Efeu - Die Kulturrundschau

Der Moderne gewachsen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.01.2021. Domus lernt von Gegia Bronzini, wie man Leinen, Seide und Wolle mit Ginster oder Maiswickel verwebt. In der taz würdigt der Anti-Mafia-Aktivist Nando Dalla Chiesa den sizilianischen Schriftsteller Leonardo Sciascia, der heute vor 100 Jahren geboren wurde. Dass Tantra wenig mit Sex, aber sehr viel mit rasenden Göttinnen zu tun hat, lernt Artforum in einer Ausstellung des British Museum. Mit dem Sturm aufs Kapitol sind nicht nur ein paar Fensterscheiben kaputt gegangen, fürchtet die FAZ und blickt traurig auf die Trümmer der großen amerikanischen Präsidentenserien.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.01.2021 finden Sie hier

Design

Abb. Domus


Zwischen 1930 und 1970 erblühte in Italien eine Kunstform, die bei Kunstkritikern nur wenig Beachtung fand, weil sie meist weiblich war: die Kunst der Textilien, erzählt Michela Bassanelli in Domus. Eine der ganz großen Weberinnen damals war neben Renata Bonfanti, Anita Pittoni and Carla Badiali Gegia Bronzini, die einen mechanischen Webstuhl bevorzugte: "Die Verwendung von ungewöhnlichen Materialien wie Ginster und Maiswickel, zusammen mit natürlichen Garnen (Leinen, Seide, Wolle) stellt einen zweiten Aspekt ihrer Forschung dar. Die Stoffe verlangen eine Verbindung mit abstrakten und geometrischen Figuren, in Anlehnung an die Produktion im Textillabor des Bauhauses. Jedes gewebte Paneel ist ein Unikat. Die Anwendungen betreffen jeden Aspekt der Heimtextilien: von Oberflächen bis zu Möbeln, vom Tisch bis zum Bett. Vorhänge stellen einen wesentlichen Teil der Produktion von Bronzini dar, weil sie das Experimentieren mit Materialien - vom Hanfgarn über Seidengarn bis hin zur Verwendung von Kupfer - und die Zeichnung mit echten Öffnungen verbinden, die unterschiedliche, aber immer modulierte Lichtdurchgänge ermöglichen."
Archiv: Design

Literatur

Heute vor hundert Jahren wurde Leonardo Sciascia geboren. Anders als viele andere italienische Intellektuelle verschloss er die Augen nicht vor der Mafia, würdigt der Anti-Mafia-Aktivist Nando Dalla Chiesa den Schriftsteller in der taz: "Gerade indem Sciascia die Mafia in den Mittelpunkt des Geschehens stellte, zeigte er sich der Moderne gewachsen. 'Der Tag der Eule' wurde zum einzig verfügbaren literarischen Bezugspunkt der sich Ende der 1970er Jahre in Palermo neu formierenden Anti-Mafia-Bewegung von jungen Intellektuellen. Der Roman hat Epoche gemacht, weil er das Schweigen über die Mafia bricht, eben indem er die 'omertà' als Massenphänomen zeigt. Den Wandel der Mafia von der Verwurzelung in der bäuerlichen Welt hin zum Big Business der Konsumgesellschaft analysiert der Roman mit einer Präzision, wie man sie aktuell in Prozessakten zu den Aktivitäten der 'Ndrangheta wiederfinden kann." Zum Jubiläum sind auch einige Bücher wieder aufgelegt worden, die in NZZ, SZ und Tagesspiegel ausführlich besprochen werden.

Besprochen werden unter anderem Heiner Goebbels' beim SWR online stehendes Hörspiel "Gegenwärtig lebe ich allein" nach Gedichten von Henri Michaux (FR, mehr dazu bereits hier), Annie Zaidis "Anstiftung zum Mord" (NZZ), Clemens Meyers Erzählung "Nacht im Bioskop" (taz), Christian Schneiders Biografie über Ludwig Wittgenstein (taz), Nick Hornbys "Just like you" (Standard), Gerhard Wolfs Memoir "Herzenssache" (SZ) und eine Neuausgabe von Nanni Balestrinis "Der Verleger" (SZ).
Archiv: Literatur

Musik

Beeindruckend findet es tazler Julian Weber wie der britische Filmemacher Steve McQueen in der zweiten Folge "Lovers Rock" seiner BBC-Spielfilmreihe "Small Axes" dem Dubreggae der frühen Achtziger ein Denkmal setzt: Hier "lässt sich Reggaekultur von einer neuen, bisher wenig beleuchteten Seite begutachten: Dubreggae als Schrittmacher der karibischen Diaspora in Großbritannien. Der US-Musikethnologe Michael E. Veal zeigt in seinem Buch 'Dub. Soundscapes and Shattered Songs in Jamaican Reggae', wie jamaikanische Musik als Alternativmedium Bildung vermittelt, aus Mangel an Geschichtsnachschlagewerken, aber auch angesichts der großen Bedeutung von Musik im Alltag als gemeinschaftsstiftendes Instrument: Sound als akustische Geschichtsschreibung. Alle kennen die Songs und wissen, was in den Texten und Hooklines mitschwingt."

Weitere Artikel: Amira Ben Saoud ist sich im Standard sicher: Dass die deutsche Rapperin Haiyti keinen Charterfolg hat, obwohl sie der Liebling aller Feuilletons ist, liegt vor allem daran, dass in ihren Tracks und ihrem Image, anders als bei den meisten erfolgreichen Deutschrapperinnen, Sex kaum eine Rolle spielt. Die NMZ bringt einen Auszug aus einem vor fünfzig Jahren veröffentlichten Gespräch mit Pierre Boulez. Ueli Bernays gratuliert in der NZZ Joan Baez zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden The Bugs Album "In Blue" (taz), ein neues Album des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich (Tagesspiegel) und der Gesprächsband "So Long" mit Leonard Cohen (FAZ).
Archiv: Musik

Kunst

Populärer Druck der Göttin Kali, veröffentlicht vom Calcutta Art Studio. Lithograf, Kalkutta, Bengalen, Indien, c. 1885-1895.


Tantra hat nichts mit Sex zu tun, aber sehr viel mit Frauen, lernt der Kunsthistoriker Zehra Jumabhoy (Artforum) in einer von Imma Ramos kuratierten Ausstellung im British Museum. "Das Sanskritwort 'tan' bedeutet 'weben', 'erweitern' oder 'komponieren', so dass Tantra eine Verflechtung von Ritualen und Praktiken bezeichnet, die mit der Verehrung der Göttin verbunden sind. Als diese Aufwertung der göttlichen weiblichen Kraft (Shakti) über Indien hinwegfegte, ermöglichte sie den Aufstieg von Frauen zu Gottheiten und Gurus. Bilder tantrischer Göttinnen verbinden Bezüge zur Mutterschaft und zum Tod. Diese Verschmelzung machte aus ihnen mächtige Symbolen für indische Revolutionäre im 19. und 20. Jahrhundert und förderte eine Form des 'hingebungsvollen Nationalismus', in dem der politische Körper als furchterregende Muttergöttin konfiguriert wurde, die den Märtyrertod ihrer Söhne forderte. Interessanterweise untersucht die Ausstellung die subversive Rolle von Shakti in den Unabhängigkeitsbewegungen des Subkontinents, als Kali zu einem Maskottchen für den antikolonialen Widerstand wurde, insbesondere in Bengalen. In der nationalistischen Propaganda erscheint sie als Amokläuferin: den Mund voller Blut, den Hals geschmückt mit abgetrennten Männerköpfen, triefend vor Blut. Die Schwarze Göttin des Todes - berühmt dafür, dass sie ihren Gemahl, Lord Shiva, während ihres rasenden Tanzes der Zerstörung zertrampelt - ist auch eine Galionsfigur für südasiatische Feministinnen."

Besprochen wird außerdem ein Band mit dem Gesamtwerk des Fotografen Karl Bloßfeldt (Tsp).
Archiv: Kunst

Bühne

Lena Schneider stellt im Tagesspiegel/Potsdamer Nachrichten die freie Theaterszene in Brandenburg vor, die seit dem Mauerfall entstanden ist. Besprochen wird die Premiere von "Paradigma", einem Abend des Bayerischen Staatsballetts (FR).
Archiv: Bühne

Film

Kein Drang zur Evidenzproduktion: Marie Wilkes "Höllental" (ZDF)

Marie Wilke greift mit der sechsteiligen ZDF-Dokuserie "Höllental" den Fall Peggy auf. Dass hier kein gängiger, zugespitzter True-Crime-Sensationalismus zu erwarten ist, dafür steht schon die produzierende Redaktion "Das kleine Fernsehspiel" und die Filmemacherin selbst, die bei Heinz Emigholz und Harun Farocki in die Lehre gegangen ist, erklärt Ekkehard Knörer im Perlentaucher. Beeindruckend ist daher "die streng durchgehaltene Inszenierungspolitik, mit der Wilke das vorgefundene Bildmaterial bändigt, ja bannt. Auch hier insistiert etwas ganz anderes als der Drang zur Evidenzproduktion, der die Ermittlung als juristische ausmacht." Es entsteht "ein eigener atmosphärischer Sog von beträchtlicher Wucht. Es ist eine Ästhetisierung durch Form, die einen ständigen doppelten Einspruch erhebt. Gegen die Einsinnigkeit der quasi-detektivischen und quasi-juristischen Aufarbeitung und Rekonstruktion. Aber auch und erst recht gegen die Sentimentalisierung, die mit der boulevardförmigen Ausschlachtung wahrer Verbrechen einhergeht. In diesem Sinn ist die Ästhetisierung auch eine Form der gezielten Anästhesie, der Lähmung des direkten Affekts."

ZeitOnline-Kritiker Matthias Dell findet hingegen den Fokus rein auf den Fall an sich etwas schade: Etwas mehr Abschweifung ins Gesellschaftliche hätte dem Projekt vielleicht ganz gut getan. Visuell ist das alles zwar sehr beeindruckend: "Dazu die klug montierten Auskünfte und die Zitate aus den Akten, die, eine gute Wahl, von dem Dokumentarfilmer Thomas Heise gesprochen werden, der sich zuletzt durch das Archiv der eigenen Familiengeschichte gearbeitet hatte in 'Heimat ist ein Raum aus Zeit'. Mit anderen Worten: 'Höllental' hat eine erkennbare formale Idee, kennt aber wenig Variation. In der Musik würde man von Monotonie sprechen."

Die großen US-Präsidentenserien "The West Wing" (über das Ethos eines intellektuellen, verantwortungsbewusst handelnden Präsidenten) und "House of Cards" (über die Verkommenheit eines machtgierigen Präsidenten) "sind durch die surrealen Bilder aus dem amerikanischen Kongress vom Mittwoch wie im Zeitraffer gealtert", schreibt Paul Ingendaay in der FAZ. Dasselbe gilt für die epischen Doku-Serien von Ken Burns: Hinter diesen "steht der Glaube, man brauche nur durch die richtigen Dokumente und Bilder das subjektive emotionale Erleben von Geschichte wiedererstehen zu lassen - schon ließen sich auch heftig umkämpfte Themen so erzählen, dass sich die Nation hinter einer einigenden Version versammeln kann. Der Amerikanische Bürgerkrieg zum Beispiel, in neun langen Teilen. Oder der traumatische Vietnam-Krieg, in zehn Teilen. Vorbei. Auch dem Kongress hat Burns vor vielen Jahren eine Dokumentation gewidmet. Aber damals waren die Bilder vom fatalen Mittwoch noch das, was sie nun nicht mehr sind: unvorstellbar."

Weitere Artikel: Guardian-Autorinnen und -Autoren erklären, warum die Netflix-Serie "Bridgerton" gerade das ganz große Talkabout ist. David Steinitz (SZ) und Claudius Seidl (FAZ) gratulieren dem Actionfilmmeister John McTiernan zum 70. Geburtstag. Besprochen werden die Netflix-Serie "Die Geschichte der Schimpfwörter" mit Nicolas Cage (NZZ) und der Neustart des Soap-Klassikers "Verbotene Liebe" (Perlentaucherin und Fan Silvia Szymanski "fühlt sich wie ein Fisch im Wasser").
Archiv: Film