Efeu - Die Kulturrundschau

Nur knisternde Freude

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.04.2021. Die NZZ schwelgt im Kunstmuseum Basel in der geometrischen Poesie der Künstlerin Sophie Taeuber-Arp. Im Standard erzählt Franz Schuh sehr Wienerisch von seinen irrealen, aber sehr lebendigen Erfahrungen auf der Intensivstation. Die SZ besucht den Siwilai Sound Club in Bangkok. Die taz sorgt sich um die Zukunft des Hamburger Bahnhofs. Außerdem stellt sie fest, dass mit der Balaklava die Mode jetzt auf Fantasy-Eskapismus setzt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.04.2021 finden Sie hier

Design

Das Balaklava - oder etwas weniger glamourös: die Strick-Sturmhaube - ist wieder da, schreibt Donna Schons in der taz. Neu ist aber, dass die Entwürfe farbenfroh sind und mit Elementen von Fantasy und Science-Fiction spielen: Mit diesen "Fantasy-Eskapismus" lassen zahlreiche Designer den eher militärischen Look der letzten Jahre hinter sich. Jetzt, "da sich der öffentliche Raum mehr denn je nach einer Gefahrenzone anfühlt, wird die Kleidung erneut zum Schutzschild, verabschiedet sich jedoch von der dystopischen Rigidität der Uniform und bettet Funktionalität stattdessen in bunte, traumartige Designs. ... Besonders gut gelingt die märchenhafte Outerwear auch Miuccia Prada", aus deren "Kollektion eine Lust spricht, sich endlich wieder hinauszuwagen, umhüllt von Kleidung, die zugleich schützt und Blicke auf sich zieht." Und "ähnlich wie die Surrealisten vor genau einem Jahrhundert verbergen zeitgenössische Designer*innen das menschliche Gesicht und schwelgen in der Maskierung."



Besprochen wird das Buch "Own It. The Secret of Life" der Designerin Diane von Furstenberg (taz).
Archiv: Design
Stichwörter: Designerinnen, Stricken, Fantasy

Literatur

Der österreichische Essayist Franz Schuh verbrachte das letzte Jahr im Krankenhaus auf der Intensivstation. Dem Standard gewährt er nun ein nachdenkliches wie gewitztes, auf jeden Fall sehr Wienerisches Interview: "Mir fällt Adorno ein, der gesagt hat: Der Tod, das ist die Verwesung unter der Erde. Der Tod ist nichts, das man auf einer Intensivstation wirklich intensiv erlebt. Die Wahrnehmung ist so weit entfernt von der Normalität, dass das Interesse, das der Tod für einen hat, gar nicht erwidert werden kann. Was auf der Intensivstation lebendig wird, ist, hervorgerufen durch Opiate, eine unglaubliche Fantasie. Es wird eine Lebendigkeit erzeugt, die dir wie ein Mythos eine Geschichte erzählt, bei der der Tod nicht vorkommt, aber Bilder eines nicht gelebten, nicht lebbaren Lebens."

Weiteres: Die Wiener Übersetzerin Daphne Nechyba spricht im Standard über Herausforderungen beim Übersetzen schwarzer Lebensrealitäten. Im Gespräch mit dem Freitag plädiert die Literaturwissenschaftlerin Katrin Richter für mehr Anerkennung für Kinder- und Jugendbücher aus der DDR. Helmuth Mojem und Sandra Richter vom Deutschen Literaturarchiv Marbach erklären in der FAZ, was es mit dem Schillerbrief aus dem Jahr 1790 auf sich hat, den sie vor kurzem erworben haben.

Besprochen werden unter anderem Juli Zehs "Über Menschen" (Freitag), Yulia Marfutovas Debütroman "Der Himmel vor hundert Jahren" (Tagesspiegel), Ljudmila Ulitzkajas "Eine Seuche in der Stadt" (Standard), Matthias Jüglers "Die Verlassenen" (Tagesspiegel), Eva Munz' Thriller "Oder sind es Sterne" (Freitag), Olga Flors "Morituri" (Standard), Benjamin Adams und Thomas Cadènes Comic-Dystopie "Soon" (Tagesspiegel), Malu Halasas "Mutter aller Schweine" (online nachgereicht von der FAZ), Joseph Andras' "Kanaky" (Dlf Kultur), die von Helmut Bachmaier herausgegebene Anthologie "Zurücktreten aus der Erscheinung" mit Gedichten über das Alter (online nachgereicht von der FAZ), Harald Martensteins "Wut" (Standard) und neue Krimis, darunter Simone Buchholz' "River Clyde" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Julia Trompeter über Clemens J. Setz' "Postkarten mit Katzen, die menschliche Berufe haben":

"Es ist sicher nicht schwer
Briefträger zu sein
Ein Hut, eine Umhängetasche mit Briefen
..."
Archiv: Literatur

Kunst

Sophie Taeuber-Arp: Bewegtes Kreisbild, 1934 Kunstmuseum Basel Martin P. Bühler

NZZ
-Kritikerin Maria Becker schwelgt in Farben, Stoffen und Muster in der Ausstellung "Gelebte Abstraktion", mit der das Kunstmuseum Basel Sophie Taeuber-Arp würdigt. Die Schweizer Künstlerin war eine Pionierin der Abstaktion und und des Handwerks, erklärt Becker: "Dabei verbindet sie die Moderne völlig zwanglos mit dem Geist der Tradition: Geometrie und Poesie, spielerisches Ornament und Konstruktion schliessen sich in ihren Arbeiten nicht aus, sondern verschmelzen zu einem persönlichen Stil. 'Nur wenn wir uns dabei in uns selbst vertiefen und versuchen, ganz wahr zu sein, wird es uns gelingen, Dinge von Wert, lebendige Dinge hervorzubringen und so daran zu arbeiten, einen neuen, uns entsprechenden Stil zu bilden', schrieb die Künstlerin 1922 über ihren Unterricht an der Gewerbeschule in Zürich."

Hans-Jürgen Hafner und Kito Nedo blicken in der taz auf die Lage des Hamburger Bahnhofs, der nach dem Abgang von Udo Kittelmann, in Lockdown und Personalnot ein bisschen orientierungslos vor sich hindümpelt. Ungeklärt ist auch die Frage, ob das Museum überhaupt im Gebäude bleiben darf: "Auf taz-Anfrage zum aktuellen Verhandlungsstand erklärt ein Sprecher der Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) erneut, dass die Verhandlungen zwischen der Bundesagentur für Immobilienaufgaben (BIMA) und der Eigentümerin des Hamburger Bahnhofs, der österreichische Immobiliengesellschaft CA Immo 'auf einem guten Weg' seien: 'Wir erwarten eine Entscheidung bis zum Herbst.' Zur Zukunft der Rieckhallen liefen 'ebenfalls Gespräche, deren Ergebnis offen ist'. Das klingt seltsam entspannt. Unterschätzt der Bund womöglich die Dringlichkeit der Lage? Ein Scheitern der Verhandlungen wäre nicht nur ein kulturpolitisches Desaster, sondern brächte ein fast unlösbares Logistikproblem für die Museumsleute mit sich."

Weiteres: In der FAZ staunt Rose-Marie Gropp, in welcher Geschwindigkeit sich der Kunstmarkt auf Online-Auktionen umgestellt hat: "Interessant ist noch, dass sich an der Spitze der Auktions-Zuschläge 2020 zwar die Höhe der Preise verringert hat, kaum aber die Künstler bewegt haben: Laut Artprice führt weiterhin mit deutlichem Abstand, vor drei in Asien hochbegehrten chinesischen Künstlern, Picasso mit einem Umsatz von 245,4 Millionen Dollar." Und auf Hyperallergic ahnt Valentina di Liscia, dass sich der Hype um die NFT-Kunst schon seinem Ende nähert: Vor sechs Wochen lag der Preis für ein NFT-Stück durchschnittlich bei 4.300 Dollar, vorgestern lag er bei 1.400 Dollar.

Besprochen werden eine Schau "Tristes Tropiques" des Fotoreporter Richard Mosse über die Abholzung des Amazonas in der New Yorker Jack-Shainman-Gallery (Guardian), eine Ausstellung mit Enrique Martinez Celayas Kollwitz-Interpretationen in der Berliner Galerie Judin (Tsp), eine Schau mit Beständen der Deutschen Bank im Palais Populaire (Berliner Zeitung).
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Architektur

Jean Nouvel: Tour Duo. Bild: AJN

Mitten in der Pandemie wird Jean Nouvels Hochhausprojekt "Duo" im Südosten von Paris fertig. Nicken sich hier zwei Türme höflich zu oder leistet sich die Architektur hier eine Victory-Geste, fragt Joseph Hanimann in der SZ: "Entgegen den Verheißungen habe der Hochhausbau nie die städtische Zersiedelung aufgehalten, konstatiert der französische Architektur- und Stadtphilosoph Thierry Paquot. Durch die Belüftungs-, Aufzugs-, Heiz- und Kühlungstechnologie seien sie überdies pannenanfällige Konstrukte, ökologisch hochgradiger Unsinn und durch die hohen Betriebskosten ein sozialer Diskriminierungsfaktor. 'Sackgassen nach oben', nannte Paul Virilio die Wolkenkratzer. Der ganze Weltbezug ist in ihnen aufs Visuelle reduziert, kein Geräusch von außen, kein Windzug, nicht die geringste Temperaturschwankung. Und endlos lange Wege in die Rauchpause."
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Bühne

Das Pandemie-bedingte Leben ohne Kultur mag für viele freudlos sein, aber solange es Bücher und Streams gebe, sei das Publikum weit von einem Notstand entfernt, meint Claudius Seidl in der FAS. Im Gegensatz zu den freien KünstlerInnen, denen nicht nur Übung und Applaus fehle: "Im Moment sehen wir das große Löschen. Opernsängerinnen machen den Taxischein, Schauspieler bewerben sich in Impfzentren, Musikerinnen verlieren den Glauben, dass das noch etwas werden könnte mit der Karriere. Und wer nichts anderes kann, als ein Instrument zu spielen oder eine Rolle, kann froh sein, wenn Partner oder Partnerin einen Job hat. Und wenn es ein paar Rücklagen gibt, die eigentlich fürs Alter gedacht waren. Wenn sich also bald wieder die Frage stellt, wann und unter welchen Umständen die Bühnen und Konzertsäle und Galerien wieder öffnen, muss uns, dem Publikum, bewusst sein, dass es hier weniger um unsere kulturellen Bedürfnisse geht. Und viel mehr um die Existenz der Künstler."
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Stichwörter: Seidl, Claudius

Film

Bereits vergangene Woche ist der Münchner Filmkritiker Hans Schifferle gestorben. Michael Althen hat den für seine schwämerischen Texte bekannten Autor einst zur SZ gebracht. Eben dort verabschieden sich Tobias Kniebe und Doris Kuhn mit einem derart leidenschaftlichen Nachruf, dass dem man sich unweigerlich fragt, woran es nun eigentlich lag, dass das Blatt Schifferles Dienste in den letzten zehn Jahren so gut wie gar nicht mehr in Anspruch genommen hat. Sie würdigen einen wahren Cinephagen: "Dass dieses Wissen vor der Leinwand verifiziert, ekstatisch erlebt oder erlitten und sehr lebendig war, konnte man in jedem seiner Filmtexte spüren."

"Das Kino hat mit dem Tod des Münchners einen seiner treuesten Liebhaber verloren", erklärt Daniel Kothenschulte in der FR. "Schifferle schrieb seine besten Texte über das Verkannte im vermeintlich Bekannten: Über Hollywoods Genrefilme und B-Pictures, deren fast vergessenen Nebendarstellerinnen und -darsteller er mit punktgenauen Charakterisierungen lebendig hielt. Was das deutsche Kino betraf, schrieb er über die letzten Mavericks in einem ansonsten von den Vorlieben von Fernsehen und Förderung vernebelten Land." Im Dlf Kultur verabschiedet sich Ulrich Mannes von der Münchner Zeitschrift SigiGoetz-Entertainment von seinem Weggefährten.

Weitere Artikel: Im Dlf-Radioessay denken Markus Metz und George Seeßlen über Kriegsbilder im Kino nach. Das US-Kino entdeckt die Mittellosigkeit, schreibt Daniel-C. Schmidt auf ZeitOnline. Andreas Busche empfiehlt im Tagesspiegel die Otar Iosselani gewidmete Online-Retrospektive des Kinos Arsenal. Im Tagesspiegel gratuliert Markus Ehrenberg Hans W. Geißendörfer zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Ricky Staubs Netflix-Western "Concrete Cowboy" mit Idris Elba (Freitag), Thomas Clays "Die Erlösung der Fanny Lye" (Berliner Zeitung), David Thomsons Buch "Light in the Dark" über die Geschichte der Filmregisseure (FAS), eine Box mit frühen Filmen von George A. Romero (SZ) und die dritte Staffel der ZDF-Serie "Ku'damm" (Freitag).
Archiv: Film

Musik

Beim nächsten Besuch in Bangkok führt am Siwilai Sound Club aber sowas von kein Weg vorbei, nehmen wir aus David Pfeifers SZ-Jazzkolumne mit. Dort gibt es guten Kaffee, eine gute Soundanlage, den Mut zur gedämpften Stille und vor allem (jedenfalls meistens) gut kuratierten Jazz zu hören: "Ein Teil der Magie dieses Ortes darin besteht, dass er nicht nur die Hitze bannt, sondern auch "die Abwesenheit allen Lärms". In der Etage drüber gibt es feinste Musik: "Ojas-Lautsprecher hängen über der Bar, etwa 1000 Schallplatten stehen dahinter. Die Nadel senkt sich mit einem sanften 'Whmpf' in die Rille, spielt eine ganze Seite eines Albums, das halb Jazz, halb Filmmusik ist. Lalo Schifrin, 'Once A Thief', nie zuvor gehört. Das neue Album für den Lebenskatalog, das Singha-Bier und die Komplizenschaft des gemeinsam laut Musikhörens machen den Abend zu mehr als der Summe seiner Teile. Der ganze Raum schwingt. Und danach ist wieder Stille, kaum was zu hören zwischen den Songs. Nur knisternde Freude." Wir freuen uns knisternd mit:



Weitere Artikel: Für ZeitOnline denkt Jonas Lages über den Boom der (von den Musikern oder ihrem Management meist selbst in die Wege geleiteten) Musikdokus, die sich in ihren Formalismen und Standards allerdings so ähnlich sind, "dass man sich anschließend ausreichend geschult in Netflix-Dramaturgie fühlt, um zu glauben, mühelos selbst eine Doku drehen zu können, über eigentlich jede Berufsgruppe und Tätigkeit." SZ-Kritiker Reinhard J. Brembeck liest die Studie des Musikinformationszentrums zum Anteil von Frauen in Orchestern. Johanna Adorján erinnert in der SZ an den Komponisten Johann Schobert. An Josquin Desprez (vor 500 Jahren gestorben) und Michael Praetorius (vor 400 Jahren gestorben) erinnert derweil Manuel Brug in der Welt. Vojin Saša Vukadinović spricht für die Jungle World mit Matthew 'Slim' Moon vom Indierock-Label Kill Rock Stars, das sein 30-jähriges Bestehen feiert. Wolfgang Stähr schreibt in der NZZ zum 50. Todestag von Igor Strawinsky. Stephanie Grimm spricht für die taz mit der in Berlin lebenden, aus Simbabwe stammenden Musikerin Stella Chiweshe, deren Album "Ambuya" von 1987 gerade wiederveröffentlicht wurde. Wir hören rein:



Besprochen werden das neue Album von Mouse on Mars (Jungle World), die Doku "Framing Britney Spears" (FAZ), die Autobiografie des Metalsängers Rob Halford (Zeit) und das neue Album des Prog-Postpunk-Orchesters Godspeed you Black Emperor (ByteFM, Pitchfork). Wir hören rein:

Archiv: Musik