Efeu - Die Kulturrundschau

Fragmente des bildungsbürgerlichen Kanons

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17.06.2021. Die NZZ unterhält sich mit der Künstlerin Pamela Rosenkranz über Künstliche Intelligenz, Katzen und die Vorstellung von Reinheit. Im Interview mit der Jungle World erklärt Filmemacher Julian Radlmaier, wie man am besten die Theorie-Besserwisserei aushebelt. Die FAZ kritisiert scharf die Berufung von Christian Spuck zum neuen Leiter des Berliner Staatsballetts. Ebenfalls in der FAZ notiert der Literaturwissenschaftler Achim Hölter eine zweite Phase der Comic-Selbstzensur aus den fünfziger Jahren angesichts der politisch-korrekten Eingriffe in die Comic-Übersetzungen der göttlichen Erika Fuchs. Im Van Magazin warnt der Cellist Steven Isserlis vor dem Lachen des Pianisten Ferenc Rados.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.06.2021 finden Sie hier

Kunst

Pamela Rosenkranz im Kunsthaus Bregenz, mehr bei Youtube


In der NZZ unterhält sich Angelika Drnek mit der Künstlerin Pamela Rosenkranz, die gerade im Kunsthaus Bregenz und in der Zürcher Galerie Karma International ausstellt, über Künstliche Intelligenz, Katzen und die Idee der Reinheit: "Denken Sie an frühere Abfüllungen von Heilwässern: aus Quellen, die noch gesegnet wurden. Heute geht es mehr um die Mineralien und die Sauberkeit des Wassers. Aber der Glaube könnte hier auch heute noch eine Rolle spielen. Als ich 2009 für einen Künstleraufenthalt in Venedig war, sah ich weggeworfene Wasserflaschen aus verschiedensten Teilen der Welt. Eine jede war in Berührung mit der Genetik der Menschen gekommen, die das Wasser darin getrunken hatten. Ihre Spuren schwappten nun in den Kanälen Venedigs. Ich habe angefangen, solche Flaschen aus der ganzen Welt zu sammeln und ein jeweils individuelles, hautfarbenes Silikon anstelle von Wasser in die Flaschen zu füllen - Silikon, das mittlerweile ohnehin schon Bestandteil vieler Körper geworden ist, etwa in Form von Brustimplantaten. Die monochromisierte Hautfarbe als Volumen, das die Flasche füllt, verweist auf die Idee eines perfekten Körpers."

Zum 150. Geburtstag von Lyonel Feininger haben die Quedlinburger Feininger-Galerie und das Bauhaus-Museum in Weimar dem Maler zwei umfassende Ausstellungen ausgerichtet. "Es ist eine einzigartige Gelegenheit, den ganzen Feininger kennenzulernen, von seinen Anfängen um die vorletzte Jahrhundertwende bis zum Schluss", freut sich Burkhard Müller in der SZ und erklärt Feiningers Entwicklung am Beispiel des - mehrfach übermalten - Gemäldes "An der Seine" von 1912: "Feininger hat gerade in dieser Zeit die Pariser Kubisten gesehen; doch was er daraus macht, ist etwas anderes. Wenn an den Bildern von Picasso und Braque öfter die Willkür verdrießt, mit der sie aus normalen Alltagsdingen ein Tohuwabohu wie in einem unaufgeräumten Kinderzimmer machen, meist in recht unfrohen Farben, so bleibt bei Feiningers kristallinen Metamorphosen immer sichtbar die Notwendigkeit der Form erhalten. In den vielflächigen oder geschwungenen Blöcken glüht ein inneres Licht, und doch ist das Schiff klar ein Schiff und die Brücke eine Brücke."

Weiteres: Der Kameruner Biotechnologe, Kurator und Kulturmanager Bonaventure Soh Bejeng Ndikung wird ab 2023 neuer Leiter des Hauses der Kulturen der Welt, meldet Harry Nutt in der Berliner Zeitung. Besprochen werden außerdem eine Käthe-Kollwitz-Ausstellung im Kunstforum Ingelheim (FR), eine Ausstellung des Victoria and Albert Museums über die britische Moscheen-Kultur auf der Architekturbiennale in Venedig (SZ) und eine Ausstellung über Kunst am Bau in der DDR, die zum Teil nach der Wende zerstört wurde, im Kunstverein Ost in Berlin (Berliner Zeitung).
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Literatur

Achim Hölter bleibt für die FAZ weiterhin wachsam, was die angeblich originalgetreuen Taschenbuch-Wiederveröffentlichungen von Carl Barks' Entencomics in der verehrten Übersetzung von Erika Fuchs betrifft. Schon im April waren ihm Eingriffe aufgefallen, die den Text heutigen Befindlichkeiten anpassen sollten (unser Resümee), aber bei der neuesten Lieferung schlägt's 13: Über hundert umgeänderte Panels zählt der Literaturwissenschaftler. Besonders hat es "Im Lande der Zwergenindianer" getroffen, bei denen jegliches "Indianer" in der Ansprache vermieden wird: "'Den anderen', 'einen von denen', das ist nur noch Angstsprache. Überdies wird durch das Ausblenden unerwünschter Benennungen eine Wir-die-Dichotomie zementiert. 'Wir Entenhausener' stehen 'denen da' gegenüber, die bisher 'Indianer' oder 'Eingeborene' hießen und für die nun keine erzähltauglichen Kollektiva verfügbar sind. ... Ohne das Lokalkolorit kultureller Sterotype, die Barks zumeist ironisch verwendet, tritt so etwas wie ein nacktes Freund-Feind-Denken hervor." Fazit: "Wir erleben die Wiederkehr oder zweite Phase der Comic-Selbstzensur aus den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, bei beklagenswert geringer Beherrschung der Register deutscher Sprache im Allgemeinen und fehlendem Respekt vor der Sprachkunst von Erika Fuchs".

Weitere Artikel: FR-Kritikerin Judith von Sternburg erkundigt sich bei Insa Wilke, wie man Jurorin beim Bachmannpreis in Klagenfurt wird.

Besprochen werden unter anderem Martin Lechners "Der Irrweg" (NZZ), Peter Handkes Erzählung "Ein Tag im anderen Land" (Tell), Zadie Smiths Kurzgeschichtenband "Grand Union" (Welt), neue Comicbiografien über Arvo Pärt und die Sex Pistols (Tagesspiegel), Stacey Abrams' "While Justice Sleeps" (Welt), die deutsche Erstveröfffentlichung von Ann Petrys "Country Place" aus dem Jahr 1947 (SZ) und Mark Twains Reiseberichte "Unterwegs mit den Arglosen" (FAZ).
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Bühne

In Berlin wurde der Choreograf Christian Spuck zum neuen Leiter des umstrittenen Berliner Staatsballetts ernannt. "Er ist nicht die beste Wahl, aber es hätte auch schlimmer kommen können", meint Manuel Brug in der Welt. Das sieht Wiebke Hüster in der FAZ ganz anders: "Drastisch ausgedrückt, ist der eben von Bürgermeister und Kultursenator Klaus Lederer (Linkspartei) berufene Choreograph Christian Spuck so geeignet, das Staatsballett Berlin zu führen, wie Justin Bieber, das Amt des Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker auszufüllen. Bieber kann Noten lesen. Spuck kann Fragmente des bildungsbürgerlichen Kanons so in seine repetitive, oberflächliche, robert-wilson-bloß-schneller-hafte postmodern schicke Ästhetik verpacken, dass, wer nicht genau hinguckt, das für zeitgenössischen Tanz hält. Für tief, womöglich, für Handlungsballett", schäumt sie und wirft Kultursenator Lederer vor, eine Tanztradition zu missachten, die man jetzt nur noch in München sehen könne.

Weiteres: Leonardo Flamia schickt der nachtkritik einen Theaterbrief aus Uruguay. Besprochen wird Stefan Herheims Inszenierung von Wagners "Rheingold" an der Deutschen Oper Berlin (Van).
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Film

Lilith Stangenberg als Blutsaugerin in "Blutsauger" (Faktura Film)

Julian Radlmaier spricht in der Jungle World über seine auf der Berlinale gezeigte Vampir-Polittheorie-Komödie "Blutsauger", für die er sich vorgenommen hatte, Karl Marx' Vampir-Metaphern konkret ins Bild zu setzen. Der Humor gestattet ihm eine distanzierte Perspektive: Dies "ermöglicht mir, Schwachstellen einer Theorie aufzuzeigen, die dann entstehen, wenn man sie auf das Leben übertragen möchte. Die Bruchstellen werden sichtbar. Für mich hat das ein antiautoritäres Moment: Auch in der Möglichkeit, sich von einer als negativ gezeichneten Realität nicht erdrücken zu lassen, sondern ihr eine geistige Widerstandskraft entgegenzusetzen." Mit dem Spielerischen "fällt die Blockade weg, die durch einen bestimmten Theoriesprech entsteht. ... So entsteht auch ein anderer Blick auf Marx und seine fundamental egalitäre Dimension. Wenn ich auf einer spielerischen Ebene operiere, wird auch die Theorie-Besserwisserei ausgehebelt."

Außerdem: Für die taz spricht Thomas Abeltshauser mit Suzanne Lindon, die mit 19 Jahren und mit sich selbst in der Hauptrolle ihren Debütfilm "Frühling in Paris" gedreht hat - "sehr ästhetisch, sehr français", findet ZeitOnline-Kritikerin Lili Hering diesen im Pariser Theatermilieu angesiedelten Liebes- und Coming-of-Age-Film mit autobiografischen Facetten, FR-Kritiker Daniel Kothenschulte sah das "seltene Dokument einer Jugend, die verfilmt wurde, als sie passierte". Die WamS hat Martin Scholz' Gespräch mit der Schauspielerin Daisy Riley über deren neuen Film "Chaos Walking" online nachgereicht.

Besprochen werden Ute Adamczewskis Dokumentarfilm "Zustand und Gelände" (taz), der auf Mubi gezeigte Dokumentarfilm "Delphine et Carole, insoumuses" über den Videoaktivismus von Delphine Seyrig und Carole Roussopoulos in den 70ern (SZ), Robin Petrés Tierdokumentarfilm "From the Wild Sea" (taz) und Kevin Macdonalds Justizdrama "Der Mauretanier" (FR).
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Musik

Der britische Cellist Steven Isserlis nimmt den seltenen Anlass einer neuen Aufnahme des Pianisten Ferenc Rados zum Anlass, in VAN in Erinnerungen an seinen Lehrer und Freund zu schwelgen. Zu dessen skurrilen Wesensmerkmalen zählt, "dass bei ihm Lachen kein gutes Zeichen ist. ... Sein Lachen weist unterschiedliche Schattierungen von Wahnsinn auf und reicht von einem noch ziemlich harmlosen manischen Glucksen zu einer völlig überdrehten Lachsalve und ist abhängig von der Schwere des Fehlers, den sein Zögling beim Spielen begangen hat. Ein Freund von mir begleitete einmal im Unterricht einen Bratschisten, der beschlossen hatte, die Reihenfolge der letzten beiden Stücke aus Schumanns Märchenbilder umzustellen, wodurch ein schneller Satz ans Ende kam, was 'viel effektvoller' sei. Mein Freund - der Rados bereits gut kannte - berichtete, er habe noch nie in seinem gesamten Leben jemanden so unbändig lachen hören!" Hier das mit Kirill Gerstein eingespielte Album mit Mozart-Aufnahmen:



Weitere Artikel: Für VAN spricht Hartmut Welscher mit Daniel Stabrawa, der Ende Mai sein letztes Konzert als Konzertmeister der Berliner Philharmoniker gespielt hat. Jan Brachmann berichtet in der FAZ vom Bachfest Leipzig. Arno Lücker widmet sich in seiner VAN-Reihe über Komponistinnen Clara Faisst.

Besprochen werden Ryan Adams' Album "Big Colors" (SZ), ein Frankfurter Liederabend mit Anna Lucia Richter (FR) und Greentea Pengs Debütalbum "Man Made" (taz). Wir hören rein:

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