Efeu - Die Kulturrundschau

Auch Blau und Grün

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21.04.2021. Die SZ sieht bei Tizian, dass dem Barock weibliche Haut erst dann erotisch erschien, wenn ihrer Farbe ein Hauch von Tod  beigemischt wurde. Die FR erlebt bei Pauline Curnier Jardin europäische Zivilisation als Höllenspektakel. Die FAZ erschrickt über das Arsenal der Misogynie bei Botho Strauß. In der Welt spricht der Filmemacher Alexander Nanau über Korruption in Rumänien. Glanz und Elend seziert den Wahrheitsbegriff von Mads Brüggers Nordkorea-Film "Der Maulwurf". Und der Tagesspiegel meldet begeistert neues Liedgut von den Rolling Stones.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.04.2021 finden Sie hier

Kunst

Tizian: Raub der Europa, 1562. Bild: Isabella Stewart Gardner Museum

In der Schau "Mythologische Leidenschaften" zeigt der Prado in Madrid Werke der großen Barock-Maler von Veronese über Rubens bis Velázquez, im Mittelpunkt aber stehen die sechs Gemälde, die Tizian von 1553 bis 1562 für den spanischen Thronfolger und späteren König Felipe II. gemalt hat. In der SZ ist Karin Janker überwältigt von der Schau, die sehr deutlich macht, dass die Erotik im Barock eine von Macht und Missbrauch war. Und dennoch: "In der Geschichte der westlichen Kunst gab es wenige Maler, die derart besessen waren von der Idee, Haut lebensecht darzustellen, wie der Venezianer Tizian. Zu seiner Zeit kursierten diverse Rezepturen, wie Inkarnat, die Fleischfarbe, herzustellen sei: Malern wurde geraten, nicht nur Rot und Weiß sowie Ocker und Braun zu mischen, sondern auch Blau und Grün als Untertöne aufzutragen. So lauert im Lebendigen immer auch das Tote, Verwesende. In seinem Spätwerk vervollkommnete Tizian die Darstellung des Fleisches."

Pauline Curnier Jardin: Fat to Ashes, 2019, Filmstill. Bild: Hamburger Bahnhof

Die französische Künstlerin Pauline Curnier Jardin revanchiert sich für den Preis der Nationalgalerie 2019 mit einer kolossalen Video-Instellation, freut sich Ingeborg Ruthe in der FR, die uns "Fat to Ashes" als Erzählkino über Europas zwei Jahrtausende alte europäische Zivilisation nahebringt: "Höllenlärm hallt durch die große Halle des Museums Hamburger Bahnhof in Berlin. Trommeln, Glocken, Orgelbässe, verzückte Schreie von in Weiß und Rot gekleideten Teilnehmern einer Prozession dringen aus einer Arena. Auf der riesigen Leinwand dieses Colosseums, das einem Zirkuszelt gleicht, wird die frühchristliche Märtyrerin Agatha als mit Preziosen übersäte Holzfigur durch die Straßen der sizilianischen Hafenstadt Catania am Fuße des Vulkans Ätna getragen... Dann folgen derbdrollige Szenen vom Kölner Karneval und von einem archaischen Schlachtfest auf einem italienischen Bergbauernhof. Zuletzt verknoten sich in immer härteren Schnitten und in einem irren Rhythmus die Szenen. Diesen grotesk verwickelten und verwursteten Körpern und Dingen kann man kaum noch folgen: Alles mündet in schwer erträglicher Ekstase, wird Fleisch, Haut, Fett, Blut, Gedärm und Wachs."

Besprochen werden die Schau der Schweizer Künstlerin Pamela Rosenkranz im Kunsthaus Bregenz (Standard), die Ausstellung des amerikanischen Künstlers Matthew Lutz-Kinoy im Salon Berlin (Monopol) und die Filme des Künstlerduos Nina Fischer und Maroan el Sani im Berliner Haus am Waldsee (Monopol).
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Bühne

Im NZZ-Interview mit Marco Frei zeigt sich Münchens Opernintendant Nikolaus Bachler wie immer recht angriffslustig: "Wir leben in einer verwöhnten Gesellschaft, und das seit langer Zeit. Jede Verwöhnung macht bequem und zu einem gewissen Grad auch feige ... In weiten Teilen des Theaterlebens scheint man das anders zu sehen, das habe auch ich feststellen müssen. Um zum 'Gesäusel' zurückzukommen: Eine Krise ist auch immer eine Chance. Ich fürchte nur, und das ist jetzt eine gefährliche Aussage, dass diese Krise fast zu klein ist für eine wirkliche Veränderung. Im Moment beobachte ich, dass alle darauf warten, dieses 'weiße Jahr' - 'année blanche', wie die Franzosen sagen - zu vergessen. Ich wäre aber sehr froh, wenn es irgendetwas bewegen würde: uns wacher und bewusster machte."

In der taz spricht Simone Kämpf mit den beiden Dramatikerinnen Maria Milisavljević und Maxi Obexer über die von ihnen gegründeten Netzwerke und schwindende Anerkennung der Dramatik. Obexer etwa meint: "Tatsächlich ist es so, dass Autor:innen zuletzt nicht sehr präsent waren. Ich bin davon überzeugt, dass wir die Bedeutung der Kunst wieder in den Vordergrund rücken können und nicht nur darum betteln müssen, wir können wieder Ebenbürtigkeit erlangen. Wir sind Meister:innen der Gegenwart, die Zeit muss von uns behandelt werden und nicht von einem Boccaccio, mit dem die Theater vor einem Jahr die Pandemie erklären wollten."

Weiteres: In der taz informiert auch Katrin Bettina Müller über die Debatte um Rassismus-Vorwürfe am Düsseldorfer Schauspielhaus auf (unser Resümee).

Besprochen werden Kirill Serebrennikows von Moskau aus inszenierter "Parsifal" an der Wiener Staatsoper ("Das sieht alles stylish aus, rätselt wenig und rührt keine Sekunde, murrt Manuel Brug in der Welt, in der SZ sieht Reinhard Brembeck dagegen Serebrennikows "Parsifal" von Frauenfeindlichkeit und Erotikverachtung befreit, NMZ) und Deborah Warners Inszenierung von Benjamin Brittens Oper "Peter Grimes" am Teatro Real (exzellent, findet Hans-Christian Rößler in der FAZ)
Archiv: Bühne

Literatur

In einem Beitrag für einen neuen Band über Ernst Jünger kloppt Botho Strauß nicht nur in einem Handstreich mal eben die ganze deutsche Nachkriegsliteratur in die Tonne, sondern gießt auch Altherrenhäme über eine "Jugendgeliebte" aus, die es gewagt hatte, Jünger zu kritisieren, ärgert sich Julia Encke in einem online nachgereichten FAS-Artikel: Strauß "drängte es offenbar, das ganze Arsenal der Misogynie neu aufzufahren, für uns, im Jahr 2021, an seinem ganz eigenen ewigen Stammtisch."

In der FAZ erinnert der Schriftsteller Matthias Jügler an den DDR-Schriftsteller Jürgen Fuchs und das Unrecht und die Gewalt, die ihm erst im Stasi-Gefängnis in der DDR und schließlich auch nach seiner Ausbürgerung in Westberlin angetan wurde - bis hin zu einer heimlichen Verstrahlung, die seinen Blutkrebs in den Neunzigern ausgelöst haben soll, reichen die Vorwürfe. "Fuchs' Vergehen in den Augen der Diktatur: Er schrieb und nahm dabei kein Blatt vor den Mund. Die Stasi nannte seine Texte Staatsverleumdung - Grund genug für Haft", die über neun Monate ging. "Er überstand viel in diesen neun Monaten: tägliche Verhöre, mal sechs, mal zehn Stunden lang, dass sie ihn anschrien, dass sie ihm drohten, all die Lügen: dass seine Eltern jetzt auch verhaftet seien, seinetwegen. Seine Freunde verhaftet, seinetwegen." Doch Fuchs schwieg "beharrlich und ließ sich nicht erpressen".

Außerdem: In der Welt protestiert Janika Gelinek vom Literaturhaus Berlin gegen das neue Infektionsschutzgesetz, das alle Pläne, ab Mai zumindest den Garten des Hauses für Open-Air-Veranstaltungen mit Publikum öffnen zu können, zunichte macht. Lena Schneider wirft für den Tagesspiegel einen Blick ins Programm des Literaturfestivals Potsdam, das ab 1. Juni mit Publikum stattfinden soll. Georg M. Oswald (Welt) und Andrian Kreye (SZ) schreiben Nachrufe auf den Schriftsteller Sven Lager.

Besprochen werden unter anderem Monique Lévi-Strauss' Erinnerungsbuch "Im Rachen des Wolfes" (Tagesspiegel), Sasha Filipenkos "Der ehemalige Sohn" (taz), Sarah Raichs Erzählungsband "Dieses makellose Blau" (FR), Yishai Sarids "Siegerin" (Tagesspiegel), Maxim Ossipows "Kilometer 101" (Standard), Shida Bazyars "Drei Kameradinnen" (SZ) und zwei Biografien über Philip Roth (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Noch ein Dokumentarfilm, der zu "wahr" ist, um wahr zu sein? Wolfram Schütte hat bei glanzundelend.de erhebliche Zweifel an dem Mads Brüggers Film "Der Maulwurf", der zeigt, wie ein ehemaliger Koch und ein ehemaliger Drogendealer Nordkorea in Waffengeschäfte verwickeln. Der Film ist in der ZDF-Mediathek zu sehen. Verdächtig ist Schütte die stets anwesende Kamera, die selbst geheimste Gespräche mit aufzeichnet: "das wahrhaft Geniale der drei dänischen Humoristen besteht darin, dass ihr 'Maulwurf' einerseits seine faktische Bezweifelbarkeit jeweils umbiegt in die schlüssig erscheinende Anmutung von wahnwitziger Wahrheit, andererseits durch seine Form der Film sich jedem Kenner als Fälschung zu erkennen gibt & der Regisseur mit seinen Hints auf dieses subkutane  'Lesemodell' verweist. Um hoch zu greifen: der Satiriker Mads Brügger hat damit sein 'Gullivers Travel' vorgelegt."

Für die Welt spricht Hanns-Georg Rodek mit dem Filmemacher Alexander Nanau, der sich mit seinem investigativen Dokumentarfilm "Kollektiv - Korruption tötet" über den korrupten Filz zwischen der rumänischen Politik und dem Gesundheitssystem (mehr dazu bereits hier, noch fünf Tage steht der Film in der Mediathek) Hoffnungen auf einen Oscar machen kann. In seinem Land hat der Film einen Schub der Empörung nach sich gezogen, erzählt er: "Viele Menschen haben ihn gesehen, vor allem junge Zuschauer zwischen 16 und 30. Es ist die Generation, die Antworten braucht: Bleibe ich? Gehe ich? Spannend auch, was uns Journalisten über die Zahl der Whistleblower erzählt haben. Als der Film herauskam, ist die Zahl der Leute explodiert, die auf sie zukamen. ... Es gab eine große Kluft des Misstrauens zwischen der Presse und der Bevölkerung. 50 Jahre Diktatur hatten die Kultur des Journalismus zerstört."

Außerdem: In der taz empfiehlt Fabian Tietke Filme aus der Online-Ausgabe des Arabischen Filmfestivals in Berlin. In der FAZ gratuliert Dietmar Dath Jean-Pierre Dardenne zum 70. Geburtstag. Im Filmdienst erinnert Karsten Munt anlässlich des 100. Geburtstags an den italienischen Regisseur Sergio Sollima, der im Zweiten Weltkrieg gegen die Faschisten kämpfte und später politische Genrefilme drehte. Und eine traurige Nachricht übermittelt Variety: Der US-Autorenfimer Monte Hellman ist gestorben - aus seinem Facebook-Profil ist ein wahres Kondolenzbuch geworden.

Besprochen werden Thomas Vinterbergs "Der Rausch" (ZeitOnline), Aaron Sorkins für die Oscars nominiertes Gerichtsdrama "The Trial of the Chicago 7" (Tagesspiegel), Michael Matthews' "Love and Monsters" (Presse, mehr dazu bereits hier) und die True-Crime-Serie "Confronting a Serial Killer" (taz).
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Musik

Via Youtube und einem japanischen Bootleglabel sind etwa 50 bislang unbekannte Rolling-Stones-Songs und -Studioversionen veröffentlicht worden, meldet ein ziemlich begeisterter Christian Schröder im Tagesspiegel. Klanglich ist das von regulären Studioveröffentlichungen alles nicht weit weg, meint er. "Es ist Ausschuss, der es bei anderen Rockbands in die Best-of-Auswahl gebracht hätte. ... Neu schreiben muss man die Geschichte der Stones jetzt nicht. Aber die 'Fully Finished Studio Outtakes' enthalten einige der schönsten Fußnoten ihrer Karriere." Hier der erste Teil der von einem spanischen Youtuber präsentierten Songs (hier Teil zwei und dort Teil drei)



Außerdem: Joachim Hentschel schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Rock- und Popkomponisten Jim Steinman.

Besprochen werden ein Konzert des Ensembles Modern mit Kompositionen von Alva Noto (FR), ein neues Album des Schweizer Mundart-Rappers Milchmaa (NZZ), ein neues Album von Todd Snider (FR) und neue Popveröffentlichungen, darunter die EP "What's Going On" von Hannah Jadagu (SZ). Wir hören rein:

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