Efeu - Die Kulturrundschau

Im Tiefflug über Paris

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29.03.2021. Die FAZ erschauert unter dem zärtlichen Blick der Malerin Alice Neel. In der FR beschreibt Andreas Rostek, wie ein Dante-Text von Arno Widmann die Gemüter in Italien zum Kochen bringt. Die Welt erlebt das sexsüchtige Juste Milieu in Tobias Kratzers Pariser Inzenierung von Gounods "Faust". ZeitOnline nimmt die Bezahlverfahren der Streamingdienste unter die Lupe, von denen am Ende immer die Stars profitieren.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.03.2021 finden Sie hier

Kunst

Alice Neel: Two Girls, Spanish harlem, 1959. Bild: Metropolitan Museum

Als eine der radikalsten Porträtmalerinnen ihrer Zeit stellt das Metropolitan Museum die kommunistische Künstlerin Alice Neel in der Werkschau "People come first" vor, und doch erzählt Frauke Steffens in der FAZ auch, wie arm Neel Zeit ihres Lebens blieb, sie lebte allein mit ihren zwei Kindern In East Harlem von Sozialhilfe, und noch in den neunziger Jahren erzielten ihre Gemälde höchsten Preise um die zwanzigtausend Dollar: "Tatsächlich widmen sich viele der Bilder den Subjekten mit einem intimen, ja zärtlichen Auge und radikaler Ehrlichkeit... So gelangen Neel Annäherungen an den Körper und nicht selten an das Innenleben und die Kämpfe von Frauen. Ihr Blick ist schwesterlich, und in dieser Perspektive scheint die unbedingte Autonomie der Subjekte durch. Nicht weniger mitfühlend war der Blick der Künstlerin auf Männer - einen Liebhaber porträtierte sie nackt auf dem Bett liegend, und sie ließ ihn dabei so schutzlos wie offen wirken, den anderen zeigte sie beim Pinkeln ins Waschbecken, während sie sich selbst daneben nackt auf der Toilette zeichnete."

Weiteres: In der FAZ besucht Freddy Langer den Fotoreporter Gilles Peress, der sich seinen Auftraggeber gegenüber zu nichts anderem verpflichtet sah, als den Abgabetermin einzuhalten. Im Tagesspiegel widmen sich Birgit Rieger und Joana Nietfeld über den Hype um die auf Kryptowährungen basierende NFT-Kunst, die einen Grafik-Künstler wie Beeple gerade zum drittteuersten Künstler der Welt nach Jeff Koons und David Hockney macht. Besprochen wird eine Ausstellung der Leipziger Künstlerinnen Inga Kerber und Corinne von Lebusa in der Berliner Galerie Jarmuschek + Partner (Tsp).
Archiv: Kunst

Literatur

Arno Widmanns Dante-Text in der FR, in dem er einige Gewissheiten über den italienischen Dichter vorsichtig anzweifelte, schlägt in der italienischen Presse hohe Wellen und auch die italienische Rechte stellt sich wütend auf die Hinterbeine, schreibt der Verleger Andreas Rostek in der FR. Und es geht noch weiter: "Wer weiß, was den sicherlich verdienstvollen Direktor der Uffizien zu Florenz, Eike Schmidt, geritten hat, der den Journalisten und Literaturkritiker Widmann als Egomanen abtut, der für nichts und niemanden spreche. Schmidt äußerte sich noch am Donnerstag gegenüber einem Radiosender. Widmann, ein Egomane? Dieser zurückhaltende Mann mit seinem verschmitzten Lächeln und der überaus höflichen Verbeugung? Die Reaktionen auf den Text Widmanns sind ein Lehrstück der Brandbeschleunigung; es ist eben egal, welchen Stoff der Populismus dafür einsetzen will."

Offenbar hatten die italienischen Medien den Text in einer sehr oberflächlichen Übersetzung vorliegen, berichtet Karen Krüger für die FAZ aus Mailand. Immerhin gebe es in den entsprechenden Kommentarspalten auf Social Media auch besonnene Italiener, die des Deutschen mächtig sind und einiges klarstellen. "Noch mehr Reichweite hatte ein Eintrag des Journalisten Roberto Saviano. Er lobte Widmann als erfahrenen Literaturkritiker. Er spüre nicht einmal den Hauch eines deutschen Angriffs. Was er aber sehe, sei 'die Unfähigkeit, geschriebene Texte zu lesen und zu verstehen'. Das Spiel, so Saviano, sei das übliche: Einige Journalisten und Politiker schürten antideutschen Hass und spielten sich dann auf als Verteidiger der italienischen Kultur."

Weitere Artikel: Kerstin Holm berichtet in der FAZ von ihrer Begegnung mit dem Schriftsteller Maxim Ossipow. Marlene Schachinger (Standard) und Nicole Seifert (Tag und Nacht) schreiben über Virginia Woolf, die vor 80 Jahren gestorben ist. In der Welt trauert Marc Reichwein vor lauter Amazon-Pappkartons der Buchtüte hinterher, aus der er früher seine frisch erstandenen Bücher holte. In den "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Wolf Lepenies daran, wie Victor Hugo im Exil einmal einen Baum pflanzte. Thomas Hummitzsch spricht für Intellectures mit Manfred Allié, der George Orwells Debütroman "Tage in Burma" neu übersetzt hat.

Besprochen werden unter anderem Juli Zehs "Über Menschen" (Standard), Peter Handkes "Mein Tag im anderen Land" (Standard), Christoph Nußbaumeders "Die Unverhofften" (Standard) und der Band "Klasse und Kampf", in dem 14 Autorinnen und Autoren von prekären Lagen erzählen (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Renate Schmidgall über Adam Zagajewskis "Autorenlesung":

"Tzvetan sollte die Lesung moderieren
Charles und ich saßen
in einem kleinen Café, schweigend, nicht frei
..."
Archiv: Literatur

Bühne

Gounods "Faust" an der Pariser Oper. Foto: Monika Rittershaus

Welt
-Kritiker Manuel Brug hat sich durch ein verwaistes Paris geschlagen, um Tobias Kratzers Inszenierung von Charles Gounods "Faust" live mitzuerleben. Auch mit Masken für den Chor und reduzierten Streichern war es ein saftiges Musiktheater, versichert Brug: "Die Inszenierung ist eine kluge, schlanke Aktualisierung der kalorienbombig sahnesüßen Grand Opéra. Sie hält dem sexsüchtig übergriffigen Juste Milieu den Spiegel hin, sie lässt Mephistos Verjüngungstränke mehrmals in der Wirkung schwächeln und jagt doch per Video und Kulissen Faust und seinen höllischen Kumpanen als moderne Murnau-Kreaturen im Tiefflug über Paris, an der brennenden Notre-Dame vorbei und in der Walpurgisnacht zu Pferden über den Place Pigalle."

Als Opernabend ohne Oper empfiehlt Judith von Sternburg den von Christof Loy in Szene gesetzten Tschaikowsky-Liederabend von der Oper Frankfurt, der ihr das Wesen der Oper vor Augen führte: "Es besteht immer auch darin, dass die Gegenwart einer Arie oder Begegnung alles ist, was zählt, das Vergangene ist nicht vergessen, aber zweitrangig, das Kommende ist selten eine Hoffnung, meistens eines Drohung, aber noch ist es ja nicht so weit. Das nach hinten hochbelastete, nach vorne ahnungsvolle Gefühl wird dadurch spektakulär freigelegt, enthüllt und auf den Punkt gebracht, ohne seinen Kontext und seine Komplexität zu verlieren." Auch in der FAZ weiß Jan Brachmann den um Liebe und Sehnsucht kreisenden Abend zu schätzen: "Gesungen wird durchweg mit Geschmack, Eleganz und Anteilnahme."

Weiteres: In der NZZ versinkt Ueli Bernays in seinen Erinnerungen an die Zeit, die er in und mit dem Zürcher Schauspielhaus verbrachte. Um dessen Umbau wird in Zürich gerade gerade gestritten, Bernays bleibt unentscheiden: "Einerseits verständlich, dass man den Pfauensaal nicht in muffiger Historizität versinken lassen möchte. Andrerseits: Würde Mailand seine Scala, Moskau sein Bolschoi-Theater jemals einem Umbau opfern?" In der Nachtkritik schildert Javier Ibacache die Situation der Theater in Chile. In der Nachtkritik bespricht Frank Schlösser Daniel Pflugers Inszenierung von Ödön von Horváths "Jugend ohne Gott" am Volkstheater Rostock.
Archiv: Bühne

Film

Elke Lehrenkrauss' vom NDR als Dokumentarfilm platzierter und nun in den Giftschrank gesteckter Film "Lovemobil" über die missliche Lage von Prostituierten in Beischlaf-Wohnmobilen besteht besteht zum allergrößten Teil aus gespielten Szenen, räumt Anja Reschke, Redaktionsleiterin der NDR-Doku-Abteilung, gegenüber Christian Meier von der Welt ein. Derzeit prüfe man die Korrespondenz mit der Filmemacherin. Unter Dokumentarfilmern sei derzeit zu hören, schreibt Meier weiter, dass "der inszenierte Charakter des Films für geübte Augen durchaus zu erkennen sei, beispielsweise am eingesetzten Licht, an der Kameraführung, auch an der Dramaturgie. Warum war dies den NDR-Spezialisten entgangen? Eine Möglichkeit ist, dass der Sender so begeistert von dem Film und seiner Aussage gewesen war, dass Hinweise auf eine Inszenierung ignoriert wurden. Hier gäbe es eine Parallele zum Fälscherskandal um Claas Relotius beim Spiegel."

Großes Nachdenken über die Zukunft des Kinos: Bert Rebhandl stellt in der FAZ die Initiative Cinemalovers vor, die es insbesondere Programmkinos mit kuratiertem Programm ermöglichen soll, sich auch mit einem digitalen Programm aufzustellen (mehr dazu bereits hier). Das "dürfte auch für die Verleiher von Vorteil sein. Denn in den letzten Jahren haben sehr viele kleinere Filme um wenige Leinwände konkurriert. Deshalb dürften gemischte Auswertungen (zum Beispiel eine Vorstellung pro Tag im Kino und daneben online) auch ökonomisch Sinn ergeben."

Wie sich das Kino der Zukunft angesichts dessen aufstellen kann, dass immer mehr Großproduzenten mit dem verriegelten Garten eigener Online-Plattformen liebäugeln, fragt Dominik Kamalzadeh im Standard unter anderem den Medienwissenschaftler Jan Distelmeyer. Aus demselben Grund sieht Michael Pekler im Freitag einer Kinozukunft ohne Blockbuster entgegen: Entsprechende Größtproduktionen mangelt es beim Heimkino-First-Ausspielweg schon aus technischen Gründen am nötigen Wumms, vor allem aber sind sie  "für das Flatrate-System der Streamingdienste schlicht zu teuer sind. Da mögen Apple und Netflix, wie kolportiert, mehrere Hundert Millionen US-Dollar für die angeblich fieberhaft erwartete Streaming-Premiere des 25. Bond-Films geboten haben: Kein Streamingdienst der Welt kann die Kosten eines solchen Films - egal ob eigenproduziert oder zugekauft - durch ein Abonnementsystem amortisieren, wenn der Vorsprung durch die Kinoverwertung, bei der pro Kopf kassiert wird, wegfällt."

Die Vergangenheit des Kinos sieht man derweil in der Onlinereihe "125 Jahre Kino" des Filmarchivs Austria, die uns tazler Fabian Tietke ans Herz legt. Besprochen werden außerdem Roland Joffés auf DVD veröffentlichtes Apartheid-Drama "The Forgiven" mit Forest Whitaker (taz) und die auf Amazon gezeigte Animationsserie "Invincible" (FAZ).
Archiv: Film

Musik

Die Kritik am Musikstreaming in den Feuilletons fällt meist wohlfeil und kulturpessimistisch öde aus. Einen wichtigen Aspekt spricht aber Jens Balzer in der Zeit an: Während die Einnahmen aus Streaming für die Branche steigen und steigen und in den Chefetagen die Sektkorken knallen, bekommt ein Großteil der Musiker noch nicht einmal die Brotkrumen ab, die vom Tisch fallen. Abgerechnet werde "nach dem sogenannten Pro-Rata-Verfahren. Dabei werden die Abonnement-Einnahmen eines Monats in einen Topf geworfen und durch die Zahl der Streams geteilt. Lieder, die in einem kurzen Zeitraum sehr oft geklickt werden, erzielen auf diese Weise höhere Einnahmen als solche, die genauso oft, aber über mehrere Monate hinweg angehört werden. Anders gesagt: Wer auf Spotify also nur Jazz oder Sinfonien streamt, subventioniert mit seinen Abonnementgebühren zwangsläufig auch Capital Bra und Apache 207." Musikervereinigungen fordern daher ein neues Verfahren, "in dem jeder Künstler gerade so viel erhalte, wie seine Hörer eingezahlt haben. Wenn man für zehn Euro im Monat nur ein paar Jazz-Stücke hört - dann gingen diese zehn Euro an die entsprechenden Musiker und Musikerinnen und an niemanden sonst."

Konstantin Nowotny hat für den Freitag in dieser Angelegenheit beim Labelbetreiber Maurice Summen nachgefragt, der die Skepsis vieler Feuilletonisten nicht ganz nachvollziehen könne, "schließlich wären Radiosender und ihre oft homogenen Playlisten weder für erwartungsvolle Hörer*innen noch für die Künstler*innen abseits des absoluten Mainstreams irgendeine Hilfe. ... 'Natürlich wäre ein anderes Bezahlmodell auf Streaming-Portalen mehr als wünschenswert, aber meines Wissens wird das aktuell eher durch die großen Player aus der alten Musikindustriewelt verhindert denn durch Streamingdienste.'"

Weitere Artikel: Wolfgang Schreiber resümiert in der SZ das Berliner Festival Maerzmusik. Besprochen werden der Soundtrack des 20 Jahren alten queeren Pornos "Bonking Berlin Bastards" (taz), Robbie Robertsons neue Abmischung von The Bands Album "Strage Fright" (SZ), neue Musikveröffentlichungen, darunter das gemeinsame Album "Promises" von Floating Points, Pharoah Sanders und dem London Symphony Orchestra (FAZ, mehr dazu bereits hier), und Serpentwithfeets Album "Deacon" (Standard). Wir hören rein:

Archiv: Musik