellungen "Picasso - Les Femmes d'Alger" im Museum Berggruen (taz), "Pflanzen brechen aus der Erde. Natur und Kunst von Max Ernst bis Nuria Quevedo" in der Sammlung Scharf-Gerstenberg (FR), die Michael-Stevenson-Retrospektive in den Kunst-Werken (Tsp) sowie "Hella Jongerius. Kosmos weben" im Martin-Gropius-Bau (FAZ).
Archiv: Kunst