Efeu - Die Kulturrundschau

Traum der Truthähne

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11.02.2021. Muss man für einen Essayfilm auch mit amtierenden Schwerverbrechern sprechen, fragt die taz anlässlich von Andreas Hoesslis "Der nackte König - 18 Fragmente über Revolution". Der Standard erliegt im Museum Gugging einem Pfau mit verführerisch-menschlichen Beinen. NZZ und SZ sind überrascht, wie unkreativ Computer beim Literatur-Schreiben mit Daniel Kehlmann sind. Auch die Pariser Oper will diverser werden, berichtet die FAZ.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.02.2021 finden Sie hier

Film

"Der nackte König" von Andreas Hoessli (Bild: W-Film)

Mit seinem (hier vom Verleiher online gestellten) Essayfilm "Der nackte König - 18 Fragmente über Revolution" arbeitet der Schweizer Dokumentarfilmer Andreas Hoessli seine Besuche in Polen und im Iran um 1980 auf, wo er die dort stattfindenden Revolten begleitet hat. Tazler Andreas Fanizadeh fehlt dabei allerdings ein wenig die analytische Trennschärfe: "'Die Revolte ist ein Abenteuer des Herzens, der Mensch schüttelt die Angst ab und fühlt sich frei.' Gilt der leitmotivische Satz Kapuścińskis für rechtsextreme Islamisten gleichermaßen wie für demokratische Oppositionelle? Linke wie Rechte waren 1978/79 im Iran auf den Straßen. Doch das eine Lager unterdrückt seit Sturz des Schahs das andere bis heute. ... Historische Kameraaufnahmen zeigen 1979 einen Mann an Chomeinis Seite. Hoessli macht ihn ausfindig und interviewt ihn heute. Doch der Mann, der im Film relativ harmlos und ein wenig folkloristisch als 'Chauffeur' Chomeinis firmiert, ist in Wirklichkeit ein hochgradig kriminelles Subjekt, ein Boss der iranischen Revolutionsgarden. Aufgrund der Umstände am Drehort Iran muss das undeutlich bleiben. Aber geziemt es sich, mit solch amtierenden Schwerverbrechern zu ihren Bedingungen zu sprechen?"

Weitere Artikel: Nach der Aktion #Actout, bei der queere Schauspielerinnen und Schauspieler mehr Respekt und Anerkennung fordern, hat sich Katja Nicodemus für die Zeit in der Film- und TV-Branche umgehört, ob und wie die Macher diese Forderungen umsetzen wollen. Thomas Abeltshauser spricht in der taz mit Paul Greengrass über dessen Netflix-Western "Neues aus der Welt" mit Tom Hanks, der von der 12-jährigen deutschen Schauspielerin Helena Zengel glatt an die Wand gespielt wird (mehr dazu hier, besprochen wird der Film zudem in SZ, NZZ, FR, ZeitOnline und FAZ). Berlin leidet am Berlinale-Phantomschmerz, seufzt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel. In der Berliner Akademie der Künste wurde über die Zukunft des Kinos diskutiert, berichtet Christiane Peitz im Tagesspiegel. Besprochen wird die Serie "Your Honor" mit Bryan Cranston (NZZ).
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Literatur

Bei der Stuttgarter Zukunftsrede (hier noch bis 16. Februar im Stream) sprach Daniel Kehlmann über sein Experiment, in Silicon Valley gemeinsam mit einer künstlichen Intelligenz eine Kurzgeschichte zu verfassen. Ist der Autor etwa Transhumanist, fragt da bereits bang Paul Jandl in der NZZ. Die künstliche Intelligenz namens CTRL, erfahren wir, war mit Millionen Buchseiten aus dem Netz gefüttert. "Kehlmann schreibt als ersten Satz einer möglichen Geschichte: 'It was a beautiful day in summer.' CTRL setzt fort: 'The sun shone brightly on the green grass and flowers of the garden, but there were no birds to sing or insects to hum.' ... Das klingt nach David Lynch und hat eine verblüffende atmosphärische Eigenwilligkeit", allerdings kommen die Experimente rasch zum Erliegen, "weil die künstliche Intelligenz den Faden verliert, wenn es darum geht, eine Geschichte zu entwickeln. Größere Zusammenhänge sind ihre Sache nicht, und so löst sich das digitale Ich mitunter schnell wieder auf. 'Who are you guys, he asked without moving', schreibt Kehlmann, und der Algorithmus antwortet: 'My name is This - This - This - This - This . . .' So verlischt das Licht einer literarischen Instanz, die ja tatsächlich keine Ahnung hat, wer sie überhaupt ist."

"Da sei kein kreativer Funke gewesen, kein überraschendes Erlebnis", fasst Andrian Kreye in der SZ Kehlmanns Eindruck von CTRL zusammen. Denn "CTRL ist ein prädiktiver Algorithmus. Er berechnet also kein endgültiges Resultat, sondern die größtmögliche Wahrscheinlichkeit. ... Einfache oder auch schiefe Metaphern seien durchaus denkbar. Die könnte das Programm in den Datensätzen schon finden und ableiten. 'Der Quantensprung wäre eine eigenständige Metapher', sagte Kehlmann. 'Wenn das Programm eine Metapher fände, die verändert, wie wir die Welt sehen, so wie Proust oder Nabokov das konnten. Dann wäre das sehr kreativ.'"

Weitere Artikel: Auf 54books erklärt Marcel Inhoff, warum Amanda Gorman die amerikanische Dichterin der Stunde ist. Für die FAZ reißt Simon Strauß in Gedanken nach Recanati in Leopardis Bibliothek.

Besprochen werden unter anderem Ursula K. Le Guins Essayband "Am Anfang war der Beutel" (taz), Sophie Steins Debütroman "Amanecer" (Tagesspiegel) und Ella Carina Werners "Der Untergang des Abendkleides" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Franjo Klopotan, Blühende Stiefel. Peter Infeld Privatstiftung. Foto: Thomastik-Infeld GmbH


Betört von den fantastischen Sujets wandert Katharina Rustler für den Standard durch eine Ausstellung mit naiver Kunst aus der Sammlung des Musiksaitenherstellers Infeld im Museum Gugging bei Wien: "Da sind gottgleiche Blumen in Pastellfarben, nackte Frauen in Neonfarben oder brutale mittelalterliche Szenen, die an Hieronymus Bosch denken lassen. Neben Künstlern aus Slowenien, Frankreich oder Deutschland ist mit Fritz Opitz ein Österreicher vertreten, der selbst im Gugginger Haus der Künstler gemalt und volkstümliche Lebensweisheiten verfasst hatte. In jede Ecke setzte er ein Edelweiß. Wirklich surreal wird es in den Phantasmagorien von Franjo Klopotan. In 'Traum der Truthähne' starren zwei der gefiederten Wesen auf einen Pfau mit verführerisch-menschlichen Beinen. Sie stehen in einer düsteren Landschaft, nur karge Baumstämme sind da im Dunst zu erkennen. Doch: Über ihnen schwebt ein Topf mit ausgestreckten Oktopusarmen. Darin wartet eine paradiesische Welt: bunte Häuser, blühende Bäume und natürlich ein weißes Pferdchen."

Weiteres: Donna Schons betrachtet in Monopol Bilder des Fotograf Daniel Biskup von der Loveparade und staunt, wie magisch das zu Beginn war: "Wahnsinn, diese euphorisch affirmative Truppe, die alles einfach 'extrem geil' fand und vehement an die politische Relevanz ihrer eigenen Party-Inklusion glaubte." Rebekka Wiese wirft für den Tagesspiegel einen Blick hinter die Kulissen des Berliner Bröhan-Museums im Lockdown. Besprochen werden die Ausstellung "Seestücke - Fakten & Fiktion" in der Alfred-Ehrhardt-Stiftung in Berlin (Tsp) und Sam Pollards HBO-Doku "Black Art: In the Absence of Light" (Guardian).
Archiv: Kunst

Design

In der NZZ stellt Jürg Zbinden den Industriedesigner Miguel Lauper vor. Der versteht sich "als Entdecker, in dem das Herz eines Künstlers schlägt, bei dem die Hände eines Handwerkers die Ideen umsetzen, die wiederum der Kopf eines Ingenieurs, man kann auch sagen Erfinders, erdenkt" und der einen "ganzheitlichen Ansatz" verfolgt. "In seinem Bureau Lauper entstehen sowohl Serienprodukte als auch Unikate und Konzepte für Innenarchitektur. Weil ihn überdies Musik begeistert, baute er im Rahmen seines Austauschstudiums an der Écal in Lausanne eine Soundmaschine, das formschöne 'Objet Sonore' aus schwarz glänzender, sanft gewellter Keramik. Es reagiert wie ein Touchscreen und hat eine magische Aura."
Archiv: Design

Bühne

In der nachtkritik berichtet Esther Slevogt über den Streit zwischen Ersan Mondtag und Olga Bach mit der Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung", der nicht nur inhaltliche Hintergründe hatte (unser Resümee), sondern auch ein Streit um Nutzungsrechte war. Regisseur Mondtag wollte der Stiftung die Nutzungsrechte an dem von ihr finanzierten Projekt nur für ein Jahr überlassen: "Auf seine Forderung einzugehen hätte bedeutet, sagt Bavendamm nun, dass sie bereits Ende 2021 keine Rechte an dem Film mehr gehabt hätten. Und das mitten in der Pandemie, wo niemand weiß, wann Museen und Dokumentationszentren wieder sinnvoll Öffentlichkeitsarbeit betreiben könnten. Olga Bach und Ersan Mondtag vermuten hinter dem Anspruch auf langfristige Nutzungsrechte einen Zensurversuch. So könne die Stiftung den Film einfach in der Schublade verschwinden lassen. 'Wie soll ich denn als Institution ein fünfstelliges Honorar für eine Arbeit rechtfertigen, die ich dann in der Schublade verschwinden lassen?' sagt Gundula Bavendamm." In der SZ schreibt Peter Laudenbach zum Verhältnis zwischen Gundula Bavendamm und ihrem Vater Dirk, der sich im rechtsextremen Milieu aufhält, mehr in 9Punkt)

Viel von sich reden macht ein "Rapport sur la diversité", den der (deutsche) Direktor der Pariser Oper Alexander Neef von Gleichstellungsexpertin Constance Rivière und dem Historiker Pap Ndiaye hat verfassen lassen. In allen Punkten wird hier durchleuchtet, ob die Oper als Institution "diverser" werden kann. Auch aufs Repertoire wird geblickt, denn eine Menge Opern und Ballette spielen mit Exotismen. Marc Zitzmann nennt einige der Vorschläge in der FAZ "fachfremd", ist aber insgesamt wohlwollend. Ebenso Rosita Boisseau in Le Monde, die mit Neef und Ndiaye gesprochen hat. Alle Werke sollen gespielt werden, aber zuweilen modifiziert, sagen die beiden. Man könne Modifikationen an einem Ballett wie "Petruschka" durchaus vornehmen, sagt Ndiaye in Boisseaus Zitat: "Die Kokosnuss, die von einer schwarzen Person im Ballett getragen kann durch ein anderes Accessoire ersetzt werden, das ist auch schon in mehreren Produktionen geschehen." Aber, so Boisseau, "die Praktiken des 'Blackface', 'Yellowface' und 'Brownface' müssen in allem Opern und Balletten verhindert werden."

Besprochen wird Leoš Janáčeks "Tagebuch eines Verschollenen" im Stream der Bayerischen Staatsoper (nmz).
Archiv: Bühne

Musik

Dass WDR3 in seiner Klangfarbe in Zukunft zum Beispiel auf Lieder von Schubert zugunsten geschmeidiger Durchhörbarkeits-Soße verzichten wird, um mehr Gelegenheitshörer an sich zu binden, ruft nicht nur bei einigen Redakteuren im Haus, sondern auch bei Hartmut Welscher von VAN erheblichen Widerspruch hervor. Grundlage der Sendermaßgabe ist eine Studie unter "1011 'deutschsprachigen, klassikaffinen Personen ab 14 in Privathaushalten mit Internetanschluss in NRW'", eine Studie, die bei Welscher allerdings zu einigen Fragezeichen führt: "Stutzig macht zum Beispiel, dass der beliebteste Radiosender jener befragten 'Klassikaffinen' ausgerechnet 1Live sein soll, ein Sender, der musikalisch maximal weit entfernt ist von WDR 3, gefolgt von WDR 2 und WDR 4. In der Studie gelten alle als 'klassikaffin', deren Interesse an klassischer Musik nach Selbstauskunft mindestens 'mittel' ist und die mindestens 25 Prozent der eigenen Musikhörzeit mit 'klassischer Musik' verbringen. Gut möglich, dass die Antworttendenz 'Soziale Erwünschtheit' die Ergebnisse verzerrt hat. Klassik wird nach wie vor Distinktionspotential zugeprochen. 'Klassische Musik interessiert mich mittel' werden sehr viel mehr Menschen unterschreiben als tatsächlich klassische Musik hören."

Weitere Artikel: Jeffrey Arlo Brown spricht für VAN mit dem Orchestertournee-Veranstalter Guido Frackers über die momentane Lage in seinem beruflichen Metier. In einem VAN-Longread denkt Matthias Nöther mit einer neuen Studie von Leopoldo Siano über Kosmogonie und Musik nach. Entgegen seinem Image als Glamour-Playboy war Herbert von Karajan "ein besessener Arbeiter, ernsthaft und skrupulös bis zum Exzess", schreibt Ulrich Eckhardt im Tagesspiegel. Daniel Barenboims West-Eastern Divan Orchestra mag sich musikalisch gut entwickelt haben, doch seinen ursprünglich gesetzten Anspruch, als befriedendes Projekt vor Ort im Nahostkonflikt aufzutreten, hat es kaum erfüllt, meinen Frido Mann und Isabel Abou Rashed in der FAZ. In der FAZ gratuliert Claudius Seidl dem Pianisten Sérgio Mendes zum Achtzigsten.

Besprochen werden ein Dokumentarfilm über die Entmündigung von Britney Spears (ZeitOnline, Standard), Matthew Halsalls "Salute To The Sun" (FR), das neue Album von Django Django (Tagesspiegel), "Wünsch mir Glück" von Steiner & Madlaina (Standard), das Debütalbum von Suzane (taz) und ein neues Album von Black Country, New Road, auf dem laut Standard-Kritiker Christian Schachinger "wüste Ausbrüche Richtung Noise und Jazz oder Hotelbarschlurfigkeit möglich" sind. Wir hören rein:

Archiv: Musik