Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Protestschreiben oder ein Kochbuch

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20.05.2021. Die Diskussion um Machtmissbrauch am Theater geht weiter: Shermin Langhoffs "Viertelentschuldigung" ist doch schon wieder eine Machtdemonstration, moniert die Zeit, mehr kulturpolitische Kontrolle bei der IntendantInnen-Wahl fordert das VAN Magazin. Die FAZ lernt bei Hito Steyerl in Paris, warum auch Siri auf Kriegsrealitäten keine Antwort weiß. Außerdem erklären die Ethnologin Shalini Randeria und der Schriftsteller Ilija Trojanow in der FAZ, weshalb die indische Lyrikerin Parul Khakkar nach einem Gedicht über die indische Coronakatastrophe jetzt als "Volksverräterin" gilt. Indisches Kino ist mehr als Bollywood, lernt die taz mit Ivan Ayrs Truckerdrama "Milestone". Und in der Welt erklärt David Hockney, weshalb keine Zeitung seine Leserbriefe druckt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.05.2021 finden Sie hier

Kunst

Hito Steyerl, " SocialSim," (montage de deux détails), 2020. Courtesy de l'artiste, Andrew Kreps Gallery New York et Esther Schipper, Berlin. Still Photo © D.R.

Acht Stunden Film hat sich Bettina Wohlfarth für die FAZ im Pariser Centre Pompidou in der großen Überblicksschau "I will survive" zum Werk von Hito Steyerl angeschaut, um einmal mehr den "feinen Humor" zu erkennen, mit dem die deutsche Künstlerin Gegensätze zusammenbringt, etwa wenn sie "aggressive Angstworte aus der populären Musik mit Computeranimationen und Videos von Gleichgewichts-Tests an humanoiden Robotern, die für den Einsatz in Kampfzonen entwickelt werden" verknüpft: "Unterdessen finden in wirklichen Kampfzonen Bürgerkriege statt. In einem zweiten Teil der Installation führt ein Videofilm von Steyerl in die von türkischen Militäranschlägen zerstörte kurdische Stadt Diyarbakir im Südwesten der Türkei. Die Software Siri, die im Film einmal probehalber gefragt wird, ob sie wisse, welche Rolle Computertechnologie im Krieg spiele, findet keine Antwort. Zwischen an sich bezugslosen Worten wie 'fuck' und 'die' spannt Steyerl ein Netz von Erzählungen, mit denen sie Zusammenhänge einfängt und bewusst werden lässt; aber auch die Abgründe wie die brutale Realität des Krieges, die sich hinter sauber organisierten virtuellen Welten des technologischen Fortschritts und der künstlichen Intelligenz auftun."

Die Welt erscheint heute als Künstlerausgabe, gestaltet von David Hockney. Cornelius Tittel ist eigens zu Hockneys Landsitz in die Normandie gereist, um mit dem britischen Künstler über das Leben auf dem Land, Corona und das Zeichnen auf dem iPad zu plaudern und zu klären, weshalb Zeitungen seine Leserbriefe zum Thema Rauchen nicht drucken: "Ich bin seit knapp 70 Jahren passionierter Raucher. Mir geht es blendend. Und ständig muss ich völlig demagogische Artikel über das Rauchen lesen. Ständig werden die Rechte von uns Rauchern weiter eingeschränkt. Ich halte das alles für einen großen Irrsinn." In einem weiteren Artikel singt Marcus Woeller eine Hymne auf Hockney.

In der SZ ist sich Catrin Lorch nicht ganz sicher, was sie vom wachsenden Aktivismus in der Kunstszene halten soll. Selbst für den Turner Prize sind nur noch Kollektive nominiert: "Kaum auszurechnen, wie viele Künstler zu den insgesamt fünf Gruppen zählen, die es als künstlerische Aufgabe verstehen, sich beispielsweise in Nordirland für Abtreibung einzusetzen (Array Collective), der afrikanischen Diaspora in Großbritannien eine Stimme zu verleihen (Black Obsidian Sound System) oder wie das britische Duo Cooking Sections zu fragen, wie man in Zeiten des Klimawandels essen werde, um als Vision künstliche Austernriffe zu skizzieren. Damit ziehen Themen in die Kunst ein, die mehr sind als Sujets. Wer diese Kunst ästhetisch diskutiert, muss ihre Anliegen genauso überprüfen wie die künstlerischen Mittel - sei es ein Flashmob, eine Dokumentation, ein Protestschreiben oder ein Kochbuch." Ebenfalls in der SZ fragt sich Sonja Zekri, ob Berlin wirklich auf die amerikanische Konzeptkünstlerin Adrian Piper gewartet hat, die aktuell mit einer Protestaktion vor dem Berliner Reichstag für bessere Bildung kämpft.

Außerdem: Den Geist "atmender" Madonnen spürt in der FR Ingeborg Ruthe in der Ausstellung "Spätgotik. Aufbruch in die Neuzeit" in der Berliner Gemäldegalerie. Berührt kommt Tagesspiegelkritiker Jens Hinrichsen aus der Ausstellung "Leonilson. Drawn 1975-1993" im Berliner KW, die Arbeiten des 1993 im Alter von 36 Jahren an Aids gestorbenen brasilianischen Künstlers Leonilson zeigt. Besprochen wird außerdem die Ausstellung "Der absolute Tanz" im Berliner Georg Kolbe Museum (Tagesspiegel).
Archiv: Kunst

Bühne

Shermin Langhoff hat auf die Vorwürfe gegen sie (unsere Resümees) reagiert. Zumindest mehr oder weniger: Das Gorki Theater hat auf seiner Website eine in Wir-Form gehaltene Stellungnahme veröffentlicht, in dem es nach einigem Eigenlob heißt: "Wenn Mitarbeiter*innen verbal angegriffen, nicht wahrgenommen und enttäuscht wurden, nehmen wir das ernst". Hochmütig findet Peter Kümmel in der Zeit diese "Viertelentschuldigung", die er zudem für eine "Machtdemonstration" hält: "Aus der Festung des 'Wir' segelt ein Schreiben herab: Wir haben verstanden. In diesem Stil sind Formbriefe großer Firmen verfasst, wenn es darum geht, Beschwerden von Kunden abzuschmettern. Von der Höhe ihrer Verdienste aus regelt die Intendantin die Dinge. Ihre Verdienste sind groß. Aber sie arbeitet gerade, wie man so sagt: 'mit Macht' daran, dass sie von dem persönlichen Versagen überschattet werden, dessen Zeugnis sie uns hier schriftlich gibt."

"Von der ganzen Diversityarbeit, der Arbeit am Antirassismus oder der Critical Whiteness, profitieren wir als Betroffene am allerwenigsten", sagt die schwarze Theatermacherin Natasha A. Kelly im Nachtkritik-Gespräch mit Esther Slevogt, in dem sie auch erklärt, weshalb sie nach den Rassismusvorwürfen am Düsseldorfer Schauspielhaus die Zusammenarbeit beendete und nun eine eigene Bühne fordert: "Uns geht es darum, einen Raum zu haben, um in einem deutschsprachigen Kontext Schwarze Ästhetik neu definieren können. Das gibt es in Deutschland bisher nicht. Im anglophonen Raum gab es schon vor hundert Jahren die Harlem Renaissance. Im frankophonen Raum sind im Zuge der Négritude seit den 1930er Jahren selbständige Schwarze Ausdrucksformen in Kunst, Kultur und Literatur entstanden. Hier sollen wir uns in erster Linie daran beteiligen, Strukturen zu verändern, die eh nicht für uns gedacht waren."

Weitere Artikel: Für die FR wirft Judith von Sternburg einen Blick auf die kommende Spielzeit am Schauspiel Frankfurt. Das VAN Magazin veröffentlicht einen Text von Hartmut Welscher und Christian Koch, der zunächst in dem unter anderem von der Heinrich Böll Stiftung herausgegebenen Sammelband "Theater und Macht" erschien. Die Kulturpolitik muss ihrer "Kontroll- und Aufsichtsfunktion" über die vermeintlich "genialischen Tyrannen" nachkommen, fordern die Autoren: "Stattdessen ist die Intendantenwahl oft ein ziemliches Hinterzimmer-Geklüngel." In einem zweiten VAN-Text untersucht Vincent Bababoutilabo die "kolonialrassistischen Ideologien" an der Figur des Monostatos in Mozarts Zauberflöte. Und in der FAZ erklärt die an der Essener Folkwang Universität lehrende Dozentin Daniela Holtz, wie sie SchauspielschülerInnen angesichts der aktuellen Debatten auf die Realität an deutschen Theatern vorbereitet.
Archiv: Bühne

Design

Hat sich stets bemüht: Ewan McGregor als Halston (Netflix)

Ewan McGregor spielt in einer fünfteiligen Miniserie auf Netflix den legendären, 1990 gestorbenen Jetset-Modedesigner Halston, der in den 70ern zwischen Disco-Chic und Sex'n'Glam so ziemlich alles mitnahm. Eine glatte Fehlbesetzung, seufzt allerdings Jürg Zbinden in der NZZ: "McGregor ist ein Halston-Fake, vom Scheitel bis zur Sohle. Der Designer mit dem Look eines Dressman verfügte über eine Eleganz, die dem kompakter gebauten Schotten fehlt, was der Schauspieler nicht überspielen kann."
Archiv: Design

Film

Stimmungen und Atmosphären: "Milestone" auf Netflix

Indisches Kino ist mehr als Bollywood, schreibt Barbara Schweizerhof in der taz, und mit Ivan Ayrs Truckerdrama "Milestone" bietet sich jetzt auf Netflix die beste Möglichkeit, sich genau davon zu überzeugen. Noch viel mehr im Filmglück wäre die Kritikerin, wenn sie diesen Film im Kino statt nur auf dem Bildschirm hätte sehen können. Denn "was Ayr mit seiner stoischen Gestalt des alternden Trucker im Zentrum erschafft, ist weit mehr als feingetunter Realismus mit Empathie für die Erniedrigten und Beleidigten dieser Welt. Ayr evoziert Stimmungen und Atmosphäre; das fahle Licht eines Wintermorgens über den unwirtlichen Ecken eines Lkw-Parkplatzes schlägt da plötzlich um in Poesie; der einsetzende Regen auf der Windschutzscheibe wird zur Metapher von Gefühlen, die in Fluss geraten. Gleichzeitig bleibt die filmische Handlung vollkommen geerdet in der verhältnismäßig engen Wirklichkeit."

Außerdem: Andrey Arnold meldet in der Presse, dass sich die Anzeichen verdichten, dass Amazon das Hollywoodstudio MGM aufkaufen will - eine aus Contentperspektive sehr reizvolle Entscheidung, schließlich kommen somit viele namhafte Franchises und noch viel mehr Klassiker ins eigene Portfolio. Comicautor Jeff Lemire spricht im Tagesspiegel über die Netflix-Verfilmung seiner Vorlage "Sweet Tooth". Tobias Kniebe schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Schauspieler Charles Grodin.

Besprochen werden Pablo Larraíns in Österreich bereits im Kino anlaufender "Ema" ("eine filmische Explosion", schwärmt Jens Balkenborg im Standard), Gaspar Noés auf BluRay veröffentlichter Kunstfilm "Lux Aeterna" ("reichlich komplex", vielleicht aber auch eher "etwas wirr", schreibt Ekkehard Knörer in der taz), Zack Snyders Netflix-Zombiesause "Army of the Dead" (die "Trümmerwelt von Las Vegas" ist ein echter "Augenschmaus", schreibt Dominik Kamalzadeh im Standard) und Joe Wrights Netflix-Thriller "The Woman in the Window" (FR, mehr dazu bereits hier).

Und: Dlf Kultur hat Kirsten Beckens halbstündigen Kunstfilm "Ihre Geister sehen" mit der großartigen Sandra Hüller online gestellt (ein dazu gehörendes Hörspiel gibt es auch):

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Literatur

Binnen weniger Tage hat sich das Gedicht "Shabvahini Ganga" (hier eine englische Übersetzung) der bis dahin wenig bekannten Lyrikerin Parul Khakkar in ihrem Heimatland Indien zum Politikum ausgeweitet: Ein Klagelied über die indische Coronakatastrophe, das ihrer Autorin binnen kürzester Zeit den Ruf einer "Volksverräterin" und jede Menge Unflat eingekaufter Troll-Armeen eingebracht hat, schreiben die Ethnologin Shalini Randeria und der Schriftsteller Ilija Trojanow in der FAZ. "Das Bild vom Ganges voller Leichen hat für Hindus eine enorme Wirkkraft, weil es die Allgegenwart des Todes verknüpft mit religiösen Vorstellungen von Reinigung und Wiedergeburt. Die Mutter Ganges bleibt eine heilende, heilige Quelle. Wenn sie nun zur Trägerin des Todes wird, ist alle Hoffnung verloren. ... Auch wenn dieses Gedicht eine teils religiöse Metaphorik aufgreift und in seinem Rhythmus die Form des Klagelieds (Marasiya) nachahmt, ist es zugleich konkret und für jeden in Indien auch in seinen politischen Anspielungen klar zu verstehen. Ram Rajya (das 'heilige Reich') ist seit Jahrzehnten ein Kampfbegriff des Premierministers Narendra Modi, das Versprechen einer Utopie, einer vollkommenen Regierung, einer harmonischen Verwaltung. Stattdessen haben sich seit Modis Amtsantritt Armut und Misswirtschaft verstärkt."

Außerdem: Arno Widmann (FR), Jan Wiele (FAZ), Armin Roucka (NZZ) und Elmar Krekeler (Welt) erinnern an den vor 100 Jahren geborenen Dichter Wolfgang Borchert.

Besprochen werden unter anderem John Wrays "Madrigal" (Standard), Judith Vanistendaels Comic "Penelopes zwei Leben" (Tagesspiegel), Stefan Bollmanns "Der Atem der Welt. Johann Wolfgang Goethe und die Erfahrung der Natur" (Welt), Anna Baars "Nil" (FR), Mathias Énards "Das Jahresbankett der Totengräber" (SZ) und Audre Lordes Essaysammlung "Sister Outsider" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Dem Impuls Festival für Neue Musik in Sachsen-Anhalt droht das Ende: Das Land hat die Mittel gestrichen. Hartmut Welscher hat für VAN mit dem Intendanten Hans Rotman gesprochen, der sein Festival einem kulturpolitischen Eiertanz zum Opfer fallen sieht. "Erst hieß es, wir seien nicht international genug. Dabei haben wir letztes Jahr sogar unsere Nachwuchsförderung, die immer ein wichtiger Bestandteil des Festivals war, um einen internationalen Horizont erweitert. ... Jetzt heißt es plötzlich, wir seien nicht regional genug. Auf einmal darf alles nur 'Sachsen-Anhalt' sein. Uns wird vorgeworfen, nicht genug für Komponistinnen und Komponisten aus Sachsen-Anhalt zu tun, was natürlich auch Wahlkampfgetöse ist. Du kannst für Komponist:innen nur attraktiv werden, wenn du europäische Perspektiven aufzeigst, wenn jemand weiß, dass wenn er in Halle aufgeführt wird, sich auch die Chance eröffnet, in Utrecht oder Siena gespielt zu werden. Gerade diese Öffnung haben wir jetzt. Und gerade jetzt sagen sie, wir müssten regionaler werden."

Im großen Zeit-Gespräch mit Martin Eimermacher und Lars Weisbrod über Hatespeech und Kunstfreiheit erklären die Rapper von K.I.Z., warum sie beleidigt sind, wenn Jan Böhmermann in ihrer Gegenwart das "N-Wort" nutzt, antisemitische Textzeilen in ihren Raps aber okay sind. Und die Kritik an Hatespeech überhaupt recht verwirrend ist. Dazu Maxim: "Emanzipation im Rap heißt, dass Frauen jetzt den gleichen Schmutz machen. Der Typ soll einen donkey dick haben und bloß nicht pleite sein und so. Da funktioniert die Herabsetzung schon prima gleichberechtigt. Bloß dass viele plötzlich applaudieren, wenn das von Frauen kommt. Das fällt mir auch bei uns auf: Es wird ab und zu mal eine sexistische Zeile kritisiert, aber dass unser Gesamtwerk einfach komplett menschenverachtend ist, stört eigentlich keinen. Offenbart das nicht schon das Problem?"

Lars Fleischmann hört sich für die taz durch das neue Album "Black to the Future" des Londoner Jazzprojekts Sons of Kemet rund um den Saxofonisten Shabaka Hutchings. Der "ist kein Dröhner, kein romantischer Tonverlängerer und auch kein effektreicher Fummler, er ist die zu Fleisch gewordene Kaskade. Stakkato-Wasserfälle, die minutenlang mehr Rhythmus als Melodie sind, gelten als sein Markenzeichen: Bisweilen wird aus dem Blechkorpus einfach Heavy Metal geblasen." Und "Statt im Hier und Jetzt zu verweilen, wenn die Situation unerträglich erscheint, gewähren Sons of Kemet lieber einen utopischem Ausblick: Schwarz geht es in die Zukunft - ganze vorne mit dabei: König Shabaka I."



Außerdem: In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen widmet sich Arno Lücker Elizabeth Maconchy. Schade findet es Daniel Gerhardt auf ZeitOnline, dass der isländische Musiker Daði Freyr wegen eines Coronafalls beim ESC-Halbfinale (ein Resümee in der FAZ) nun doch nicht live auftreten konnte: Erwartet hätte uns "ein TikTok-kompatibler Ententanz". Wir trösten uns über diese verpasste Chance mit diesem Un- und Irrsinn dieses Videos:



Besprochen wird das neue Album der Black Keyes (Tagesspiegel).
Archiv: Musik