Efeu - Die Kulturrundschau

In den Sphären des Besonderen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.12.2020. Der Guardian blickt mit Tracey Emin und Evard Munch gleich doppelt tief in die Seele gemarterter Frauen. SZ und Standard erschauern unter Martin Schläpfers Wiener Choreografie zu Gustav Mahlers vierter Sinfonie. Im Tagesspiegel sucht Agnès Gayraud die Versöhnung von Adorno und Pop. Die Zeiten stehen auf Kampf, erkennt ZeitOnline und schnürt sich ihre Chunky Boots noch ein wenig fester. Und die SZ gönnt sich mit Peter Stricklands Kurzfilmen eine Kopfmassage.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.12.2020 finden Sie hier

Kunst

Edvard Munch, Marats Tod, 1907.  Bild: Royal Academy


Ziemlich aufregend und auch erhellend findet Adrian Searle im Guardian die Ausstellung "The Loneliness of the Soul review" in der Royal Academy in London, die Bilder von Edvard Munchs neben Tracey Emins exorzistische Selbstporträt stellt: "In seinem Wert dramatisierte Munch sein Leben, seinen seelischen Zustand, seine Leiden, seine Schwierigkeiten mit Frauen und mit dem Alkohol. Emins Werk ist nicht weniger autobiografisch, bekennend und selbstdramatisierend - sie ist immerhin eine Geschichtenerzählerin -, auch wenn bei ihren Bildern der Titel das emotionale Gewicht trägt. Sie hat nichts von Munchs theatralischem, manchmal filmischen und beunruhigenden Sinn fürs Atmosphärische. Emins Gemälde ähneln eher einer Performance, einer Aufführung als einer Darstellung. Anders gesagt: Sie sind nicht auf die gleiche Art Bilder wie es Munchs sind."

Weiteres: Stefan Trinks gratuliert in der FAZ dem israelischen Bildhauer Dani Karavan zum Neunzigsten, der unter anderem das Mahnmal für die von den Nationalsozialisten ermordeten Roma und Sinti im Berliner Tiergarten entworfen hat. Im Tagesspiegel schwärmt Nicola Kuhn nach einer Online-Führung vom Istanbuler Zentrum Piramid Sanat, in dem Bedri Baykam, Gründer und Sohn eines früheren Bürgermeisters der Stadt, der Kunst einen Ort der Freiheit gewährt. Michael Nolte berichtet im Tagesspiegel von den Herbstauktionen bei Grisebach. Besprochen wird eine Schau des Malers Günther Förg in der Frankfurter Galerie Grässlin (FR)
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Bühne

"Mahler, live". Foto: Wiener Staatsoper / Ashley Taylor

Im Glanz einer tiefberührenden Stille erschauert Dorion Weickmann nach Martin Schläpfers Choreografie "4", mit der er seinen Einstand am Wiener Staastballett gab. Für Weickmann ist diese Bearbeitung von Gustav Mahlers vierter Sinfonie ganz glar ein Schlüsselwerk im Schaffen des Choreografen: "Vor allem aber fusioniert Martin Schläpfer Vergangenheit und Gegenwart, am augenfälligsten in Gestalt seiner leading ladies: Die enigmatische Yuko Kato hat er von seiner letzten Wirkungsstätte aus Düsseldorf mitgebracht, Rebecca Horner gehört seit 2017 der Solistenriege des Wiener Staatsballetts an. Schwesterlich schlurfen, springen, federn nun beide durch eine Choreografie, die nichts erzählt, aber dafür die menschliche Existenz orchestriert: in harmonischen und disharmonischen Körperklängen, in so leid- wie auch lustvollen Konstellationen." Fasziniert beobachtet auch Ronald Pohl im Standard, wie sich hier der Einzelne und die Gruppe in Beziehung setzen: "So wächst im Zusammenspiel von Musik und Tanz ein Entwurf gesellschaftlicher Bewegung, eine Metapher auf die vielschichtigen Energien der sozialen Kommunikation. Und die ist bunt, emotional, in einzelnen Passagen auch brutal." Die Aufführung ist auch in der arte-Mediathek zu sehen.

Besprochen werden Tatjana Gürbacas Kölner Inszenierung von Erich Wolfgang Korngolds Oper "Die tote Stadt" im Stream und mit einem aufgeblühten Gürzenich-Orchster (FR), Christopher Rüpings Inszenierung von Jean-Luc Lagarces Drama "Einfach das Ende der Welt" am Schauspielhaus Zürich (NZZ), Becketts Endzeitklassiker "Warten auf Godot" am Theater am Neumarkt (Nachtkritik) und Theresa Hennings Jugendstück "Beginn einer neuen Welt" am Theater Hannover (in dem Nachtkritiker Jan Fischer recht naiv Utopie und Revolution beschworen findet, taz).
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Literatur

Warum "Das Literarische Quartett" noch "Das Literarische Quartett" heißt, ist ihr schon seit längerem unklar, gesteht SZ-Kritikerin Marie Schmidt: Um literarische Fragen geht es in der ZDF-Sendung jedenfalls nicht mehr - und in der aktuellen Sendung hätte man zumindest Lisa Eckhart mit ihrer "bildungsbeflissenen Art" ja wohl in entsprechende Diskussionen verstricken können. "Aber für Ästhetik und Literatur interessiert sich in dieser Sendung eben vor allem die Moderatorin Thea Dorn nicht, die ihr Programm abstrampelt wie eine Turmlehrerin." Mehr Krawall in der im Vorfeld von einer Polemik Maxim Billers (unsere Resümees hier und dort) aufgeladenen Sendung hätte sich der Standard gewünscht: Doch Echkarts "Auftritt selbst erschien so belanglos wie das Format es mittlerweile geworden ist." Für Cornelia Geißler von der Berliner Zeitung war an diesem Abend eindeutig Ulrich Matthes Sieger nach Punkten, muss dabei aber auch ein wenig seufzen: "Literaturkritik wie Reich-Ranicki, Löffler und Karasek sie verstanden, spielt kaum noch eine Rolle."

Weitere Artikel: In der Welt berichtet Mladen Gladic vom ClimateFictionFestival im Literaturhaus Berlin. ZeitOnline bringt eine "vorweihnachtliche Horror-Erzählung" von Noémi Kiss. Außerdem präsentiert die Jury von Dlf Kultur und FAS die besten Krimis des Monats. Die neue Nummer Eins: Denise Minas "Götter und Tiere".

Besprochen werden unter anderem Grant Geissmans opulenter Bildband zur Geschichte der EC Comics (taz), Judith Zanders "Johnny Ohneland" (Tagesspiegel), Michel Houellebecqs neuer Essayband "Ein bisschen schlechter (online nachgereicht von der FAZ), Martin Schäubles "Cleanland" (Freitag) und Fürst Lahovarys Autobiografie "Mein abenteuerliches Leben als Hochstapler" (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Angelika Overath über Konstantinos Kavafis' "Grau":

"Ein grauer Opal, den ich anschaute,
Erinnerte mich an zwei schöne, graue Augen,
..."
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Design

Klobig-militärisch anmutende Schuhe im Traktor-Stil sind schon eine ganze Weile der absolute Hit, schreibt Antonia Baum in der Zeit. Sie haben ja auch einen ganz besonderen Reiz, denn sie sehen "sowohl militärisch als auch futuristisch", aber eben "ein bisschen bescheuert, aber irgendwie toll aus" - und passend zur Gegenwart wirken sie auch ein wenig wie das Schuhwerk, in denen sich in apokalyptischen Zeiten die Welt retten lässt: "Zukunft und Kampf, darum geht es, und selbstverständlich spielen Frauen in dieser Bekleidungserzählung eine zentrale Rolle, sicher nicht zuletzt, weil sie noch immer die Hauptadressatinnen von Fashion sind. So oder so gibt es aber ja gerade tatsächlich eine Menge Gründe, einen Traktor für die passende Antwort zu halten. Eine breite, hohe, das heißt Raum einnehmende Antwort, bei der es nicht um jene Schönheit geht, die typischerweise von Frauen gewünscht ist (zart, filigran, leicht). Der Schuh zu #MeToo, gewissermaßen, der Schuh gegen Klimazerstörung, Rassismus, Polizeigewalt, entfesselte Autokraten."
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Architektur

Matthias Aexander würdigt in der FAZ die Sanierung der Frankfurter Kirche Frauenfrieden, die der Frauenbund den Opfern des Ersten Weltkrieges errichtet hatte: "Dem Team um Architektin Ursel Härtter und Restauratorin Sanni Riek ist Großes gelungen. Wo zuletzt Nüchternheit herrschte, ist jetzt wieder eine zurückgenommene, gebrochene Feierlichkeit zu spüren."
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Film

Beruhigendes Haarewaschen: Peter Stricklands "Cold Meridian" (Mubi)

Ziemlich toll findest es Sofia Glasl in der SZ, dass der Arthaus-Streamer Mubi auch der hohen Kunst des Kurzfilms eine Plattform bietet. Aktuell ist dort zum Beispiel Peter Stricklands "Cold Meridian" zu sehen, in dem der Regisseur seine aus "Berberian Sound Studio" bekannten "synästhetischen Experimente" weiterführt. Strickland beobachtet eine Influencerin, die ASMR-Videos produziert: Sie liegt "mit dem Kopf über einem Friseurwaschbecken, zwei Hände shampoonieren ihre Haare in langsamen Kreisbewegungen ein. Das kruschelnd-beruhigende Rauschen und die mechanischen Bewegungen haben tatsächlich einen entspannenden Effekt, den Strickland mit dem grobkörnigen 16- und 8-Millimeter-Schwarz-Weiß-Material seines Films nachempfindet. In Gegenschnitten beobachtet er Zuschauer, die sich das Video online ansehen und verschränkt so Affekt und Beobachtung zu einer Versuchsanordnung."

Die teils entsetzten Reaktionen auf das Vorhaben des Film-Majors Warner, im kommenden Jahr sämtliche Blockbuster parallel zum Kino per Stream anzubieten, hält Andreas Busche im Tagesspiegel schon auch ein wenig für "alarmistisch, im Gegenteil sollte die Branche aus dem Experiment neue Schlüsse ziehen. Die Auflösung des 'Veröffentlichungsfensters' stellt nur eine weiter Etappe im kulturellen Wandel dar, nicht das Ende des Kinos. Filmtheater werden nicht verschwinden (einige sicher), schon weil die Studios die gewaltigen Einnahmen an den Kinokassen benötigen. Und weil es genug Menschen gibt, die das Kinoerlebnis einem Streamingabend vorziehen."

Weitere Artikel: Auf ZeitOnline widmet sich Schachexperte Ulrich Stock dem Erfolg der Netflix-Serie "Das Damengambit", deren Synchronisation man allerdings umgehen sollte, da hier "Begrifflichkeiten nicht stimmen". Für die FAZ resümiert Maria Wiesner das Berliner Science-Fiction-Filmfestival.

Besprochen werden die HBO-Serie "Wasteland" (taz), David Finchers Biopic "Mank" über den Hollywood-Drehbuchautor Herman J. Mankiewicz (Jungle World), Ron Howards "Hillbilly Elegie" (Jungle World, unsere Kritik hier) und Matthias Kleiners Buch "Streamland", eine wohl ziemlich krawallige, an der Grenze zur Selbstparodie beworbene Kritik an Netflix und Co, die laut Freitag-Kritikerin Arabella Wintermayr aber offenbar lediglich Erkenntnisse über die Vorbehalte des Autors bereit hält.
Archiv: Film

Musik

Im Gespräch mit dem Tagesspiegel versöhnt die Musiktheoretikerin und Popmusikerin Agnès Gayraud Adorno und den Pop - und zwar mit einem Umweg über Mozart, in dessen "Zauberflöte" sie eine "Utopie der Popularität" findet, nämlich das "Ideal einer Versöhnung durch Musik und in der Musik selbst. Zwischen Kunstfertigkeit und Vertrautheit, dem Genialen und dem Selbstverständlichen. ... Für Adorno hat die Kulturindustrie das Versprechen Mozarts getötet. Er zeigt auf, dass Populärmusik von Beginn an mit der Industrie verschmolzen war. Elvis erklingt zwar in unserem Wohnzimmer, aber Banalisierung und Standardisierung warten um die Ecke. Dennoch tendiert der Pop zum Ideal des individuellen Ausdrucks: Das ist sein magisches Versprechen, seine Erhabenheit. Wir müssen uns also mit dem Ideal und seiner Verneinung auseinandersetzen. Adorno ist ein objektiver Feind des Pops, aber für mich sein subjektiver Verbündeter. Er warnt: Was wir am Pop lieben, ist etwas sehr Zerbrechliches."

Ganz andere Aspekte am Pop machen Rasmus Peters in der FAZ zu schaffen: Längst haben Taylor Swift & Co. zugunsten von Beat und Wucht der Melodie den Kampf angesagt. Gerade in der Advents- und Weihnachtszeit für ihn ein bedenkliches Signal: "Die so oft beschworene und gewünschte Besinnlichkeit zur Weihnachtszeit liegt doch gerade darin, dass sie aus dem Takt wirft. Dass die Gemächlichkeit zugelassen wird, die den Alltagsrhythmus überwindet. In letzter Konsequenz ist die Melodiearmut symptomatisch für den Verlust einer Innerlichkeit, die sich aus der Übereinstimmung und nicht aus der Abgrenzung speist. Eine Melodie verweist als Besonderes auf das Allgemeine. Die rhythmisierte Botschaft der Popsongs bleibt in den Sphären des Besonderen hängen."

Weitere Artikel: In der FAZ staunt Holger Kleine darüber, "wie viel Chaplin in Beethoven steckt". Die taz spricht mit Antonia Baum über Eminem, über den die Schriftstellerin gerade ein Buch veröffentlicht hat. Amira Ben Saoud erklärt im Standard, welche Musik wirklich glücklich macht und warum. Christiane Peitz hat für den Tagesspiegel die Aufzeichnung des Weihnachtskonzert des RIAS Kammerchors besucht. Außerdem gibt Peitz im Tagesspiegel Klassik-Streamingtipps.

Besprochen wird das neue Album von Hayiti (Freitag). Außerdem liefert das Logbuch Suhrkamp die 86. Folge von Thomas Meineckes "Clip//Schule ohne Wort":

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