Efeu - Die Kulturrundschau

Superschnell, superkopflos, dabei immer superpräzise

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09.06.2021. Der Tagesspiegel feiert die heute in Berlin beginnende Publikumsberlinale. Die NZZ beobachtet die große Kräftverschiebung im Blockbuster-Kino von den USA nach China. Die FAZ erlebt in der Moskauer Garage, wie Putins Glorie sanft in Süßlichkeit ertränkt wird. In der FR möchte Schauspiel-Intendant Anselm Weber beim nächsten Vertrag gern weniger Macht haben.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.06.2021 finden Sie hier

Film

Heute beginnt in Berlin die nachgereichte Publikumsberlinale unter freiem Himmel, mit Abstand und verminderter Publikumszahl. "Ein kleines Sommermärchen" für die Stadt verspricht sich Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche und stellt einen zwar schon entschiedenen, aber inhaltlich starken Wettbewerb in Aussicht, der "trotz einer pandemiebedingt stotternden internationalen Filmproduktion mit einer verblüffenden Vielfalt überzeugt." Flankiert wird das Programm online vom Kino Arsenal, das die Forum-Reihe "Fiktionsbescheinigung" zeigt, berichtet Fabian Tietke in der taz. Silvia Hallensleben spricht in der taz mit den Filmemachern Chris Wright und Stefan Kolbe über deren auf der Berlinale gezeigten Dokumentarfilm "Anmaßung", der einen aus der Haft entlassenen Sexualstrafmörder porträtiert.

Bislang wurde in China jedes Anzeichen von chinesischer Beteiligung am oder Wertschätzung durch das westliche Kino zum Nachrichtenereignis hochgejazzt, erklärt Andreas Scheiner in der NZZ. Doch die Oscarverleihung dieses Jahres, bei der die in den USA arbeitende Chinesin Chloé Zhao als absolute Favoritin mit einem Oscar für den besten Film ausgezeichnet wurde, wurde im Land komplett totgeschwiegen - wegen zwei, drei nicht völlig begeisterter Sätze über ihr Heimatland, die die Filmemacherin einmal vor vielen Jahren in einem Interview fallen ließ. "Die Kräfteverhältnisse in der Filmwelt haben sich verschoben. Letztes Jahr setzten die Kinos in China erstmals mehr um als diejenigen in den USA. Es hatte nicht nur mit der Pandemie zu tun: Das Milliardenvolk hat Lust auf Kino. Und wenn es keine Untertitel lesen muss, umso besser. ... Hat Hollywood also ausgedient für die Chinesen? Der Autorenverband PEN America, der sich für die Meinungsfreiheit einsetzt, bringt es in einem Bericht auf den Punkt: 'Hollywood braucht immer dringender Zugang zum chinesischen Markt, aber China braucht immer weniger dringend Zugang zu Hollywood-Filmen.'"

Weitere Artikel: Andreas Hartmann wundert sich derweil in der taz "ein klein wenig" darüber, dass die Berliner Kinos, die ja eigentlich schon öffnen dürften, nun doch erst am 1. Juli aufmachen, findet aber bei den Betreibern ein paar Antworten auf seine Fragen. Dominik Kamalzadeh unterhält sich im Standard mit dem Filmemacher Arman T. Riahi, dessen "Fuchs im Bau" heute die Diagonale in Graz eröffnet.

Besprochen werden Chloé Zhaos "Nomadland" (NZZ) und die Stephen-King-Serie "Lisey's Story" (Presse).
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Literatur

In der "Was folgt"-Kolumne der SZ schwärmt die Lyrikerin Juliane Liebert von den Vorzügen des Tempelhofer Felds in Berlin, die sich ihr vor allem während der Pandemie offenbarten, weshalb sie dafür plädiert, das Feld Stück für Stück auf ganz Berlin auszuweiten. Die SZ lässt Stefan Weidner Constantin Schreibers Roman "Die Kandidatin" besprechen, der das Buch erwartungsgemäß niedermacht und verkündet: "Kritikwürdige Züge des zeitgenössischen Islams, mancher Muslime und vieler muslimischer Gesellschaften zeigt man verantwortungsvoll anders auf."

Besprochen werden unter anderem Tove Ditlevsens Kopenhagen-Trilogie (Jungle World), Friedrich Anis Kriminalroman "Letzte Ehre" (FR), Fang Fangs "Weiches Begräbnis" (Tagesspiegel), Tagebücher von Hermann Stresau und Anna Haag (Tagesspiegel), Arne Rautenbergs Gedichteband "betrunkene wälder" (taz), Jason Reynolds' Kurzgeschichtenband "Asphalthelden" (Zeit) und John Greens Essayband "Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?" (FAZ).
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Kunst

Austellungsansicht: Assuming Distance: Speculations, Fakes, and Predictions in the Age of the Coronacene. Garage Museum of Contemporary Art, Moskau 2021


Von kunstsinnigen Oligarchen behütet versammelt die Schau "Auf Distanz gehen" im Moskauer Kunstzentrum Garage einen bemerkenswerten Korpus kritischer Gegenwartskunst, staunt Kerstin Holm in der FAZ, die hier nicht nur die Einsamkeit der KünstlerInnen in Zeiten der Pandemie, sondern auch in Putins Russland aufgegriffen sieht: "Ein Höchstmaß an Versteckspiel und Mimikry erzielt dabei das mit giftbunten Plastiksitzobjekten bestückte Environment "Lichte Lieder" der Petersburger Künstlerinnen Maria Morina und Jekaterina Sokolowskaja, das die Komponistin Marina Karpowa mit einem süßlichen Soundtrack beschallt, der in jeder Ecke des Museums zu hören ist. Schmeichelnde Gesangsstimmen intonieren Wortfetzen aus Berichten über die Corona-Pandemie sowie Putin-Aussprüche anlässlich seiner Verfassungsänderung und der Siegesparade und verweben sie zu einem unverständlichen Textornament."

Weiteres: In der taz imponiert Ingo Arend, wie beherzt die Direktorin des Friedrichshafener Zeppelin-Museum den gewaltigen kulturhistorischen Fundus nach vorne denkt, gerade etwa mit der Ausstellung "Beyond States". Auf Monopol blickt Katharina Cichosch anhand einiger zentraler Werke auf das Verhältnis von Mensch und Tier in der Kunst. Besprochen wird die Skizzen-Ausstellung "Draft" im Wiener Künstlerhaus (Standard).
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Bühne

Im FR-Interview mit Judith von Sternburg spricht der Frankfurter Schauspiel-Intendant Anselm Weber über seinen gesunden Zweckpessimismus, digitale Flops und die Sehnsucht nach der vollen Theaterkantine. Zur Frage der Intenandantenmacht sagt er: "Ich will nach diesen 14 Monaten einmal so sagen: Zur Frage nach der Macht gehört immer auch die Frage nach der Verantwortung. Wer will die Verantwortung haben? Ich darf Ihnen versichern, wenn Sie fast tagtäglich mit der Situation konfrontiert sind, persönlich für das Wohlergehen Ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verantwortlich zu sein, dann definiert sich Macht plötzlich ganz anders. Wenn Sie in die Spielzeit gehen und wissen, dass Sie als Geschäftsführer mit einem Defizit von knapp 13 Millionen Euro umzugehen haben, und Ihnen auch deutlich signalisiert wird, dass Sie dieses Defizit auffangen müssen, dann definiert sich Macht plötzlich ebenfalls ganz anders. Ich weiß nicht, wie viele Leute das freiwillig mit mir hätten teilen wollen. In meiner unmittelbaren Umgebung keiner. Die Frage nach der Verantwortung war in den vergangenen Monaten so existenziell, wie ich sie in meinem Beruf niemals zuvor erlebt habe. Und ich werde nie wieder einen Vertrag unterschreiben, in dem steht, dass ich genau das alles machen muss."

Weiteres: Mit einem Anflug von Freude meldet Jan Brachmann in der FAZ, dass die Intendantin der Oper Graz, Nora Schmid, ab 2024 die Dresdner Semperoper leiten soll. Welt-Kritiker Manuel Brug hat zu Dantes 700. Todestag im Apennin-Örtchen Marradi auch die Wiedereröffnung eines 229 Jahre alten Theater erlebt, mit Kulturminister, Staatskapelle und Riccardo Muti.

Besprochen werden Christoph Marthalers Hölderlin-Abend "Die Sorglosschlafenden" in Hamburg (über dessen ungetrübte Behaglichkeit SZ-Kritikerin Christine Dössel beinahe eingeschlummert wäre, wenn die fantastischen Schauspieler sie nicht wach gehalten hätten), Calixto Bieitos Adaption von Krzysztof Kieslowskis Filmreihe "Dekalog" am Münchner Residenztheater (FAZ) und eine modernisierte Fassung von "König Lear" mit Katharina Thalbach und Felix von Manteuffel am Renaissancetheater in Berlin (Tsp).
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Musik

NZZ-Kritiker Thomas Schacher verspricht sich viel von dem französischen, aus einer Fusion hervorgegangenen Klassiklabel Alpha Classics, deren Macher immer wieder "eine gute Spürnase bei der Auswahl der Interpreten beweisen, wo arrivierte Künstler neben jungen Hoffnungsträgern figurieren. Die ambitionierten Projekte stehen durchwegs auf einem hohen künstlerischen Niveau. Dazu gesellt sich eine raffinierte optische Gestaltung. ... Unter den neueren Alpha-Einspielungen findet sich beispielsweise Schönbergs 'Pierrot lunaire', worin Patricia Kopatchinskaja sowohl als Geigerin als auch als Interpretin des Sprechgesangs brilliert. Und der Flötist François Lazarevitch gräbt den Solozyklus 'Der Fluyten Lust-Hof' des Barockkomponisten Jacob van Eyck aus. Um die gelungene Kombination eines Repertoirestücks und einer aufstrebenden Künstlerin handelt es sich bei der Einspielung von Mendelssohns Violinkonzert" durch die Geigerin Chouchane Siranossian und das Barockensemble Anima Eterna.

Außerdem: Im Tagesspiegel spricht Sängerin Shirley Manson über das neue Garbage-Album.

Besprochen werden eine Disney-Serie über Aretha Franklin (FAZ), ein neues Album von Weezer (Jungle World), Magic Islands Album "So Wrong" (taz), ein Strauss-Konzert der Staatskapelle Dresden unter Christian Thielemann (FAZ) und neue Popveröffentlichungen, darunter die Re-Issue des ersten Albums der Bad Brains, das den mit rasiermesserscharf Gitarren durchgepeitschten HardcorePunk seinerzeit entscheidend mit aus der Taufe hob: "Immer noch ein unfassbarer Sturzflug, superschnell, superkopflos, dabei immer superpräzise gespielt", schwärmt SZ-Popkolumnist Max Fellmann in der SZ. Für den Morgen der ideale Muntermacher:

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