Efeu - Die Kulturrundschau

Fiesheit und Farce

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14.09.2020. Die Filmfestspiele von Venedig enden mit einem Goldenen Löwen für Chloé Zhaos "Nomadland" mit Frances McDormand. Die Entscheidung lässt die Kritiker jubeln, naja, außer einem. Rainald Goetz überwältigt SZ, FAZ und Welt mit seinem geschichtsphilosophischen Drama "Reich des Todes" am Hamburger Schauspielhaus. Die FAZ lässt im Amsterdamer Nxt Museum ihre emotionale Stabilität errechnen. Die NZZ verteidigt die Autonomie der Kunst gegen die Mythenverächter.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.09.2020 finden Sie hier

Film

Frances McDormand in "Nomadland"

Der Gewinner lief erst ganz zum Schluss: Mit dem Goldenen Löwen für Chloé Zhaos "Nomadland" sind die Filmfestspiele von Venedig zu Ende gegangen. Der Film folgt einer von Frances McDormand gespielten Frau, die das Leben dazu zwingt, ihre gewohnte Umgebung zu verlassen und sich auf einen Roadtrip zu begeben. Als "stille Meditation über das Abschiednehmenmüssen im Leben" und "Allegorie auf die wirtschaftlich gebeutelten USA in der Folge der Finanzkrise" ist dieser Film "ein verdienter Goldener Löwe", urteilt Tim Caspar Boehme in der taz. "Ein Low-Budget-Juwel" sah SZ-Kritiker Tobias Kniebe, Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche bezeugt "einen modernen Western, voller Mythen über die Unverwüstlichkeit des Pioniergeists, nur ohne die dem Genre eigene Verklärung. Die eigentliche Sensation ist jedoch McDormand, die entgegen ihrer Gewohnheit zurückgenommen, fast in sich gekehrt spielt." Die Regisseurin "malt das Fresko eines Landes im Übergang, eine 'frontier' der Auflösung", erklärt Dominik Kamalzadeh im Standard. Dieser Filmemacherin "gehört die Zukunft", schwärmt Daniel Kothenschulte in der Berliner Zeitung, der - wie seine Kollegen auch - insgesamt auf einen soliden Jahrgang zurückblickt: Wenig Filme für die Ewigkeit, "aber gerade an den Rändern des Festivals war Erstaunliches zu finden", so etwa Chaitanya Tamhanes "The Disciple" und Yulene Olaizolas "Tragic Jungle".

Überhaupt nicht einverstanden mit dieser Entscheidung ist allerdings Rüdiger Suchsland von Artechock: Vergeben wurde hier "ein Preis für einen formlosen, unglaublich langweiligen Film ohne Dramaturgie, ohne Handlung, für Arte Povera, die die Kunst des Films nicht weiterbringt, sie eher zurückwirft." Geradezu "eine Qual" sei es, sich diesem Film auszusetzen. "Schon klar: Es geht um Solidarität. Aber was soll dieser Film gegen die schlechten Verhältnisse tun? Trumps Wiederwahl verhindern vielleicht. Diese Arroganz von Jurys, die glauben, dass sich die Politik, gar die Weltpolitik für ihre Preise und Urteile interessiert, und dass sie irgendetwas ändern können, wenn sie einen bestimmten Film auszeichnen!"

Weitere Artikel: Für die taz spricht Patrick Heidmann mit Luca Guadagnino über dessen HBO-Serie "We Are Who We Are". In der Berliner Zeitung empfiehlt Claus Löser die Michael-Mann-Retrospektive im Kino Arsenal. Besprochen werden Pedro Costas "Vitalina Varela" (Freitag, mehr dazu bereits hier) und Charlie Kaufmans Netflix-Film "I'm Thinking of Ending Things" (SZ).
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Bühne

Rainald Goetz_ "Im Reich des Todes". Foto: Arno Declair / Hamburger Schauspielhaus

Rainald Goetz meldet sich zurück auf der Bühne, acht Jahre nach seinem letzten Roman und über zwanzig Jahre nach seinem letzten Stück wurde am Hamburger Schauspielhaus sein Drama "Reich des Todes" uraufgeführt. In der SZ sieht Till Briegleb darin ein "Spätwerk zur politischen Kritik demokratischer Instabilität", vor dessen "konzentrierter Überfülle der Gedanken" er nur kapitulieren kann. Es geht um den 11. September, Abu Ghreib und die Falken-Regierung unter George Bushs Vizepräsidenten Dick Cheney: "Sebastian Blomberg spielt diesen Schattenpräsidenten ... Geifernd, grell, übertrieben gemein, ein Entertainer der Staatsintrige, der keine Skrupel kennt. Und in diesem Ton aus Fiesheit und Farce entwickelt sich Karin Beiers Textinterpretation zwei Stunden lang zu einer Satire von Herrschaftsverhältnissen. Rumsfeld (Burghart Klaußner) tanzt mit Hitlertolle und schwarzen Reiterhosen, singt zum Banjo ein Schlager über die geglückte Verschwörung, während im Gegenreich des Todes, dem amerikanischen Gefangenencamp Abu Ghraib, die Folter getanzt wird und die Kommandantin (Anja Laïs) eine Karikatur aus Napoleon und KZ-Aufseherin ist, der die Schreie der Opfer Kopfschmerzen machen."

In der FAZ ist Florian Meinel überwältigt von der "Tragödie des Rechts", zu der sich Goetz' Drama um universelle Normen steigert: "In diesem Drama sind die politischen Berater und die Verwaltungsstäbe darum keine indirekten Gewalten mehr, sie sitzen anders als im Schauspiel der Souveränität nicht mehr in den Vorzimmern der Macht, sondern sind die Macht selbst, als Ensemble von Maßnahmen, Phrasen, Entscheidungen und bürokratischen Apparaten. Goetz nennt es mit der Sprache der deutschen Regierungszentrale die 'Morgenlage'. Dort kann der Vizepräsident in aller Ruhe die Maxime seines ziellosen Imperialismus entwickeln: 'Wir müssen in die Finsternis hinein.'"

In der Welt erkennt auch Andreas Rosenfelder, dass Rainald Goetz hier nicht die "Nachrichten von gestern" verhandelt, sondern den Extremfall der Existenz: "Der Schriftsteller, von Berufs wegen zum Nichtstun verurteilt, ist selbst ein entfernter Verwandter der Schreibtischtäter in den Ministerien, und mit den Folterknechten verbindet ihn ebenso viel wie mit den Opfern, 'weil Kunst und Macht, speziell die Kunst der Schrift, kulminieren im Hass'."

Besprochen werden eine "Iphigenie" nach Euripides und Stefanie Sargnagel an der Berliner Volksbühne (Standard),  Shakespeares "Wie es euch gefällt" und Sarah Kanes "Gier" im Frankfurter Schauspiel (FR, Nachtkritik), Fassbinders "Die bitteren Tränen der Petra von Kant" am Staatstheater mainz (FR), die Berliner Tanznacht-Biennale (taz).
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Design

Stephen Bayley schreibt im Guardian einen Nachruf auf den britischen Designer, Restaurantbetreiber und Museumsgründer Terence Conran: "Mehr als jeder andere trug er dazu bei, das materielle Leben in Großbritannen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verbessern. Die Flucht vor den Normen des vorstädtischen Lebens war seine beständige Inspiration - wie auch bei John Lennon und David Bowie auf ihre Weise." Außerdem bringt der Guardian eine Bilderstrecke.

Weiteres: Tobias Prüwer schreibt in der Jungle World über den Siegeszug des Kapuzenpullovers von der Sportbekleidung zur Alltagsmode. Außerdem bespricht Gabriele Detterer für die NZZ eine der Möbeldesignerin Gae Aulenti gewidmete Ausstellung im Vitra Design Museum.
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Literatur

Im Standard ist der Autor und Totengräber Mario Schlembach mit Thomas Bernhard krank. Für die Berliner Zeitung berichtet Claus Löser vom Meridian-Lyrikfestival in Czernowitz, das in diesem Jahr Paul Celan feierte. Der Guardian spricht mit dem Filmregisseur Guillermo del Toro über dessen neuen Fantasy- und Horrorroman "The Hollow Ones".

Besprochen werden unter anderem Iris Wolffs "Die Unschärfe der Welt" (Intellectures), Thomas Brussigs "Die Verwandelten" (Freitag), Robert Seethalers "Der letzte Satz" (Berliner Zeitung), Joachim Meyerhoffs "Hamster im hinteren Stromgebiet" (Presse), Kathrin Passigs und Aleks Scholz' "Handbuch für Zeitreisende" (54books), Andreas H. Apelts "Hannahs Verlies" (Freitag), Roberto Calassos "Der himmlische Jäger" (NZZ) und Wolfgang Büschers "Heimkehr" (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Mathias Mayer über Heinrich Heines "Das Glück ist eine leichte Dirne":

"Das Glück ist eine leichte Dirne,
Und weilt nicht gern am selben Ort;
Sie streicht das Haar dir von der Stirne
..."
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Kunst

"Biometric Mirror" von Lucy McRae und Dr Niels Wouters


FAZ-Kritikerin Ursula Scheer kommt mit schlotternden Knien aus dem neuen Nxt Museum in Amsterdam, das digitale Hochleistungskunst zeigt, aber durchaus physische Präsenz verlange. Kleine Kostprobe: "Die Installation 'Biometric Mirror' [mehr] von Lucy McRae und Niels Wouters zeigt jedem Besucher, der den Datenschutzrichtlinien zustimmt, wie das eigene Antlitz im Spiegel von einer Gesichtserkennungssoftware analysiert und 'verschönert', also verformt wird. Man kennt das von verspielten Filter-Apps fürs Handy. Das mit Künstlicher Intelligenz arbeitende System im Museum attribuiert der jeweiligen Person nicht nur ein Alter und ein Geschlecht, sondern dazu Eigenschaften wie Freundlichkeit, Vertrauenswürdigkeit, emotionale Stabilität, Intelligenz. Diese Bewertung auf den ersten Blick sollte jedem zu denken geben."

In der NZZ warnt der Kunstkritiker (und Bodybuilder) Jörg Scheller davor, die Autonomie der Kunst ganz über Bord zu werfen, zumindest ihren Mythos sollte man beibehalten: "Inspiration erhalten wir von etwas, das nicht ist wie wir. Das heutige Paradox im Umgang mit der Kunst besteht darin, einerseits auf latent romantische Weise das ganz 'Andere' von ihr zu erwarten, und andererseits dieses 'Andere' zugleich als dienlichen Teil des 'Eigenen' zu denken. Man steckt Kunst in eine Box namens 'Out of the Box'."

Weiteres: In der Berliner Zeitung verteidigt Harry Nutt Berlins Kultursenator Klaus Lederer gegen Kritik an seiner Subventionierung der kommerziellen Berlin Art Week: "Gerade jetzt darf Kulturpolitik nicht engstirnig sein." Im Tagesspiegel resümiert Nicola Kuhn die Art Week. Beate Scheder bilanziert in der taz das parallele Gallery Weekend.

Besprochen werden die Retrospektive des DDR-Fotografen Harald Hauswald im C/0 Berlin (taz) und Arbeiterporträts der chinesischen Künstlerin Cao Fei im Berliner Palais Populaire (Tsp).
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Musik

Das Leipziger Gewandhausorchester übt sich in Sachen Coronamaßnahmen in einem zurückhaltenden Gestus und vertraut auf die Vernunft seines Publikums, das dieses Vertrauen als begründet bestätigt, freut sich Clemens Haustein in seinem FAZ-Bericht vom Saisonauftakt des Hauses. Gegeben wurde Beethovens Fünfte unter Andris Nelsons. Die Musiker haben "mit der aufgefächerten Sitzordnung bemerkenswert wenig Schwierigkeiten. Das Gruppengefühl der Streicher scheint kaum zu leiden, die Bläser lassen sich vom Gefühl der Entfernung nicht zum Forcieren verleiten. Die ausgeprägte Balance, die zu den Kennzeichen dieses Orchesters gehört, bleibt unangetastet, noch im vollen Tutti ist die Flöte herauszuhören... Dass neben jedem Bläserstuhl eine bettpfannenartige Blechschüssel steht, in die das Kondenswasser des Instruments abgeschlagen werden soll, das reiht sich derweil in die Kuriosa dieser Zeit ein."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel-Gespräch erklärt die Raumakustikerin Brigitte Graner, warum zumindest die etwas älteren unter den Konzertsälen unterbesetzt anders klingen als volle und wie man dem begegnen könnte. Philipp Kause schreibt in der FR einen Nachruf auf den Reggae-Musiker Toots Hibbert.

Besprochen werden der Kino-Dokumentarfilm "We almost lost Bochum" über die Geschichte der Rapband RAG (FR), das neue Kitschkrieg-Album (NZZ), William Youns Einspielung von Schuberts Klaviersonaten (SZ), Cat Stevens' Neueinspielung seines vor 50 Jahren veröffentlichten Albums "Tea for the Tillerman" (Welt), Andreas Staiers Beethoven-Album "Ein neuer Weg" (FAZ) und das gemeinsam mit Trevor Dunn eingespielte Akustikalbum "Gift of Sacrifice" von King Buzzo, der mit seiner Hauptband Melvins ansonsten auf wuchtig-drückenden Stromgitarrenwand-Sound spezialisiert ist (taz). Wir hören rein:

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