Efeu - Die Kulturrundschau

Schier schwerelos

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.04.2021. Ein gläsernes Wunder! Die Journalisten feiert unisono die grundsanierte Neue Nationalgalerie Mies van der Rohes und den für die Renovierung verantwortlichen Architekten David Chipperfield. Das Van Magazin blickt traurig auf den Verkauf der Villa Henze. Experimentalfilme über die Coronakrise sah die taz bei den Kurzfilmtagen Oberhausen. Wie erkennt man eigentlich einen Maler, eine Malerin, wenn sie nicht lauthals "hier, ich, Maler!" rufen, fragt sich die Welt am Beispiel der Mathilde Tardif. In der FAZ behauptet Christoph Nix: Die meisten deutschen Intendanten sind viel besser als ihr Ruf.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.04.2021 finden Sie hier

Architektur

Die prachtvolle renovierte Neue Nationalgalerie. Foto: BBR / Thomas Bruns


Heute werden die Schlüssel zur grundrenovierten Neue Nationalgalerie übergeben! Aber die Journalisten durften schon mal einen Rundgang machen. Das Ergebnis versöhnt sie fast mit dem notorisch unfähigen Berlin: "Zum zweiten Mal ist ein Meisterwerk entstanden. Jetzt hat man den Eindruck, die große Halle wirke noch lichter, schier schwerelos, während die Ausstellungsräume im Untergeschoss mit ihrem Teppichboden großzügiger erscheinen als je zuvor. Nach all den Museumskrächen und Pannen der letzten Zeit fühlt sich der Besuch in dieser Leere und Stille wie eine Erholung an, wie die Rückkehr in einer klarere Zukunft", freut sich Rüdiger Schaper im Tagesspiegel. Die Neue Nationalgalerie ist die "letzte wahre Erscheinung dieser Idee eines fließenden Raums, in dem das Glas eigentlich gar nichts tut und trotzdem die Hauptrolle spielt", schreibt Sabine Fischer in einem sehr schönen Text in der NZZ über die Entstehung des Museums und Glas als Baustoff.

Großes Lob gibt's in der FAZ für die Renovierungskunst von David Chipperfield, mit dem sich Niklas Maak unterhalten hat: Chipperfield ging "an die Sanierung des Baus, wie man an eine barocke Kirche herangeht: Er ließ 30 000 Teile, die so zu großen Teilen heute gar nicht mehr hergestellt werden, herausnehmen, überarbeiten und wieder einbauen, an der Stahlkonstruktion allein wurden fünftausend Schweißnähte saniert, 196 Deckengitter und 2500 Quadratmeter Natursteinplatten abgenommen und gereinigt, 1600 Quadratmeter neues Glas verbaut. So wirkt der Bau jetzt auf eine gelungene Art wie neu - und doch wie von 1968." Dass er gar nicht so hochtechnologisch war, wie er aussieht, verrät der Architekt in einem Interview mit dem Tagesspiegel: Es war "für uns erstaunlich zu entdecken, wie viel immer noch von Hand gemacht war. Einzelne Holzteile waren mit Draht zusammengefügt, auf den Balken entdeckten wir mit dem Bleistift notierte Instruktionen." Ein weiteres Interview mit Chipperfield gibt es in der NZZ. Niklaus Bernau schreibt in der Berliner Zeitung.

Eastern Blocks, dokumentiert von Zupagrafika


In der FAZ stellt Kevin Hanschke das polnisch-spanische Duo Zupagrafika vor. Die beiden dokumentieren das brutalistische Bauerbe Osteuropas, zuletzt mit einem Bildband über die sowjetischen "Monotowns", mit dem Sammelband "Eastern Blocks" zu Plattenbautypen und mit einem Bastelset zu sibirischen Architekturentwürfen entwickelt. Mit ihren Plakatgrafiken sind sie in verschiedenen Ländern ausgezeichnet worden, unter anderem bei der internationalen Posterbiennale in Warschau. "Sobecka und Navarro erzählen begeistert davon, dass es ihnen vorrangig um den Erhalt der Gebäude und die Dokumentation des sowjetischen Architekturerbes gehe: 'Viele dieser Strukturen reflektieren die Träume und Ideale einer kontroversen Zeit. Mit Zupagrafika wollen wir dazu beitragen, die architektonische Geschichte und Identität der mittel- und osteuropäischen Staaten und deren Utopien ins kollektive Gedächtnis zu holen', berichtet Sobecka."

Weitere Artikel: Im Standard freut sich Katharina Rustler, dass in Wien die brutalistische Wotrubakirche wieder zugänglich ist, deren Entstehungsgeschichte sie erzählt. In der Welt wütet Dankwart Guratzsch mal wieder ganzseitig gegen die Architekturmoderne.
Archiv: Architektur

Film

Szene aus Arden Rod Condez' Film "Random People"


Die Kurzfilmtage Oberhausen finden in diesem Jahr erneut online statt. Und seit dem letzten Jahr konnten die Experimental- und Kurzfilmmacher auf die Coronakrise reagieren, schreibt Fabian Tietke in der taz. "Gegenüber den nervigen Tagebuchfilmen aus den diversen Lockdowns, an denen sich einige Filmemacher letztes Jahr versuchten, ist ein erster Schritt gemacht. Der philippinische Regisseur Arden Rod Condez hat unterdessen die allgegenwärtige Distanzierung eingefangen, indem er zehn Paare aus seiner Heimatstadt mit der Kamera porträtiert. Herausgekommen ist eine Collage der Intimität und Vertrautheit, die das Gegenbild bildet zur erzwungenen Distanziertheit außerhalb des eigenen Umfelds." Doch zeigt sich auch "wie lokal der filmische Blick auf die Pandemie bislang noch ist. So lokal, dass man plötzlich Angst hat, demnächst im schlimmsten Fall eine fiktionalisierte Version der Ministerpräsidentenkonferenz im Fernsehen erdulden zu müssen."

Eine kleine Kuriosität meldet Kathleen Hildebrand in der SZ: Das Meta-Filmkritikportal Rottentomatoes hat eine Archivkritik zu "Citizen Kane" aus dem Jahr 1941 ausgebuddelt - und zwar einen Verriss, der die makellosen 100 Prozent der ansonsten durchweg positiven Besprechungen jetzt nach unten reißt: "Ausgerechnet der für viele beste Film aller Zeiten ist nicht mehr Mitglied im Klub der 100er. Filme wie 'Before Sunrise', 'Toy Story', 'Der Terminator' und 'Paddington 2' sind nun nach dem Standard des Kritikenaggregators die 'besseren' Filme." Ups.

Weitere Artikel: Als Indoor-Kinoveranstaltung ist die Sommer-Ausgabe der Berlinale vom Tisch, hat Christiane Peitz vom Tagesspiegel herausgefunden: Nun bemühen sich die Verantwortlichen wenigstens noch um eine Open-Air-Ausgabe. Dunja Bialas resümiert für Artechock das 52. Dokumentarfilmfestival von Nyon.

Besprochen werden neue Filme über Billie Holiday (NZZ) und der Netflix-Horrorthriller "Things Heard & Seen" (taz).
Archiv: Film

Literatur

In der SZ schreiben Nils Minkmar (hier) und Gerhard Steidl (dort) Nachrufe auf Ute Grass. Österreich hat das Verfahren gegen Peter Handke zur Aberkennung der Staatsbürgerschaft eingestellt, meldet der Standard. Roman A. Seebeck schreibt für 54books einen Longread über Leben und Werk des Schriftstellers Yukio Mishima

Besprochen werden unter anderem Yannick Lahens' "Sanfte Debakel" ("ein vielstimmiger Gesang aus Furcht, Trauer und Sehnsucht", schreibt Perlentaucherin Thekla Dannenberg), Judith Hermanns "Daheim" (Freitag, Welt, SZ), John Wrays "Madrigal" (ZeitOnline), der von Anna Bers herausgegebene Band "Frauen/Lyrik - Gedichte in deutscher Sprache" (FR), S. A. Cosbys Thriller "Blacktop Wasteland" (FR) und die Werkausgabe Thomas Kling (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Mathilde Tardif | ohne Titel (Die Geistlichkeit), 1902. Privatbesitz


In der Welt freut sich Hans-Joachim Müller, wie viele vergessene Malerinnen in der jüngsten Zeit neu entdeckt wurden. Manchmal ist das gar nicht so leicht, erklärt er mit Blick auf die ganz und gar unbekannte und immer noch geheimnisvolle Mathilde Tardif. "Denn vermutlich hat die Malerin nie gesagt: Hallo, alle mal herhören, ich, hier, die Malerin! Nur, wie erkennt man eine Malerin, wenn sie nicht lauthals ich und hier sagt und lauthals sagt, dass sie Malerin ist?" Passenderweise werden ihre Bilder jetzt im "Verborgenen Museum" ausgestellt, "dem versteckten Frauenhaus der Künste in Berlin-Charlottenburg. Ein bisschen kommt einem die Reanimation des unbekannten Werks vor wie die Wiedergewinnung genetischen Materials aus einer Mammut-Ausgrabung. Und auf wahrhaft bedenkliche, geradezu bestürzende Weise fällt die Aufnahme einer Künstlerin in den Kanon zusammen mit der Erstpräsentation ihrer Bilder nach hundert Jahren. Vielleicht ist es keine großmeisterliche Kunst, die da entdeckt wird. Nicht das, was einen staunend in die Knie zwingen würde. Man braucht sich auch nicht gleich schuldig zu fühlen, den Namen Tardif noch nie gehört zu haben. Aber man möchte schon gerne wissen, was es in Wahrheit war, was die Malerin so betriebsfern, betriebsunfähig gemacht hat."

Weiteres: In der NZZ stellt Philipp Meier die zwei Kandidaten für die neue Leitung des Kunsthauses Zürich vor. Im Standard überlegt Stephan Hilpold, welche Aufgaben auf Lilli Hollein, die neue Leiterin des Wiener MAK zukommen. In der FAZ gratuliert Stefan Trinks dem Maler Frank Auerbach zum Neunzigsten.

Besprochen werden eine virtuelle Ausstellung des Frontfotografen Valery Faminsky aus "Berlin Mai 1945" in der Galerie Buchkunst Berlin (taz), die Ausstellung "Tree and Soil" von Antoinette de Jong und Robert Knoth im Museum Kulturspeicher Würzburg (taz) und die Installation "Life" von Ólafur Elíasson in der Fondation Beyeler (Zeit).
Archiv: Kunst

Bühne

Die meisten Intendanten sind viel besser als ihr derzeitiger Ruf, bescheinigt Christoph Nix in der FAZ sich und seinen Kollegen. Übergriffe gibt es und sie müssten aufgeklärt werden, aber die Intendantenschelte, die derzeit an deutschen Theatern en vogue ist, findet er reichlich übertrieben. Schutzrechte hätten Schauspieler durchaus: "Es ist falsch, wenn behauptet wird, der Normalvertrag Bühne sei eine Einladung zur Verängstigung und Unterdrückung Abhängiger, denn auch dieser Tarifvertrag, selbst wenn er sich unterscheidet von den Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes, bietet Schutz im Alltag. Selbst wenn Verträge aus 'künstlerischen Gründen' nicht verlängert werden, so bedarf dies einer Begründung. ... In deutschen Staats- und Stadttheatern ist der überwiegende Teil der Beschäftigten ohnehin nach dem TVÖD angestellt, genießen Chor- und Orchestermusiker einen umfassenden Kündigungsschutz, bestehen neben den Personal- und Betriebsräten auch die künstlerischen Vorstände der Opernsolisten, der Tänzer und Schauspieler. ... Die Frage ist: Werden die Rechte genutzt, und warum funktionieren in einigen Theatern diese Mechanismen offensichtlich nicht?

Besprochen wird die Zoom-Uraufführung von Michel Decars Monolog "Rex Osterwald" durch David Moser am Residenztheater München (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Musik

Hartmut Welscher erkundigt sich für VAN - das Klassikmagazin hat sich übrigens einen Relaunch der Seite gegönnt - bei Michael Kerstan nach dem Stand der Dinge beim Verkauf der Villa des Komponisten Hans Werner Henze. Die Henze-Stiftung musste sie mangels finanzieller Mittel zum Unterhalt abtreten. Immerhin, seufzt Kerstan, will der Käufer "das Haus auch für kulturelle Veranstaltungen öffnen. Das Arbeitszimmer von Hans Werner Henze möchte er zu einem kleinen Museum umgestalten und das Wohnzimmer, ein Salon mit 120 Quadratmetern, für Konzerte nutzen, auch für unsere Stiftung. Immerhin ist dann noch ein bisschen von dem, was Henze sich gewünscht hat, übrig. ... Seine Stiftung soll sich laut Satzung der Förderung junger Komponistinnen und Komponisten und der Sicherung und Verbreitung seines Werks widmen. Henze schwebte eine kleine Villa Massimo vor. Das war vielleicht ein bisschen blauäugig, aber es war sein Traum."

Hier ein Interview mit Henze aus dem Jahr 2011, das auch Blicke in seine wirklich sehr schöne Villa bietet:



Weitere Artikel: Für VAN spricht Hartmut Welscher außerdem mit dem Pianisten Martin Helmchen. In der FAZ gratuliert Jan Brachmann dem FAZ-Musikkritiker Max Nyffeler zum 80. Geburtstag. Besprochen werden Damon Locks "Now" (FR) und das neue Haftbefehl-Album (Freitag).
Archiv: Musik