Efeu - Die Kulturrundschau

Kollektive Krachmacher-Traditionen

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01.06.2021. Die SZ reist nach Mali zu DJ Diaki, um die Zukunft elektronischer Musik zu erhaschen. Die taz lernt von Marc Brandenburg, die Umdrehung der Schwerz-Weiß-Perspektive nicht zu deuten. In der FAZ traut sich Linus Reichlin nicht mehr an Frauenfiguren heran Die Welt ermisst, welch gewaltiger Umbau auf die Städte nach der Pandemie zukommt. Und die taz entziffert die Drapiersprache des Modedesigners Halston.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.06.2021 finden Sie hier

Musik

In einer tollen SZ-Reportage erzählt Jonathan Fischer von seiner Reise nach Mali, ins Dörfchen Sanakoroba, wo er DJ Diaki besucht, der vor Ort in bescheidenen Verhältnissen lebt, aber von Veranstaltern auch schon mal mit Erste-Klasse-Tickets nach Europa geholt wird. Für Fischer bietet DJ Diakis Musik nicht nur eine Erinnerung an vergangene Techno-Ekstasen, sondern vor allem auch einen Ausblick auf nichts weniger als die Zukunft elektronischer Musik. Diaki gibt ihm am Laptop eine Kostprobe: "Sofort geht eine Lärmlawine ab. Kollektive Krachmacher-Traditionen prallen aufeinander. Die Rohheit von frühem House, das Chaos des Jungle, der Dreck malischer Folk-Musik. Hier klöppelt ein Balafon-Riff. Da sägt eine gesampelte Ngoni-Laute. DJ Diaki ruft auf seinem Touchpad ein Signalhorn ab, ein startendes Düsenflugzeug oder das Rattern eines defekten Nadeldruckers. Hochbeschleunigte Rhythmuspartikel, die sich zu einem sensorischen Overkill addieren. Diaki reitet die Welle: Während sich seine Finger im Stakkato-Rhythmus bewegen, leuchtet ein 1000-Watt-Grinsen über sein Gesicht." Ein kleiner Eindruck:



Der Schriftsteller Ilija Trojanow erklärt im FAZ-Gespräch, warum er sich zuletzt der Neuen Musik zugewendet hat und für die nächste Zeit als "poetischer Chronist" des Ensemble Modern auftreten will: Ihm geht es darum, "herauszufinden, was jenseits des Horizonts des bisher vertrauten Klangmeeres liegt. ... Die Suche nach dem Utopischen, die für mich zentraler Lebensinhalt ist, benötigt den waghalsigen Aufbruch ins Unerhörte (aber auch die Vergewisserung des Eingehorchten, also der 'Alten Musik')."

Weitere Artikel: Sophie Beha wirft für die taz einen ausführlichen Blick auf die Arbeit des jüdischen Kammerorchesters Hamburg und der neuen jüdischen Kammerphilharmonie in Dresden, die von den Nazis in die Vergessenheit abgedrängte Musik wieder aufführen. Gerald Felber empfiehlt in der FAZ den MDR-Podcast von Michael Maul und Bernhard Schrammek über die Bachkantaten. In der taz porträtiert Thomas Winkler die in Berlin lebende Musikerin Mine. Andreas Kolb berichtet in der NMZ vom Auftakt des Mozartfests Würzburg. In der SZ-Jazzkolumne erinnert Andrian Kreye an Erroll Garner, der vor 100 Jahren geboren wurde. Besprochen wird ein Konzert der Pianistinnen Katia und Marielle Labèque (Standard).

Das Logbuch Suhrkamp bringt die 92. Folge von Thomas Meineckes "Clip//Schule ohne Worte":

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Kunst

Marc Brandenburg: Ohne Titel, 2020, Galerie Thaddaeus Ropac / DB

Hellauf begeistert ist Jenny Zylka in der taz von der Ausstellung "Hirnsturm II" des Künstlers Marc Brandenburg im Berliner Palais Populaire der Deutschen Bank. Brandeburg. Brandenburg schöpft für seine fotorealistischen Arbeiten aus urbanen Szenerien - Kneipenabende in den Achtzigern, FFF-Demos, Männer im Park - und invertiert sie, wie Zylka erklärt. Aber aufgepasst: "Das Umdrehen der Schwarz-Weiß-Stufen bei Brandenburg, das der schwarze Künstler - genau wie das Ausstellen in Schwarzlichträumen, das diese Umkehrung leuchtend verstärkt - schon lange immer wieder als Stilmittel benutzt, führt in der Regel zu einer klassischen Schlussfolgerung der weißen Mehrheitsgesellschaft: Es soll auf die PoC-Perspektive der Künstlers hingewiesen werden. Aber 'das ist auch eine Form des Rassismus', sagte Brandenburg in einem Interview, 'dass im Kunstbetrieb davon ausgegangen wird, dass ich mich 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche mit meiner schwarzen Identität und meiner Hautfarbe auseinandersetze. Das würde man von einem weißen Künstler nie verlangen.'"

Weiteres: Der Schweizer Künstler Urs Fischer durfte heute die NZZ gestalten, im Interview mit René Scheu und Michael Gotthelf plaudert er über den Betrieb, Krypto-Kunst und Street-Art von der Höhlenmalerie bis zu Instagram. Besprochen werden die Ausstellung "Kunstjäger" im Museum für Russischen Impressionismus in Moskau (FAZ), Klaus Littmanns grüne Kunstprojekte bei den Kunsttagen in Basel (Standard) und die Schau "Sun Rise /Sun Set" im Schinkel-Pavillon (Tsp).
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Architektur

Den Städten stehen nach der Pandemie die größten Umwälzungen seit dem Nachkriegsstädtebau bevor, mahnt Dankwart Guratzsch in der Welt. Bei Büroimmobilien wird ein Leerstand von dreißig Prozent befürchtet, gleichzeitig verbieten die Klimaziele einen Abriss. "Die alte Ex-und-hopp-Ideologie der Stadtsanierung ist passé", betont Guratzsch, nachhaltiger und smarter Umbau ist gefragt: "Der Laie fragt sich: Geht das überhaupt, leer stehende Büros, Kaufhäuser, Geschäfte und Einkaufscenter für ganz andere Zwecke umzubauen und zu nutzen? Wohnen im Einkaufscenter, im Lagerraum, im Büro - lässt sich das technisch, ökonomisch, ökologisch und sozial leisten? In der 'Stadtbauwelt', der Zeitschrift des Bundes Deutscher Architekten (BDA), sagt die Dortmunder Raumplanerin Nina Hangebruch: Ja, alle diese Immobilien könnten mit architektonischen Mitteln zu Wohnungen, Hotels, Pflegeheimen, Bildungsund Kultureinrichtungen, Kindertagesstätten, Spielhäusern oder Begegnungsstätten 'transformiert' werden. Die Buntheit dieses Spektrums ist der Autorin wichtig, weil die Innenstadt auch nach Corona 'lebendig' und 'attraktiv' sein soll."
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Bühne

Als es noch rauschende Parties gab: Roland Schimmelpfennigs "Der Kreis um die Sonne". Foto: Birgit Hupfeld / Residenztheater

Am Münchner residenztheater hatte Roland Schimmelpfennigs Pandemiestück "Der Kreis um die Sonne" Premiere. In der FAZ findet Teresa Grenzmann, dass Schimmelpfennig so sportlich wie poetisch der Unmöglichkeit nahekommt, Theater im Jetzt festzuhalten. Wie das Stück die Verunsicherung, das Erschrecken festhält inmitten einer Party im Wohlstand, findet sie stark. In der SZ findet auch Christine Dössel das Setting ungeheuer clever, und Nora Schlockers Inszeneirung sehr versiert und dennoch stutzt sie: "Das Déjà-vu verbindet sich mit dem Gefühl, dass das Theater einfach so weitermacht wie immer. Als sei nicht - um den Titel des letzten Schimmelpfennig-Stücks am Resi zu zitieren - ein 'Riss durch die Welt' gegangen. Müsste nach dem langen Stillstand durch Corona nicht ein ganz anderes Fieber herrschen? Ist gar nichts zu Bruch gegangen? Kein Regieherz erschüttert?"

Marlene Knobloch porträtiert in der SZ die Dramaturgin Sabine Zielke, die jetzt die Berliner Volksbühne leitet und dort den Schutt aufräumen soll, bevor René Pollesch im Herbst kommt: "Zielke ist keine bekennende Feministin, die das Ende des Theater-Patriarchats fordert. Sie ist genauer, ihre Worte präziser als der laute Schlachtruf nach mehr Diversität und Gleichberechtigung. Die jüngste Rassismusdebatte am Düsseldorfer Schauspielhaus und die Reaktionen auf den FAZ-Artikel des Dramaturgen Bernd Stegemann findet sie 'total emotionalisiert, da guckt kein Verstand mehr durch'... Bei all den hitzigen Debatten, wie sie am Düsseldorfer Schauspielhaus, am Berliner Maxim-Gorki-Theater oder am Staatstheater in Karlsruhe geführt werden, will sie mit keiner der Fronten kämpfen. Und auch, dass sie als Frau an der Spitze steht, ändert nichts daran, dass die Menschen, die Zielkes Kunstverständnis und damit ihr Leben prägten, Männer waren. Allen voran einer."

Weiteres: Manuel Brug schreibt in der Welt zum Tod der Tänzerin Carla Fracci, der vielleicht letzte Primaballerina Assoluta. Hier tanzt sie mit Rudolf Nurejew die Balkonszene aus "Romeo und Julia":


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Design

Marina Razumovskaya erinnert in der taz an den Modedesigner Halston, dessen Leben gerade eine (von der Kritik - siehe hier und dort - allerdings nicht sonderlich goutierte) Netflix-Serie Revue passieren lässt. Immerhin: Die Serie findet Razumovskaya einigermaßen authentisch, wenngleich Frédéric Tchengs Doku von 2019 authentischer ist. Erst diese "zeigt, how to do it. Das Fashion Institut of Technology bewahrt eine große Menge Schnittbögen von Halston auf. Es sind eigentlich keine Schnitte, sondern es ist meist ein einziges Stück Papier, mit seltsamen Umrissen wie ein Puzzleteil, in dem Pfeile und kurze Anweisungen notieren, wo und wie zu falten ist, wo zusammenzunähen, zu knoten oder zu verdrehen. Halston scheint eine eigene Drapier-Sprache entwickelt zu haben."
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Stichwörter: Halston, Modedesign, Netflix

Literatur

Linus Reichlin ist die Freude an Frauenfiguren in seinen Romanen gründlich vergangen, erklärt der Schriftsteller in der FAZ: "Es ist zu gefährlich geworden. Als old white writer verspürt man heutzutage den Wunsch, nur noch Romane über Arktisexpeditionen des neunzehnten Jahrhunderts zu verfassen." Doch schließlich verursachen "Romane mit ausschließlich männlichem Personal mehr Probleme, als sie lösen. Leider merkte ich das erst nach Abfassung meines neuen Romans. Aus dem mir selbst gar nicht bewussten Wunsch nach Vermeidung von möglicherweise stereotypen Frauendarstellungen heraus stand ich am Schluss mit einem Romanpersonal da, das im Wesentlichen aus einem alternden Schriftsteller und einem ehemaligen Stierkämpfer bestand. Zu allem Übel war die einzige relevante Frauenfigur eine Nonne, die sich nur schon deshalb nicht als Identifikationsfigur für die moderne Leserin eignete, weil sie erst am Ende des letzten Kapitels auftauchte."

Außerdem: Lena Schneider spricht im Tagesspiegel mit Karin Graf, der künstlerischen Leiterin der Lit.Potsdam. André Georgi schreibt in der Dante-Reihe der FAZ über Dantes Gerechtigkeitsempfinden.

Besprochen werden unter anderem Shida Bazyars "Drei Kameradinnen" (54books), Tijan Silas "Krach" (Tagesspiegel), Lena Goreliks "Wer wir sind" (Tagesspiegel), Kazuo Ishiguros "Klara und die Sonne" (Zeit), der fünfte Band aus Riad Sattoufs Comiczyklus "Der Araber von morgen" (Intellectures), Isaac B. Singers Der Scharlatan" (FR), Peter Buwaldas "Otmars Söhne" (ZeitOnline), Ernst Robert Curtius' ursprünglich 1924 erschienener und jetzt wiederveröffentlichter Essay über Marcel Proust (Tagesspiegel), Pascal Bressons und Sylvain Doranges Comic "Beate und Serge Klarsfeld. Die Nazijäger" (SZ), die Gesamtausgabe der gemeinsam von Jean Tabary und René Goscinny gestalteten "Isnogud"-Comics (Welt) und Georges Perros' "Klebebilder" (FAZ).
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Film

Marie Tragousti in Marie Waeldes "Nackte Tiere" (déjà-vu Film)

Mit ihrem letztes Jahr auf der Berlinale uraufgeführtem Regiedebüt "Nackte Tiere" gibt sich Melanie Waelde als "eine radikal eigenständige Stimme im deutschen Kino" zu erkennen, schreibt Sebastian Markt in der Zeit. Der Coming-of-Age-Film über fünf Jugendliche im Berliner Umland fasziniert ihn nicht zuletzt wegen der sonderbaren "Landschaft körperlicher Zuwendungen", die sich darin entfaltet: "Es ist eine Sprache, die sich nicht ohne Weiteres verstehen lässt. Auf Schläge folgen Umarmungen, auf Wunden Verarztungen, ein spielerisches Ringen, das in Würgegriff und Ohnmacht endet, ein Lecken über die Wange als Morgengruß, ein Pulen an Wundschorf als Sorge für den anderen." Waelde "beschreibt flüchtige Aggregatzustände und Affekte und findet darin ein außergewöhnliches Porträt einer Jugend, in einer Welt, in der das Konzept 'Zukunft' abgewirtschaftet hat."

Im Lockdown sind nicht nur die Kundenzahlen der Streamingdienste nach oben geschnellt, sondern auch die Zahl der illegalen Downloads, berichtet Nicolas Freund in der SZ - und das ist für die großen Studios ein Problem insbesondere auch insofern, da immer mehr klassische Kinostudios mit ihren eigenen Streamingangeboten auf den Markt drängen, wo sich große Produktionen wegen der Kannibalisierung des Marktes kaum noch refinanzieren lassen: "Wer als Zuschauer bei allem, worüber gesprochen wird, auf dem Laufenden bleiben möchte, kann inzwischen problemlos 50 Euro und mehr im Monat für Streamingdienste ausgeben", da Prestige-Titel oft nur noch bei einem einzigen Anbieter zu sehen sind. "Andere sehr gute Serien laufen dagegen bei den weniger erfolgreichen Streamingplattformen praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit, wie zum Beispiel 'Roadkill' mit Hugh Laurie über einen populistischen britischen Politiker, die in Deutschland bei Magenta TV versenkt wurde. Diese Rückkehr zur Filmpiraterie und das Verschwinden mancher eigentlich sehenswerter Formate in der Bedeutungslosigkeit sind ein Indiz dafür, dass viele Zuschauer nicht bereit sind, für nur eine Serie einen Streamingdienst zu abonnieren. Das ist verständlich."

Außerdem: Peter Körte empfiehlt in der FAS das Berliner Greek Film Festival. Besprochen wird die Amazon-Serie "Panic" (FAZ).
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