Efeu - Die Kulturrundschau

Leider nur sehr eingeschränkt erreichbar

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27.11.2020. Der Tagesspiegel fragt, warum das Spandauer Rathaus in Berlin nicht tätig wird, während ein Privathaus von Scharoun verschandelt wird. Die Schriftstellerin Katja Lange-Müller setzt ihren Schnutendeckel ab und liest auf einer Parkbank, erfahren wir aus der SZ. Die taz schwelgt in Liebes- und Todessehnsucht mit der Musicbanda Franui. Die FAZ stellt die Künstlerin Therese aus dem Winckel vor, die selbst glaubte, dass Frauen besser nicht genial sein sollten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.11.2020 finden Sie hier

Architektur

Foto: Norhei. CC-BY-SA-3.0 Self-published work. Quelle: Wikimedia.



Im Tagesspiegel empört sich Michael Bienert über die neue Besitzerin eines unter Denkmalschutz stehenden Privatbaus von Hans Scharoun an der Havel, die offenbar groß umbaut, wie Nachbarn bemerkten: "Plötzlich war der halbe Garten verschwunden, im Abhang am Fuß der Villa klaffte eine sandfarbene Baugrube. Auch das Haus wurde beschädigt. So fehlt inzwischen die Treppe, die die Terrasse im Obergeschoss mit dem Garten verband. Die seitlich angebaute Garage wurde abgerissen, wohl mit Genehmigung der Spandauer Bauaufsicht. In einen Teil der Baugrube ist inzwischen eine vielfach größere Autoabstellanlage einbetoniert worden. ... Das Ganze sei ein Schwarzbau, heißt es aus dem Spandauer Rathaus", von dessen Leiter Bienert statt mehr Auskunft aber nur eine Mail bekommt: "Das Stadtentwicklungsamt ist derzeit aus Gründen der Infektionsprävention im Zusammenhang mit dem Corona-Virus leider nur sehr eingeschränkt erreichbar bzw. personell besetzt. Bei der Bearbeitung Ihres Anliegens kann es deshalb trotz aller Bemühungen zu Verzögerungen kommen."
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Literatur

Die Schriftstellerin Katja Lange-Müller erzählt in der SZ, wie sie sich ein Herz fasste und in Ermangelung anderer Möglichkeiten zur Autorenlesung auf einer Parkbank im Berliner Bezirk Wedding einfach drauflos las. Bald kam auch Publikum, wenngleich keines, wie man es von gewöhnlichen Lesungen her kennt: "Obdachlose, die dort kampieren, Jugendliche mit 'Wegbier'-Flasche, Frauen mit und ohne Kopftuch, Kinder, Passanten, die irgendwohin wollten. Sie verweilten den einen oder anderen Moment, schauten mich kein bisschen verwundert an, falls ich das richtig deute, denn sie trugen fast alle vorschriftsgemäß ihre 'Schnutendeckel'. ... Eine besonders unangenehme Erfahrung, kann ich sagen, war das nicht. Ich werde es wieder tun, womöglich eher in Charlottenburg. Allerdings überlege ich noch, ob ich dann zu meinen Füßen auch ein Pappschild mit der Aufschrift 'Dichterlesung' und eine Blechdose für Münzen platziere."

Weitere Artikel: Immerhin in Büchern lässt sich noch durch Paris flanieren, tröstet sich Clemens Klünemann in der NZZ. Im Tagesspiegel schreibt Bela Sobottke einen Nachruf auf den Comiczeichner Ralph Niese, der mit nur 37 Jahren gestorben ist. Außerdem hat der Bayerische Rundfunk eine vierteilige Hörspiel-Adaption von Elena Ferrantes erstem Neapel-Roman "Meine geniale Freundin" produziert und online gestellt. Dazu passend in unserem Buchladen Eichendorff21: ein Büchertisch mit Autorinnen, die Ferrante ihnen wärmstens ans Herz legt.

Besprochen werden unter anderem Barack Obamas "Ein verheißenes Land" (Freitag), die Comic-Anthologie "Sie wollen uns erzählen", die Tocotronic-Songs ins Bild setzt (Tagesspiegel), Stefanie Sargnagels "Dicht" (FR), Seraina Koblers "Regenschatten" (NZZ), Jonas Jonassons "Der Massai, der in Schweden noch eine Rechnung offen hatte" (Standard) und Nick Hornbys "Just Like You" (SZ).
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Musik

Blasinstrumentlastige Neuinterpretationen von romantischen Kunstliedern - auf dem Papier klingt das Konzept der österreichischen Musicbanda Franui zunächst nach einer drolligen Wirtshausidee, gibt SZ-Kritiker Helmut Mauró zu. Begeistert ist er, wie zuvor schon weite Teile des Klassikbetriebs, aber dennoch, was auf dem neuen Franui-Album "Alles wieder gut" vor allem auch mit dem Bassbariton Florian Boesch zu tun hat: "Nicht nur, weil er über eine wunderbar geführte, flexible, klangschöne Stimme verfügt, sondern weil er dem musikphilosophischen Konzept von Franui so leidenschaftlich willig folgt, als habe er nie etwas anderes gesungen als die wunderbar schrägen Neudeutungen von Schubert-Liedern." Zu erkunden ist somit "eine hinreißend unvertraute neue Klangwelt".

Auch tazlerin Katharina Granzin ist hin und weg, wie das Ausgangsmaterial liebevoll gegen den Strich gebürstet wird: "Liebes- und Todessehnsucht gehen Hand in Hand in diesen Liedern und Texten; emotionale Zustände wie Einsamkeit, Verlassensein und Trauer werden zu überwältigenden Gefühlen." Doch "so schmerzlich der dunkelsamtene Bass von Florian Boesch seine Phrasen durchlebt, so unmöglich ist es den Zuhörenden, sich diesen Weltschmerz ungefiltert zur Brust zu nehmen, wenn gleichzeitig neben dem Sänger eine Klarinette spöttisch präludiert, eine Trommel auffordernd puckert und eine Zither so ungemein menschenfreundlich zirpt." Wir hören rein:



Weitere Artikel: Dass Kulturschaffende erbost darüber sind, dass Kultur in den Coronamaßnahmen unter "Freizeit" subsumiert wird, ringt Freizeitforscherin Renate Freericks im VAN-Gespräch nur ein mildes Lächeln ab: "Ach, das gibt es schon so lange." In einem epischen Longread für VAN resümiert Patrick Hahn seine musikalische Indienreise auf den Spuren von "West-Eastern Divans" und der Fragen nach kultureller Aneignung. Für die taz spaziert Andreas Hoffmann mit dem Elektro-Musiker Stefan Betke alias Pole durch einen Berliner Volkspark. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker über Augusta Holmes. Außerdem präsentiert Lücker in VAN vier Aufnahmen von Johannes Brahms' erster Sonate für Klavier und Klarinette f-Moll.

Besprochen werden das Debütalbum der Rapperin Megan Thee Stallion (taz, mehr dazu bereits hier), Alf Burchardts und Bernd Jonkmanns Bildband "Hamburg Calling" über die Hamburger Punkszene um 1980 (Welt), André Alslebens Buch über die legendäre DDR-Tour der norwegischen Black-Metal-Band Mayhem (SZ) sowie neue Alben von Lambchop (Presse), AnnenMayKantereit (Presse) und Stella Sommer. Darauf zu hören gibt es laut taz-Kritiker Steffen Greiner "Musik, die klingt wie herübergeweht aus den goldenen Zeiten des Pop." Wir hören rein:

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Bühne

In der SZ stellt Alexander Menden die Neue am Dortmunder Schauspiel vor, die Intendantin Julia Wissert. Im Sommer, mitten in der Pandemie hat sie ihr Amt angetreten, in dem sie mehr Diversität auf der Bühne durchsetzen will. Aber erst mal ist sie in Dortmund heimisch geworden: "Mit einnehmender Begeisterung erzählt Wissert von Menschen, die sie in der Fußgängerzone begrüßt hätten ... Einmal sei sie essen gewesen und habe ihr Geld vergessen: 'Ich sage, ich gehe schnell und hole welches, ich lasse Ihnen meinen Führerschein da. Und der Mann meint: Frau Wissert, bitte! Man hat mir erzählt, wer Sie sind. Kommen Sie einfach irgendwann vorbei. Und ich denke: Alter, das ist hier wirklich ...' Sie lässt den Satz offen ausklingen, fügt allerdings an, dass es sich anders anfühle als in ihrer Geburtsstadt Freiburg. Dort werde ihre Mutter, die seit vierzig Jahren dort lebe, von manchen noch immer als Zugereiste betrachtet, die 'irgendwann doch noch mal zurück ins Saarland zieht'."

Dramaturg Bernd Feuchtner ist sauer auf das Virus, die Politik und die Theatermacher. Im Tagesspiegel warnt er: "Wenn nun auch im Dezember nicht differenziert nach funktionierenden oder eben nicht funktionierenden Hygienekonzepten der einzelnen Veranstalter entschieden wird, wird es im Jahr 2021 dunkel. Mit der Kultur fährt auch die Bildung in den Graben, obwohl sie die wichtigste Investition in die Zukunft ist. ... Die Theater müssen sich aber auch an die eigene Nase fassen. Schaut man in das letzte Jahrbuch des Bühnenvereins, so haben die deutschen Opernhäuser seit dem Jahr 2000 über 20 Prozent ihrer Besucher eingebüßt. Und blickt man noch weiter zurück, dann hat sich im deutschsprachigen Raum die Zahl der Opernaufführungen von 14 000 in der Spielzeit 1965/66 bis zur Spielzeit 2018/19 auf 7000 halbiert. Wenn das kein Grund ist, die Repertoirepolitik zu überprüfen."

Weiteres: Die nachtkritik streamt heute abend ab 18 Uhr Nicolas Stemanns "Corona-Passionsspiele" vom Schauspielhaus Zürich, ab 20 Uhr kann man auch mit dem Regisseur chatten. Besprochen werden Herr Finnlands Inszenierung von Nestervals Game-Theaters "Goodbye Kreisky" am Brut Wien (nachtkritik, Standard), Philipp Jeschecks Inszenierung von Petra Maria Kraxners Stück "Alter Ego" im Tiroler Landestheater, ebenfalls im Stream (Standard).
Archiv: Bühne

Film

Kennt man schon: Alan Balls "Uncle Frank"

Eigentlich wäre Alan Balls Coming-Out-Drama "Uncle Frank" der klassische Oscar-Köder der Kino-Herbstsaison mit ihren Arthaus-Dramen, erklärt Daniel Kothenschulte in der FR. Wegen Corona landet der Sundance-Erfolg nun ohne Leinwandumweg direkt auf den Streamingkanälen. Wahnsinnig schade darum ist es aber offenbar nicht: Ball hat zwar Film- und Serienklassiker wie "American Beauty", "Six Feet Under" und "True Blood" geschrieben, "doch auch erstklassige Serienarbeiten führen zu Routinen. Und wahrscheinlich schüttelt man nach Dutzenden von Folgen auch ein Kinodrehbuch dann einfach so aus dem Ärmel, routiniert, aber ohne Widerhaken. ... Am Ende ist es nicht anders als bei vielen der Serien, auf die sich Amazon und Netflix ja spezialisiert haben - man versinkt förmlich in einschmeichelnder Glätte - und hat am Ende das Gefühl, nichts gesehen zu haben, das man noch nicht kannte."

Weitere Artikel: Andreas Busche gibt im Tagesspiegel Tipps zur derzeit digital stattfindenden Französischen Filmwoche. Dort läuft auch der neue Film von Arnaud Desplechin, den Perlentaucherin Thekla Dannenberg bespricht. In der FAZ gratuliert Dietmar Dath Ed Harris zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Elem Klimows auf DVD veröffentlichter Antikriegsfilmklassiker "Komm und sieh" (Berliner Zeitung), David Finchers Biopic "Mank" über den Hollywood-Drehbuchautor Herman J. Mankiewicz (Welt) und die ägyptische Netflix-Serie "Paranormal" (Presse).
Archiv: Film

Kunst

Therese aus dem Winckel, Selbstporträt 1867. Foto: Wikipedia
In der FAZ schreibt Patricia Klessen über die Dresdner Künstlerin Therese aus dem Winckel, die heute kaum jemand kennt und die sich auch selbst als Frau nicht für bedeutend genug hielt, ihre eigene Sprache beim Malen zu entwickeln. Sie beschränkte sich auf das Kopieren und blieb dabei ganz Kind ihrer Zeit: "Ende des achtzehnten Jahrhunderts im Zeitalter der Aufklärung herrschte noch immer die Überzeugung vor, dass übermäßige weibliche Einbildungskraft schädlich sei und gar zu Missbildungen bei Föten führen könne. Originell und genial zu sein war überwiegend Männern vorbehalten. Besonders im Verlauf des nächsten Jahrhunderts verfestigten sich die bürgerlichen Geschlechtscharaktere, die Frauen und Männern bestimmte Aufgaben und Sphären zuwiesen. Dass Frauen reproduktive Arbeit leisteten, nämlich Kinder zu gebären, war der Grund, sie auch auf andere für Pflege und Erhaltung zuständige Felder zu verweisen. Die Kopierkunst wurde dabei mit Rückgriff auf Geschlechtscharaktere als Äquivalent zur naturgemäßen Bestimmung der Frau betrachtet."
Archiv: Kunst