Efeu - Die Kulturrundschau

Das überwältigt

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.10.2020. Rund hundert KünstlerInnen protestieren in einem offenen Brief in The Brooklyn Rail gegen die Absage der Philip-Guston-Ausstellung. Die New York Times erklärt, warum Guston seinen Nachfolgern so viel bedeutet . Die SZ jubelt über die "magische Alleskönnerin" Joana Mallwitz, die Monteverdis "Orfeo" in Nürnberg zum Swingen brachte. Der Tagesspiegel begrüßt die späte Neubewertung der Ostmoderne. Im Münchner Feuilleton wütet Oskar Röhler gegen die "geistige Idiotie und Mutlosigkeit" des deutschen Fernsehens. Die NZZ trauert um den Modemacher Kenzo Takada, der die Welt mit seinem Jungle Jap ein wenig chaotischer machte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.10.2020 finden Sie hier

Bühne

Supersänger und It-Girl: Monteverdis "Orfeo" am Staatstheater Nürnberg.  Foto: Ludwig Olah

Hingerissen ist Reinhard Brembeck in der SZ von Monteverdis "Orfeo", den Regisseur Jens-Daniel Herzog in Nürnberg mit Martin Platz in der Titelrolle mitreißend zur Aufführung brachte. Der Nürnberger Chefdirigentin Joana Mallwitz aber liegt Brembeck zu Füßen: "Mallwitz ist eine der magischen Alleskönnerinnen unter den Dirigenten. Sie kann Mozart und Verdi, Wagner und Monteverdi. Sie camoufliert ihr starkes Ego mit einem sinnlich warmen Klang, sie gibt stets swingende Rhythmen dazu, sie beherrscht Zuschauer, Musiker und Sänger, ohne zu bevormunden. Das überwältigt. Als des Sängers Kunst umsonst an Charon verschwendet sind, dirigiert Mallwitz einen traumverlorenen Schwebetanz, der diesen rüden Funktionär einschläfert. Und als der Sänger endgültig die Liebste verloren hat, lässt sie das Orchester abgrundtief trauern. Wunder über Wunder."

Barbara Mundel, die neue Intendantin der Münchner Kammerspiele, kündigt im taz-Interview mit Annette Walter an, wieder stärker an die weibliche Geschichte des Hauses anzuknüpfen: "Deshalb benennen wir zum Beispiel die Kammer 2 in Therese-Giehse-Halle um - nach einer der interessantesten, berühmtesten Schauspielerinnen der Kammerspiele. Wir machen das Projekt 'Bayerische Suffragetten', denn München war vor 120 Jahren eine absolute Hochburg der Frauenbewegung. In den 1950ern hat man es nicht geschafft, an viele Dinge, die die Frauen damals gedacht haben, anzuknüpfen."

Weiteres: Ulrich Seidler berichtet in der Berliner Zeitung von der Trauerfeier für den Schauspieler Jürgen Holtz im Berliner Ensemble.

Besprochen werden Abende mit Luca Francesconis Opernfassung von Heiner Müllers "Quartett" ("Francesconis Komposition klingt genau so, wie sich Verächter zeitgenössischer Musik sich die Karikatur einer "modernen Oper" vorstellen", warnt Frederik Hanssen im Tsptaz, FAZ), Richard Strauss' "Salomé" an der Wiener Staatsoper unter dem Dirigenten Alexander Soddy ("Früher hätte das Publikum nach einer solchen Aufführung eine halbe Stunde applaudiert, ruft Stefan Ender im Standard), Suna Gürlers jugendaffine Inszenierung von Frank Wedekinds "Frühlings Erwachen" in Zürich (die Daniele Muscionico in der NZZ natürlich "voll geil" findet), die Inszenierung "Sensemann & Söhne" im Mainzer Staatstheater (FR), Anna Bergmanns Uraufführung "Die neuen Todsünden" am Badisches Staatstheater Karlsruhe (Nachtkritik), Aufführungen bei den Autorentagen im Deutschen Theater (Nachtkritik, Berliner Zeitung) und Claudia Bauers Inszenierung von Klaus Manns "Mephisto" im Schauspiel Frankfurt (Nachtkritik, FAZ).
Archiv: Bühne

Design

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Der japanische, in Paris wirkende Modedesigner Kenzo Takada ist mit 81 Jahren an Covid-19 gestorben. "Seine Mode war stets bunt und fröhlich", erinnert sich Jürg Zbinden in der NZZ. Vor allem aber war er ein Rebell: "In den fünfziger Jahren war der Begriff 'Kreativität' in Japan absolut verpönt, noch absurder schien die Vorstellung von einem Mann, der Mode machen wollte. ... . Typisch Kenzo waren verspielte Blusen mit Puffärmeln, plissierte Haremshosen und fließende, mit floralen Mustern bedruckte Kimonos. 'Jungle Jap' war in aller Munde. 'Ich wollte die zwei Dinge zusammenbringen, die ich liebte, den Dschungel und Japan.' Und weiter: 'Als ich anfing, hatte ich Henri Rousseaus Gemälde 'Le Rêve' von 1910 vor Augen. Und es funktionierte.'" Bei ihm "trafen klassische Karos auf Kirschblütenmuster, folkloristische Elemente aus dem Orient oder Südamerika wurden als Patchwork verarbeitet", schreibt Carmen Böker im ZeitMagazin, die sich auch daran erinnert, dass Kenzo "seine Shows gern in Zirkuszelten gezeigt hat, und einmal ist er auf einem Elefanten in die Manege geritten." Seine Entwürfe waren "auf fröhliche Weise chaotisch und übergroß", schreibt Vanessa Friedman in der New York Times, wo sich auch noch ein Interview mit Kenzo aus dem Jahr 1972 findet.
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Kunst

Der Kapuzen-Mann im Künstler: Philip Gustons "Studio", 1969. Bild: Philip Guston und Hauser & Wirth

In einem Offenen Brief in The Brooklyn Rail protestieren rund hundert KünstlerInnen und KritikerInnen gegen die Absage der Philip-Guston-Ausstellung in der Tate Modern und der National Gallery in Washington (unser Resümee): "Die Menschen, die unsere großen Instutionen leiten, wollen keinen Ärger. Sie fürchten die Kontroverse. Sie haben kein Vertrauen in die Intelligenz ihres Publikums", schreiben unter anderem Barry Schwabsky, Matthew Barney, Nicole Eisenman, Adrien Piper und Dana Schutz. In der New York Times erklärt Martha Schwendener, warum gerade Künstler auf die Großartigkeit von Guston bestehen, der in seinen Bildern immer wieder cartoonhafte Ku-Klux-Klan-Typen paradieren ließ: "Along with the return of figures and the hoods - now drawn in a crude, cartoonish fashion that shocked even his peers in the early '70s - Guston continued to paint ordinary objects: shoes, cans, clocks and bricks that asserted both the materiality and everydayness of painting. The critic Harold Rosenberg called his later work 'a liberation from detachment' - which is to say, it was unafraid to address messy politics, the body, failure, or the changes an artist goes through in his lifetime. And this is why artists have rallied behind Guston: They see an ally in his work, a dedication to craft and self-reflection - but also a model of courage and liberation in the face of oppression, whether in the art world or beyond."

In der SZ schäumt Catrin Lorch vor Wut über die Absage, mit der die Museen den Künstler leichtfertig preisgegeben hätten. Genauso unerträglich findet sie aber, dass die Royal Academy Michelangos Relief "Taddei Tondo" verkaufen will, um Geld in die Kassen zu bringen: "Vor allem aber ist es erstaunlich, dass man die Direktoren von Kunstmuseen offensichtlich daran erinnern muss, dass sie sich - sei es in ästhetischen Debatten oder bei finanziellen Schwierigkeiten - vor die Kunst zu stellen haben. Dass sie vor allem der Kunst und den Künstlern verpflichtet sind, dass ihre ureigenste Aufgabe die Bewahrung von Kunstwerken ist. Es wird noch mehr Streit, Kampf, Polemik geben. Und Geld? Erst einmal keins. Die Hoffnung für die Zukunft ist, dass Gustons Gemälde und Michelangelos Tondo irgendwie durchkommen, von den Nachfolgern der gegenwärtig Amtierenden besser geschützt werden."

Besprochen werden die große Ausstellung zu Gerhard Richters Landschaftsmalerei im Kunstforum Wien (SZ), die Artemisia-Gentileschi-Schau in der National Gallery in London (FAZ) und Thao Nguyen Phans Tribut an den Mekong "Becoming Alluvium" in der Chisenhale Gallery in London (Guardian).
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Film

Rainer Werner Fassbinder. Foto unter cc Lizenz: Gorup de Besanez


Im Gespräch mit dem Münchner Feuilleton schießt Oskar Roehler, der gerade sein Fassbinder-Porträt "Enfant Terrible" (unser Resümee) in die Kinos gebracht hat, munter gegen alle und jede. In der heutigen, stark vom Fernsehen geprägten Produktionslandschaft wäre jemand wie Fassbinder gar nicht mehr möglich schimpft er: "Fassbinder bekam beispielsweise von Günter Rohrbach für einen Film wie 'Martha' schnell mal ein paar hunderttausend Mark in die Hand gedrückt. Und dann hieß es: Los geht's! Wegen der geistigen Idiotie und Mutlosigkeit in unserem System entstehen heute überhaupt keine Filme mehr wie 'Faustrecht der Freiheit'. ... Parallel dazu ist seit den siebziger-Jahren ein riesiger Fernsehmarkt entstanden: allerdings auf einem extrem niedrigen Niveau. Der verhält sich wie eine gigantische Krake, die sämtliche Sendeplätze für ein anderes Kino aufgefressen hat. Zusammen mit der damit einhergehenden Infantilisierung kannst du darin überhaupt keinen anspruchsvollen Fernsehfilm mehr drehen." Mit Roehlers Hauptdarsteller Oliver Masucci hat der Tip ein großes Gespräch geführt.

Weitere Artikel: Esther Buss empfiehlt im Tagesspiegel die Werkschau Bertrand Bonello im Berliner Kino Arsenal. Die Taz und der Tagesspiegel blicken zurück auf 20 Jahre "Gilmore Girls". Für die Berliner Zeitung spricht Karim Mahmoud mit dem Schauspieler Volker Bruch über die dritte Staffel von "Berlin Bablyon". In der NZZ plaudert Lory Roebuck mit Til Schweiger. Besprochen wird die BluRay-Ausgabe der "The Woman"-Trilogie nach den Horrorromanen von Jack Ketchum (SZ).
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Architektur

Speisesaal Der Robotron-Kantine in Dresden. Datum unbekannt, Foto: Eberhard Wolf / Netzwerk Ostmodern

Nicola Kuhn kann sich im Tagesspiegel Forderungen nach einer Neubewertung der DDR-Architektur nur anschließen, wie sie jetzt etwa auch das Netzwerk Ostmoderne mit dem Beispiel der Robotron-Kantine in Dresden. Denn die sozialistische Städteplanung, meint Kuhn, besaß ganz andere gesellschaftliche Relevanz und Identifikationskraft als die Architektur im Westen: "Für manchen ikonischen Bau kam das Umdenken zu spät, heute wird das Berliner Außenministerium zu den Verlusten gerechnet. Auch für den Palast der Republik ließ sich die Entscheidung nicht mehr revidieren. Der Abriss der unweit gelegenen Großgaststätte Ahornblatt führte zumindest dazu, dass alle weiteren Bauten von Ulrich Müther unter Schutz gestellt worden sind. Zugleich wurde sichtbar, wie trivial viele der stattdessen errichteten Bauten sind. Die überall sprießenden Getränkemärkte öffneten die Augen für die Materialqualitäten der DDR-Moderne mit ihren vielfältigen Mosaiken und unterschiedlichen Oberflächen, darunter die Metallfassaden der Warenhäuser. Mit dem wenig später einsetzenden Wahn der Wärmedämmungen verschwanden noch mehr Putzfassaden. Heute wird ihnen nachgetrauert."
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Literatur

Emmanuel Carrère und seine Ex-Frau, die Journalistin Hélène Devynck, liegen derzeit im Clinch, berichtet Johanna Adorjan in der SZ: In seinem neuen, für den Prix Goncourt nominierten Buch "Yoga" habe der Schriftsteller entgegen bestehender Vereinbarungen auch über sie und ihre Ehe geschrieben. "Auch wenn die Trennung (...) nicht explizit vorkommt, schimmert ein gravierender Bruch im Leben des Ich-Erzählers zwischen vielen Zeilen durch, und einmal, kurz vor Schluss, wird er auch ausbuchstabiert. Da zitiert Carrère auf einmal zwei Seiten lang aus seinem zwölf Jahre alten Buch 'D'autres vies que la mienne'; an der betreffenden Stelle geht es um seine Liebe zu ebenjener Hélène, die er auch namentlich nennt: Mit ihr sei er angekommen. Das, was so vielen anderen versagt bleibe, habe er mit ihr gefunden. Um dann aber bitter aus dem Heute zu ergänzen: 'Es ist nicht so gekommen.' Mit dieser Passage, schreibt Denvyck, habe er mutwillig und trickreich ihre Vereinbarung gebrochen. Es sei eine 'grobe List', einen alten Text über sie nochmals zu veröffentlichen, sie empfinde das als Verrat."

Außerdem: Die Berliner Zeitung spricht mit Bernhard Schlink. Andrea Pollmeier berichtet in der FR von einem Vortrag des Schriftstellers Robert Menasse. Ralf Gebel hat für die Berliner Zeitung nochmal Ernst Jüngers vor hundert Jahren veröffentlichtes Kriegstagebuch "In Stahlgewittern" aus dem Regal geholt. Ralph Trommer schreibt in der taz einen Nachruf auf den argentinischen Comicautor Quino. Heute vor 150 Jahren geriet Theodor Fontane in französische Kriegsgefangenschaft, erinnert Tilman Krause in der Welt. Außerdem kürt die Jury von FAS und Dlf Kultur die besten Krimis des Monats. Auf der Spitzenposition: Garry Dishers "Hope Hill Drive".

Besprochen werden unter anderm Thilo Krauses "Elbwärts" (NZZ), Samanta Scheblins "100 Augen" (Tagesspiegel), Hubert Achleitners "Flüchtig" (online nachgereicht von der FAZ), Gustave Flauberts "Lehrjahre der Männlichkeit" (NZZ), James Lawrence Powells "2084" (Freitag), Peter Stamms Erzählungsband "Wenn es dunkel wird" (SZ) und neue Krimis, darunter Éric Plamondons "Taqawan" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Renate Schmidgall über Maciej Niemiecs "Sommertage":

"Sommertage, sie gehören uns schon - sind Erinnerung,
die Hitze kehrt in diesem Jahr nicht wieder ..."
Archiv: Literatur

Musik

Schwimmt auch ohne dramatisierende Filmmusik: Walross in der Arktis. Screenshot aus der Doku "Faszinierende Arktis"


Dass die öffentlich-rechtlichen Sender Naturdokumentationen senden, ist ja ok, aber warum mit einer derart unerträglichen Musik, die einen gleich wieder zum Ausschalten drängt, fragt Daniele Dell'Agli in einen Perlentaucher-Essay: "Naturphänomene musikalisch zu Actionsequenzen umzudeuten läuft letztlich darauf hinaus, das dokumentarische Material zu fiktionalisieren - Geparden und Wanderfalken, Sandstürme und Lavaströme werden zu Darstellern ihrer selbst auf einer gigantischen Bühne, als wären sie von der Regie selbst einbestellt worden. Keine Raubtierjagd ohne rituelles Getrommel, keine Gefahrensituation ohne pulsierende Zweitonostinati in den tiefen Streichern, die sogleich flächig in höhere Lagen entschweben, wenn die Situation aus der Panoramaoptik sich friedlich entspannt."

Außerdem: Für ZeitOnline spricht Dirk Peitz mit Roísín Murphy über ihr neues Album. Harry Nutt (Berliner Zeitung), Karl Fluch (Standard), Jürg Zbinden (NZZ) und Stefan Hentz (NZZ) erinnern an Janis Joplin, die am 4. Oktober vor 50 Jahren gestorben ist. Dlf Kultur hat der Sängerin aus diesem Anlass eine "Lange Nacht" gewidmet. Maxi Leinkauf schreibt im Freitag einen Nachruf auf die vor kurzem verstorbene Chansonistin Juliette Gréco.

Besprochen werden die Uraufführung von Wolfgang Rihms "Stabat Mater" in Berlin (VAN, Zeit), eine Compilation zur Geschichte des DDR-Punks (Freitag), Sasebos Debütalbum "Monkey Business" (taz), Joy Denalanes "Let Yourself Be Loved" (Freitag), Brad Mehldaus Auftritt beim Enjoy-Jazz-Festival in Ludwigshafen (FAZ), Cembalo-Konzerte unter anderem von Christine Schornsheim beim Forum Alte Musik in Zürich (FAZ) und das dritte Album der britischen Postpunkband Idles, die für ihren Erfolg derzeit ziemlich angegiftet wird (NZZ). Wir hören rein:

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