Efeu - Die Kulturrundschau

Auffällig viele Katzen

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12.06.2021. Die FAZ blickt mit James Ensor in Mannheim hinter die Masken. Die FR fängt mit Norbert Biskys "Trollfarmer" in Leipzig digitale Farbfetzen. In der taz ärgert sich Dániel Kovács, Kurator des ungarischen Pavillons auf der Architekturbiennale in Venedig, über die "negativ konnotierte Identität" der Osteuropäer. Die NZZ porträtiert afrikanisches Theater zwischen Aufbruch, Postkolonialismus und Islamismus. In der SZ beerdigt Anke Stelling die Berlin-Träume der Neunziger. Und die taz steckt mit der Eboni Band berauscht knietief im spätrömischen Disco-Idiom der Achtziger.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.06.2021 finden Sie hier

Kunst

Bild: James Ensor. "Der Tod und die Masken". 1897. Liege, Musee des Beaux-Arts.

Kein Maler bannte die Suche nach Identität hinter der Maske der "alltäglichen Verstellung" so gekonnt auf Leinwand wie James Ensor, erkennt Stefan Trinks (FAZ) in der großen Ensor-Ausstellung in der Kunsthalle Mannheim. Etwa auf dem Bild "Der Tod und die Masken": "Auf diesem Schlüsselbild ist der Tod inmitten der maskierten Untoten noch sehr lebendig, wie das den Betrachter frech fixierende Auge in der linken Höhle und die eben erst erlöschende Lebenskerze in seiner Hand verraten. Warum allerdings über der Szenerie aus einem Heißluftballon auf den verkleideten Pierrot darunter ein Mann mit nacktem Hintern defäkiert, der bis auf den Ballon auch von Hieronymus Bosch stammen könnte, bleibt offen."

Norbert Bisky hat den Lockdown genutzt, um die "Nebenwirkungen der Digitalisierung" zu malen, weiß Ingeborg Ruthe, die für die FR die in der Ausstellung "Disinfotainment" in der Leipziger G2 Kunsthalle gezeigten Ergebnisse begutachtet hat, etwa das Gemälde "Trollfarmer": "Ein 'Trollfarmer', so nennt man jemanden, der im Internet verwirrende Infos verbreitet, sitzt am Laptop. Tunnelblick. Um ihn herum fliegen Farb-Fetzen, abstrakte und gegenständliche. Informationssplitter, die den Mann gleichsam fixieren. Bisky sagt, er habe das Phänomen des sogenannten 'Doomscrollings' gemalt. Diese zwanghafte Suche nach dystopischen Bildern und Informationen im Netz. Darum lässt der Maler aus dem Bildschirm einen linken Arm mit Stinkefinger fahren. Als Warnung. Bisky ist Linkshänder; es ist sein Arm. Und auf dem Laptopdeckel vor einem nächsten wie hypnotisiert auf den Bildschirm starrenden Jugendlichen prangt das Apple-Symbol. Rechts unten wird es zum Q: Querdenker-Symbolik. Dahinter Landkarten, der deutsche Corona-Flickenteppich der täglich vermeldeten Inzidenzen."

Außerdem: In der taz blickt Andreas Hartmann freudig dem Kunst- und Kulturfestival 48 Stunden Neukölln mit dem Motto "Luft" entgegen, das nächste Woche nicht mehr nur digital stattfindet. Ebenfalls in der taz plaudert Thomas Winkler mit dem Fotografen und Verleger Andreas Gehrke über dessen neuen Bildband "Berlin". Besprochen wird die Marc Brandenburg Ausstellung "Hirnsturm II" im Berliner Palais Populaire (Berliner Zeitung)
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Film

Für ZeitOnline wirft Anke Leweke einen Blick in die Berlinale-Reihe "Fiktionsbescheinigung 16 filmische Perspektiven auf Deutschland", die derzeit digital vom Kino Arsenal ausgerichtet wird. Gezeigt werden unter anderem Filme von Menschen, die in Deutschland zwar Film studierten, ihre Projekte aber mittlerweile lieber im Ausland realisieren. So etwa Narges Kalhor, die sich als aus dem Iran geflohene Frau zu oft in die Rolle des Opfers gedrängt sieht und ihre oft absurde Lage als Filmemacherin mit "In the Name of Scheherazade oder der erste Biergarten in Teheran" darstellt: 'Welche Geschichte soll ich meinem Produzenten vorstellen?', fragt sich die Regisseurin im Film an ihrem Küchentisch und versucht, das Interesse mit dokumentarischen, vermeintlich orientalischen Geschichten zu wecken. Etwa die Geschichte eines schwulen Syrers, der Asyl beantragt. 'Warum haben wir keine Bilder seiner Flucht?', hört man den Produzenten aus dem Off. 'Weil keine Kameras dabei waren', sagt ihm die Regisseurin. ... Immer wieder hört man ihn seinen Wunsch nach einem 'geschmeidig' erzählten Film formulieren, der 'den Sehgewohnheiten des hiesigen Publikums' entgegenkomme. Das Schöne an Narges Kahlors Film ist seine offene Erzählhaltung, die Beleuchtung der Wirklichkeit durch die Fantasie, die Vermischung der Ebenen und Ästhetiken."

Von der Sommer-Berlinale besprochen werden außerdem Aliaksei Paluyans Dokumentarfilm "Courage" über den Protest in Belarus gegen Lukaschenko (Tagesspiegel, ZeitOnline, mehr dazu hier), Dominik Grafs "Fabian" (SZ), Kevin Macdonalds Thriller "Der Mauretanier" mit Jodie Foster (online nachgereicht von der FAZ), die HBO-Doku über Tina Turner (Tagesspiegel, taz, Standard) sowie Mia Maariel Meyers und Hanno Kofflers Sozialthriller "Die Saat" (Tagesspiegel).

Außerdem: Cosima Lutz porträtiert im Filmdienst die Schauspielerin Maren Eggert, die bei der Sommerberlinale ihren Silbernen Bären für den Film "Ich bin dein Mensch" in Empfang nimmt. Jurymitglied Wolfgang Hamdorf schreibt im Filmdienst über Shengze Zhus im Berlinale-Forum mit dem Caligaripreis ausgezeichnetes Drama "A River Runs, Turns, Erases, Replaces". Kathleen Hildebrand gratuliert in der SZ Stellan Skarsgård zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Wolfram Hannemanns Dokumentarfilm "Kultourhelden" über Wanderkinos (taz), die HBO-Serie "Mare of Easttown" (ZeitOnline, mehr dazu bereits hier) und die auf Amazon gezeigte Serie "Schitt's Creek" (Freitag).
Archiv: Film

Literatur

Für die SZ spaziert Verena Mayer mit der Schriftstellerin Anke Stelling durch den Berliner Prenzlauer Berg, auf dessen Milieu die Autorin in ihren Romanen immer wieder kritisch zu sprechen kommt - was in ihrer Nachbarschaft bereits zu einigen Zerwürfnissen geführt hat. Auch die Berliner Wohnpolitik spielt in ihre Arbeiten mit hinein. Zwar glaube sie nicht, "dass ihre Literatur politisch etwas verändern wird, "sonst hätte ja 'Schäfchen' schon bewirkt, dass es ein neues Mietengesetz gibt'. Aber sie ist überzeugt davon, dass Gegenwartsliteratur die 'Themen der Stunde' mitliefern kann: 'Ich bin Verfechterin der Verbindung, dass Politik in Geschichten steckt.' In wenigen Romanen kann man das Berlin von heute denn auch so gut erkunden wie in Stellings Texten. Ihre Stadt ist kein Freiraum für Sehnsüchte mehr, wie in den Berlin-Romanen von Judith Hermann oder David Wagner. Die Träume der Neunzigerjahre, als in Berlin noch alles frei und leer war, sind zu Ende, die Träumer damit beschäftigt, ihre Miete zusammenzukratzen."

Zumindest sanft irritiert nimmt Marc Reichwein von der Literarischen Welt einen neuen Trend in den Regalen der Buchhandlungen und in den Verlagsankündigungen zur Kenntnis: die romantisierende Verniedlichung der Buchhandlung zum auratischen Ort und zwar in Büchern, die in Buchläden spielen oder von dort zumindest ihren Ausgang nehmen. Ihn blicken "gemalte Wimmelbilder für Kinder" an: "Hinter puppenstubenartigen Schaufensterfassaden leuchten Bücher in bunten Farben. Stehen Leselampen, Ohrensessel, dampfende Teetassen und sitzen auffällig viele Katzen. ... Authentische bis klischierte Selbsterfahrungs- und Selbstfindungsgeschichten von Büchermenschen sind das Genre der Stunde" und "Buchladenräume scheinen die wahren Aussteigerträume." Woher rührt's? "Wenn Inhalte immer mehr Medien und Ausspielstationen finden, will das Lebensgefühl des ureigenen Mediums durchaus empathisch beschworen sein."

Weitere Artikel: Die Schriftstellerin Annett Gröschner sehnt sich in der "10 nach 8"-Reihe von ZeitOnline nach Reisen mit dem Zug. Dirk Knipphals stellt in der taz Insa Wilke vor, die ab nächster Woche beim Bachmannlesen in Klagenfurt der Jury vorsitzen wird. In den "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Wolfgang Hörner an die psychischen Nöte des Goethezeitgenossen Johann Karl Wezel. Paul Jandl (NZZ) und Thomas Schmid (Literarische Welt) erinnern an den heute vor 100 Jahren geborenen Lyriker H.C. Artmann, den der Dlf Kultur außerdem mit einem Feature von Sven Ahnert würdigt.

Besprochen werden unter anderem Violette Leducs "Thérèse und Isabelle" (taz), Yanara Friedlands "Uncountry" (NZZ), Volker Brauns Gedichtband "Große Fuge" (SZ), Melissa Broders "Muttermilch" (Literarische Welt) und Alfred Kerrs "Plauderbriefe" mit Feuilletons aus den Jahren 1897 bis 1922 (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Brecht, aber auch Beckett prägen das afrikanische Theater, denn "der Postkolonialismus ist die Vertröstung auf ein besseres Später", schreibt der Theaterintendant Christoph Nix in der NZZ. Dennoch setze afrikanisches Theater immer mehr auch auf eigene Traditionen, kämpfe aber sowohl gegen ökonomische als auch politische Probleme: "Der Terrorismus im nördlichen Teil der Subsahara etwa ist ganz direkt auch auf die Zerstörung von Kunst und Theater aus. In Ouagadougou, der Hauptstadt Burkina Fasos wurde 1996 von jungen burkinabischen Schauspielern, die im Ausland gearbeitet hatten und in ihrer Heimat ein festes Theater errichten wollten, das Theater Cito (Carrefour international de théâtre) gegründet. Bekannte Theatermacher wie Jean-Pierre Guingané, Prosper Kompaoré und Achille Amadou Bourou hatten ein Theaterfestival ins Leben gerufen und eine klassische Schauspielausbildung aufgebaut. 'Wir luden regelmäßig Schauspieler aus Côte d'Ivoire, Mali, Togo, Benin, Niger und sogar Senegal ein. Wir wollten mit den neuen Stück 'La Patrie ou la mort' auf Reise gehen', klagt Martin Zongo, der Geschäftsführer von Cito. Aber das sei unterdessen nicht mehr möglich. Heute sei es zu riskant, mit dem Theater die Stadt zu verlassen. Islamistische Aktivisten machten gezielt Jagd auf die Schauspieler."

Außerdem: Im Literarischen Leben der FAZ erinnert Steffi Böttger an den Dichter Johann Friedrich Kind, der für sein Libretto zum "Freischütz" nicht mehr als eine "kümmerliche Abschlagszahlung" erhielt. Besprochen werden Jana Polaseks Inszenierung von Ella Roads "Die Laborantin" am Staatstheater Oldenburg (taz), Ben Kidds und Bush Moukarzels "Alles, was der Fall ist" nach Ludwig Wittgenstein am Wiener Akademietheater (SZ), Barrie Koskys "Macbeth" mit Anna Netrebko und Luca Salsi an der Wiener Staatsoper (Standard) und Josef Haders neues Soloprogramm "Harder on Ice" im Wiener Stadtsaal ("Show und Abgrundschau zugleich", meint Cathrin Kahlweit in der SZ, weitere Besprechung im Standard)
Archiv: Bühne

Architektur

Wir Ost-Europäer "werden in einer Art und Weise repräsentiert, mit der wir uns gar nicht identifizieren können", sagt Dániel Kovács, Kurator des ungarischen Pavillons auf der Architekturbiennale in Venedig, im taz-Gespräch mit Boštjan Bugarič. Unter dem Motto "Andersheit" überlegt er mit zwölf jungen ArchitektInnen aus Mittel- und Osteuropa wie mit dem Erbe der sozialistischen Moderne architektonisch umgegangen werden soll. "Die Identität dieser Region, Osteuropa, ist nicht natürlich gewachsen, weil sie durch das Eindringen einer Supermacht nach dem Zweiten Weltkrieg erschaffen wurde. In dieser Identität ist man verhaftet, und die westlichen Medien haben das übernommen. Es ist eine negativ konnotierte Identität. Man denkt an etwas unkultivierte, hinterwäldlerische Leute, Arbeiter, Nicht-Intellektuelle. Anfang der Neunziger hat man dann versucht, das mittels des Begriffs Zentraleuropa, abgeleitet vom deutschen Begriff Mitteleuropa, zu verbessern. Das hat aber niemanden interessiert, wir blieben also Ost-Europäer."

2025 soll das von dem Ex-Kultursenator Christoph Stölzl und dem Kunsthändler Bernd Schultz initiierte Exilmuseum am Anhalter Bahnhof eröffnet werden. Aber schon jetzt gibt die Open-Air-Ausstellung "Zu/Flucht" auf dem Baugelände einen Ausblick auf die geplanten Inhalte des Museums, das sich den zwischen 1933 und 1945 ins Ausland geflohenen Exilanten widmet, weiß Birgit Rieger im Tagesspiegel. Zu sehen sind unter anderem Flüchtlingscontainer: "Wie gestalten Geflüchtete den beengten Containerwohnraum, um in der Fremde handlungsfähig zu werden, vielleicht ein Gefühl von Heimat zu entwickeln? In den Berliner Behausungen darf man nicht mal Nägel in die Wand schlagen darf? Ein Schaubild zeigt die Wanderungsbewegung der Container, teils über Kontinente hinweg. Ihre schiere Zahl macht deutlich, wie sehr sie im Stadtbild sonst offenbar untergehen."

Außerdem: Für die FAZ hat Gina Thomas Sumayya Vallys Sommer-Pavillon vor der Serpentine Gallery in London besucht: "Gedanklich trifft Sumayya Vallys Pavillon den Nerv der Zeit, zumal in Hinblick auf die Kolonialismusdebatte. Leider wirkt die Struktur in ihrer Mischung aus Tempel, Agora und ägyptisierendem Art-déco-Stil trotz der vielen atmosphärischen Anklänge klobig, kühl und seltsam uncharismatisch, wie ein maschinelles Produkt." Im Monopol-Magazin spricht Clara Westendorff mit dem Fotografen Jaakov Pronin, der für seine Serie "Genius Loci" Brachflächen innerhalb des Berliner S-Bahn-Rings fotografiert hat.
Archiv: Architektur

Musik

Ziemlich umgehauen ist tazler Julian Weber von der Wiederveröffentlichung des 1980 mit Motown-Musikern in Los Angeles aufgenommenen Debütalbums der an der Elfenbeinküste beheimateten Eboni Band: "Der nervöse Puls exakt getrommelter Bongos, ein sturer 4-to-the-floor-Drumbeat zieht seine Bahn, flankiert von messerscharfen Gitarren und einem Bass, der alle Melodien polstert und zugleich schmatzend untergräbt. Dazu schmettern Bläser, und ein spaciger Synthesizer wabert." Dieser Sound "fußt knietief im spätrömischen Disco-Idiom seines Entstehungsjahrs 1980", fällt aber "einen Tick psychedelischer" aus. "Schließlich deklamiert ein Sänger, dass seine Inspiration von anderswo her rührt: 'On a recent trip to West Africa / Peace and Love to my brothers and sisters there / Inspired by this I decided to say these few words to all Africans everywhere: / Let's get back together!', die beschwörend vorgetragene Formel der transkulturellen Solidarität wird in Wolof, einer senegalesischen Sprache, wiederholt, bis ein berauschendes, bilinguales Party-Tool entsteht." Gemeint ist dieses Stück:



Im taz-Interview über ihr Chansonalbum erzählt Ethel Merhaut, wie sie auf die ältere Dame gestoßen ist, die sich im Video zu ihrer Interpretation von Hermann Leopoldis Tango "Alois" mit einem jungen Mann vergnügt: "Es ist ja ein Klischee, dass nur jüngere Frauen Begierde empfinden. Kurz vor dem ersten Lockdown saßen wir im Café, da fiel mir die Dame am Nebentisch auf. Sie trug exzentrischen Schmuck, war auffällig geschminkt, ich dachte mir schon: Sie ist outgoing. Als wir ins Gespräch kamen, es ging zuerst um einen Pullover, erzählte ich ihr von der Idee, ein Video für diesen Tango von Leopoldi zu drehen. Sie hat sofort gesagt, wann, super, kein Problem, ihr könnt's in meiner Villa filmen. Sie tanzt jede Woche Tango, und der Mann im Video ist ihr Tangolehrer. Sie ist ein Vamp, das kann man gar nicht anders sagen. ... Sie sagte: Dieses Video ist mein letzter großer Auftritt. Sie hat es genossen, glaube ich."



Weitere Artikel: Jens Uthoff porträtiert in der taz den Komponisten und Songwriter Jeff Özdemir, dessen gemeinsam mit Freunden als Compilations eingespielte Alben "grenzenlos, regellos, uferlos" sind. Im Standard schreibt Amira Ben Saoud über die feministische Rapperin Schwesta Ebra.

Besprochen werden ein Soloalbum des sonst als Filmkomponisten bekannten Danny Elfman (FR), James Gaffigans Abschiedskonzert vom Luzerner Sinfonieorchester (NZZ) und das Berliner Jubiläumskonzert der Ton Steine Scherben (Tagesspiegel).
Archiv: Musik