Efeu - Die Kulturrundschau

Global verständliche Wolkenkratzer

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04.02.2021. Die taz blickt auf die fortschreitenden Repressionen gegen den Literaturbetrieb in Belarus. Die NZZ wirft Amanda Gorman, vor allem aber der jubelnden Literaturkritik, Allmachtsfantasien und mangelnde Reflexion vor. Die FAZ lässt sich beim Sundance-Festival von Rebecca Halls Schwarzweißfilm "Passing" vom Manhattan der Zwanziger blenden. Die Welt schaut nach dem Abgang von Peter Spuhler beim Badischen Staatstheater Karlsruhe auf die "Trümmer der Humansubstanz". Die Zeit fordert einen Anführer, der mit freien SchauspielerInnen in den Lobbyisten-Krieg zieht. Und der Standard lässt sich von Celeste niederbügeln.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.02.2021 finden Sie hier

Literatur

Jens Uthoff berichtet in der taz von den fortschreitenden Repressionen gegen den Literaturbetrieb in Belarus. Buchläden werden von Polizisten geräumt, neue Buchveröffentlichungen aus dem Verkehr gezogen und Menschen inhaftiert. "Die Übersetzerin Volha Kalackaja, die unter anderem Margaret Atwood und Timothy Snyder aus dem Englischen übersetzte hat, ist seit dem 18. Januar in Haft. Man holte sie ab, während sie ihre hochbetagte Mutter betreute - und brachte die Tochter nicht zurück. Viele andere Autor:innen sind längst im Ausland, zum Beispiel lebt Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch aktuell in Berlin, die vielversprechende junge Autorin Volha Hapeyeva zieht es nach München. Journalist:innen sind in noch größerem Maße betroffen."

Pauline Voss von der NZZ sieht in den begeisterten Berichten über Amanda Gormans Kapitolauftritt ein Symptom des Wandels in der Literaturkritik: "Politik als Maßstab für Poesie: Hier zeigt sich eine Verschiebung in der Bewertung von Kunst." Dabei bediene Gorman mit ihren "absoluten Formulierungen ... Allmachtsfantasien, die amerikanische Demokraten und Linksliberale in aller Welt nur deshalb nicht schaudern lassen, weil sie im Namen des vermeintlich 'Guten' verkündet werden. Der Verweis auf eine mögliche Distanz zum lyrischen Wir trägt hier nicht, denn um das Gedicht als Rollenprosa eines verblendeten Ideologen durchgehen lassen zu können, brauchte es eine Vielschichtigkeit, den Anklang einer tieferen Ebene hinter der ideologischen Fassade. Nirgendwo in Gormans Zeilen findet sich Raum für Reflexion, für Distanz zum Gesagten."

Insbesondere bei namhaften und besonders im Rampenlicht stehenden Autorinnen zögen sich Rezensenten auffallend häufig auf "pingelige Besserwisserei statt Literaturkritik" zurück, schreibt Nicole Seifert auf 54books und vermutet dahinter angewandte Misogynie: "Aus dem Nichtverstehen resultiert kein Verstehenwollen. Die Fragezeichen werden zwar wahrgenommen, es wird ihnen aber nicht nachgegangen. Statt einer angemessenen Auseinandersetzung gibt es nur oberflächliche Betrachtungen, formale Mittel werden genauso wenig eingeordnet wie die Stoffe und Motive der Autorinnen."

Weitere Artikel: Zynisch findet es Klaus Staeck im FR-Kommentar, dass öffentlich-rechtliche Sender wie NDR und WDR gerade in Lockdownzeiten, wo man ja gerade zum Lesen kommen könne, ihr literaturkritisches Angebot runterfahren. In der Türkei wurden im Zuge von Corona Repressionen gegen den Literaturbetrieb nochmals verstärkt, berichtet Jürgen Gottschlich in der taz. Umberto Ecos legendär umfangreiche Bibliothek wird zum Kummer vieler Bibliophiler zweigeteilt, berichtet Karen Krüger in der FAZ: Seine Inkunabel-Sammlung landet in Mailand, die modernen Bücher in Bologna.

Besprochen werden unter anderem Zsófia Báns Erzählungsband "weiter atmen" (Tell), Martine Bijls "Königin außer Dienst" (FR), Alexander Karenos Erzählungsband "Auto halt!" (ZeitOnline), Marco Missirolis "Treue" (SZ) und Pierre Lemaitres "Spiegel unseres Schmerzes" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Mit einer großen Auszeichnung für Siân Heders Drama "Coda" mit Emilia Jones - von Apple vom Fleck weg fürs eigene Streamingangebot für 25 Millionen Dollar aufgekauft - ist das Sundance Filmfestival zu Ende gegangen. Das Festival ist in seiner Onlineausgabe eigene Wege gegangen, resümiert Barbara Schweizerhof auf ZeitOnline, die auf Filme kaum zu sprechen kommt: In den Zoom-Plaudereien ließ sich nämlich prächtig bei den Stars in die Wohnung blicken. Ihr Fazit: "Es dominierte die Bücherwand. ... Einzig mit dem Plaudern, Schwätzen und Tratschen über Filme und Filmemacher, dem buzz eines Festivals, hat es doch noch nicht so richtig geklappt. Die Filmpartys auf der Virtual-Reality-Plattform New Frontier, die man per Avatar betreten konnte, waren nämlich fast zu nah dran an der Wirklichkeit: Als Strichmännchen mit Passfotogesicht stand man da in etwa so einsam herum wie auf einer realen Party."

"Passing" von Rebecca Hall

Mehr über das Sundance-Programm erfahren wir von Maria Wiesner in der FAZ: Die kann uns Rebecca Halls "Passing", einen Schwarzweißfilm über das Manhattan der Zwanziger, sehr ans Herz legen. Im Mittelpunkt steht eine hellhäutige schwarze Frau, die - zumal noch im Licht des Schwarzweißfilms - als weiße durchgeht (daher auch der Titel). "Die blendende Manhattan-Helligkeit ist den intimeren Zimmern mit eleganten Eichenmöbeln gewichen, dunklere Schatten und größere Kontraste loten die Identität der Figuren neu aus. Hall, die selbst einen schwarzen Großvater hatte, in Filmen jedoch meist als Weiße besetzt wird, begibt sich hier auf Spurensuche, was ihre Persona ausmacht, beobachtet kleinste Details und fragt dabei stets, wer den Zugang zu Räumen und Gemeinschaften bestimmen darf."

Einerseits ja gut, dass Netflix zwar lokal produziert, die so entstandene Ware aber auch international verwertbar sein muss, schreibt Claudius Seidl in der FAZ: Gerade in Deutschland entprovinzialisiere dies die Geschichten. Doch schränke dieses Gebot, auch in Mexiko anschlussfähig zu sein, auf andere Weise ein: Sämtliche deutschen Städten wirken wie ein international ausdifferenziertes Studenten-Idyll."'Skylines' dagegen, die Serie um Hiphop und Verbrechen in Frankfurt, in der die Migranten auch Migrantendeutsch reden, Araberakzent, Albanerslang, wurde nach der ersten Staffel abgesetzt. Zuviel Bodenhaftung, trotz der global verständlichen Wolkenkratzer. Es ist, als machte Netflix mit den Bildern und Geschichten, was die Gentrifizierung mit den Häusern, Straßen, Stadtvierteln macht. Alles Schäbige und Kleinkarierte, alles Hässliche, Altmodische, Spießige wird weggeräumt."

Besprochen werden Dea Kulumbegashvilis "Beginning" und Francis Savels "Gleichung mit einem Unbekannten (Perlentaucher), Sam Levinsons kammerspielartiges Beziehungsdrama "Malcolm & Marie" mit John David Washington und Zendaya (taz, Presse), die Arte-Serie "In Therapie" (Freitag, taz, NZZ), Mike Cahills Science-Fiction-Film "Bliss" mit Slavoj Žižek und Salma Hayek (taz) sowie die DVD des koreanischen Gewaltmelodrams "Bring me Home" von Seung-woo Kim (taz).
Archiv: Film

Bühne

Hat der "Super-Intendant" ausgedient, fragt Manuel Brug in der Welt mit Blick auf deutschsprachige Bühnen, vor allem in Karlsruhe, wo Peter Spuhler, Generalintendant des Badischen Staatstheaters, nach Vorwürfen des Machtmissbrauchs (Unsere Resümees) vorzeitig aus dem Vertrag entlassen wurde; zuvor hatte man seinen Vertrag bis Sommer 2026 verlängert. "Obwohl alle Politiker wissen konnten, dass er sich gegenüber seinen Mitarbeitern auf heute nicht mehr zumutbare Weise benommen hat, viel weg war, um das Haus anderswo zu repräsentieren, dann aber in alle Entscheidungen hineinregierte und ein Klima der Angst schuf. (...) Gegen das toxische KulissenFeeling ist aber keiner der Verantwortlichen vorgegangen. Man wollte, da das Staatstheatergebäude von 1975 vor einer großen, wieder mal budgetmäßig kaum einzugrenzenden Totalrenovierung steht, an dem seit 2011 straff durchregierenden Spuhler festhalten, der zudem mit seiner reinen Frauenbesetzung aller Spartenchefstellen für beste Quotenbilanzen sorgte und immer wieder mit spannenden Regieteams Erfolge vermelden konnte. Das ist jetzt der Politik alles um die Ohren geflogen. Als Spuhler nicht mehr zu halten war, wurde er geschasst. Sexualdelikte im Jugendtheater kamen hinzu. Das wird teuer werden. Zurück bleiben die rauchenden Trümmer der Humansubstanz."

Kürzlich hatte die Schauspielerin Julischka Eichel in der nachtkritik auf die katastrophale Lage freier SchauspielerInnen während der Pandemie hingewiesen. (Unser Resümee). Auch die Sopranistin Anna Prohaska kritisierte jetzt in einer Veranstaltung an der Berliner Schaubühne die ungerechte Verteilung der Mittel, schreibt Peter Kümmel in der Zeit: "Einerseits seien da die Intendanten, die sich zurücklehnen könnten: Die beantragen Kurzarbeit und sanieren sich ihre Betriebe jetzt gesund.' Denn die Subventionen an die (vorstellungsfreien) Häuser fließen weiter - während die Freiberufler, so Prohaska, 'abgespeist' würden. Da hat Prohaska einen wunden Punkt berührt - und vielleicht auch erklärt, warum viele Intendanten die kulturelle Dürre so still ertragen. Im Gegensatz zu den Freien und Unständigen. Die sind am Ende der Geduld und ihrer Reserven. Es fehle ihnen, so hört man aus ihrer Mitte, eine schlagkräftige Vertretung in Berlin, schließlich erwirtschafte die Kultur auch mit ihrer Hilfe Milliarden - und schließlich werden die Renten, die sie nicht bekommen, auch durch ihre Steuergelder finanziert. Vermutlich wird es Zeit, dass die Unständigen sich jemanden suchen, der für sie in den Lobbyisten-Krieg zieht."

Weiteres: Kirill Serebrennikows Vertrag als künstlerischer Leiter des Moskauer "GogolZentrums" wird nicht verlängert, meldet Frank Herold im Tagesspiegel: "Schluss. Ein paar dürre Sätze, die die staatliche Nachrichtenagentur Tass verlautbarte. Kein Kommentar. Auch vom Betroffenen nicht." Im Standard resümiert Stefan Weiss den Skandal um das Millionenloch im Wiener Burgtheater. Besprochen wird Cosmea Spellekens digitale Inszenierung "werther.live", die beim nachtkritik-Theatertreffen gezeigt wurde (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Kunst

Im monopol-magazin macht Anika Meier einen neuen Surrealismus aus, der heute "weiblich dominiert" ist, wie sie im Gespräch mit der New Yorker Künstlerin Sarah Slappey erfährt. Slappey erklärt auch, wie sie in ihren Bildern, in denen sie den weiblichen Körper dekonstruiert, Gewalt thematisiert: "Gerade habe ich angefangen, Haarspangen in meine Komposition zu integrieren. Haarspangen erinnern mich an ein Korsett. Es geht darum, sich als Frau präsentierbar zu machen. Im Leben von Frauen gibt es viele kleine Dinge und Momente, die zu einem gewaltsamen Eingriff werden, wenn sie sich summieren. Und es sind genau diese kleinen Dinge, die Gefühle wie Aggression oder Scham auslösen. Ich adressiere diese Problematik so still und leise in meinen Gemälden, weil all das genau so unscheinbar, aber doch gewaltsam präsent im Leben von Frauen ist."
Archiv: Kunst

Architektur

Gern nimmt India Block auf Dezeen in den innovativen Pavillons Platz, die bei den diesjährigen Toronto Winter Stations prämiert wurden. So lässt sich die soziale Distanz während der Pandemie gut überstehen, meint sie, etwa im Entwurf des deutschen Teams Heidundgriess. Sie haben "ihren Pavillon so gestaltet, dass er wie eine Computerladeanimation aussieht. Es heißt 'Throbber', nach dem technischen Namen für animierte Grafiksoftware, die zeigt, dass etwas geladen oder gepuffert wird, beispielsweise das von Apple verwendete Regenbogen-Windrad. 'Throbber' wird zehn regenbogenfarbene Sitzabteile haben, die durch Seitenwände voneinander getrennt sind, sodass die Menschen in sozialer Distanz sitzen können, während sie auf das Ende der Pandemie warten."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Pandemien, Windräder

Musik

Merle Krafeld wirft für VAN einen Blick in die Welt der Musikverlage, bei denen die Coronapandemie wohl ebenfalls eine Finanzierungskrise auslösen wird. Nicht nur das Leihgeschäft hat daran Anteil, sondern auch die perspektivisch ausbleibenden GEMA-Zahlungen: Ein langwieriger Auszahlprozess, weshalb "die Einbußen aus diesem wichtigen Bereich für die Musikverlage zum Teil noch gar nicht absehbar sind. 'Wir rechnen immer antizyklisch', erklärt Nick Pfefferkorn" und führt aus: "'Die erste GEMA-Ausschüttung, die jetzt kommt, bezieht sich auf Aufführungen aus 2018/19 und von Anfang 2020, da kommt sogar vielleicht noch etwas.' Auch bei Schott kann man aktuell noch von alten GEMA-Einnahmen zehren, berichtet Christiane Albiez: '2020 hatten wir noch die Einnahmen aus 2019.'"

Weitere Artikel: Volker Hagedorn (VAN) und Jan Brachmann (FAZ) berichten von den Forderungen der Deutschen Orchestervereinigung nach "differenzierten Lockerungen" und finanziellen Stützen. Hartmut Welscher schreibt in VAN über das Musiktherapieprojekt "Lieblingslied". Arno Lücker hört sich für VAN durch verschiedene Interpretationen von Strawinskys "Sacre du printemps". Außerdem stellt Lücker in seiner Komponistinnen-Reihe für VAN Graciela Paraskevaídis vor. Andrian Kreye schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Hiphop-Fotografen Ricky Powell.

Besprochen werden die Uraufführung eines von Hans Werner Henze bereits mit 17 komponierten Stücks (SZ) und Celestes Debütalbum (Standard, FR). Mit dem schon vor einem Jahr veröffentlichten Stück "Stop the Flame", schreibt Christian Schachinger im Standard, "bügelt sie einen auf angeneheme Weise nieder." Das wollen wir uns nicht entgehen lassen:

Archiv: Musik