Efeu - Die Kulturrundschau

Im Putzlicht

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09.09.2020. Etwas verstört reagieren die Zeitungen auf die Absage der Frankfurter Buchmesse als Live-Ereignis: Ist das nur traurig oder hat es auch was Gutes? Und dass die Buchmesse ihre Implosion als Erfolg ausgibt, macht den Tagesspiegel fassungslos: Ist das Galgenhumor? Oder Ironie? In der SZ geißelt die Regisseurin Anna Lengyel die Machtpolitik in der ungarischen Theaterwelt. FR und SZ feiern Gianfranco Rosis in Venedig gezeigten Film "Notturno" als universales Poem auf das Weiterleben. Monopol und berliner Zeitung tanzen zu den wabernden Rhythmen der Berlin Art Week im Berghain.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.09.2020 finden Sie hier

Literatur

Tut ihr Bestes unter den Umständen: Die Frankfurter Buchmesse


Die Frankfurter Buchmesse wird in diesem Jahr nun doch nicht so konkret stattfinden, wie zuvor stolz angekündigt, sondern im Wesentlichen digital, ohne Aussteller, aber mit einigen ins Netz übertragenen Live-Veranstaltungen. Abspenstig sind die Aussteller der Messe in letzter Zeit wohl ohnehin schon in großer Zahl geworden, kommentiert Tilman Spreckelsen in der FAZ: "Vielleicht hat die Sache so auch ihr Gutes: Feixende Extremisten müssen nun auf die erhoffte größere Aufmerksamkeit verzichten. Nur dass eine Buchmesse ohne Aussteller eine traurige Sache zu werden verspricht, und das tapfere Beharren der Messe auf das 'stimmige virtuelle Gesamtkonzept', das an die Stelle der physischen Präsenz trete, überzeugt nicht jeden. Der Schritt aber, die Hallen zu schließen, war überfällig."

Fast schon bewundernswert findet Tagesspiegel-Kommentator Gerrit Bartels, wie tapfer die Verantwortlichen "das, was von ihrem Großevent übrig geblieben ist, noch als Erfolg verkaufen. Wie sie, wie Börsenvereinsvorsteherin Karin Schmidt-Friderichs, die Frankfurter Buchmesse als 'ein sich ständig weiterentwickelndes Unternehmen' bezeichnet: 'Lebendig, agil und anpassungsfähig'. Ist das jetzt unfreiwillig komisch? Galgenhumor? Oder gar Ironie?" Dass man diese Entwicklungen nicht habe kommen sehen müssen, beteuert der Geschäftsführer der Buchmesse, Alexander Skipis, im Dlf Kultur: "Wir haben ja bereits ein Gesundheitskonzept mit dem Gesundheitsamt und den öffentlichen Behörden entworfen, das so akzeptiert worden ist." Allerdings sei die Buchmesse angesichts jüngster Entwicklungen und vor allem wegen der "Reisebeschränkungen" und "Quarantänevorschriften, wenn man aus Risikogebieten einreist", so "letztendlich nicht mehr durchführbar, weil niemand kommen kann."

Weitere Artikel: Die Schriftstellerin Felicitas Hoppe denkt in der NZZ über die Faszinationskraft nach, die die Paulus-Briefe auf sie ausüben, und "was wir glauben, von Gott erwarten zu dürfen." Gerrit Bartels stimmt im Tagesspiegel auf das Internationale Literaturfestival Berlin ein, das heute Abend mit Reden von Mario Vargas Llosa und Olga Tokarczuk beginnt. Peter Hintz hat für 54books Botho Strauß' jüngsten Essay - "Der Leviathan unserer Tage" in der Zeit, unser Resümee - gelesen und dabei gelegentlich auch mal gekichert: "Wie immer wirkt es unfreiwillig komisch, wenn der Ewigkeitsdenker Strauß sich an Vokabeln aus der Tagespolitik orientiert, um sein Programm zu formulieren."

Besprochen werden unter anderem Elena Ferrantes "Das lügenhafte Leben der Erwachsenen" (online nachgereicht von der Zeit), Yuki Urushibaras Fantasy-Manga "Mushishi" (Tagesspiegel), Jürgen Hosemanns "Das Meer am 31. August" (FR),  Taffy Brodesser-Akners "Fleishman steckt in Schwierigkeiten" (SZ) und Kai Wielands "Zeit der Wildschweine" (FAZ).
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Film

Fragil, fast aus Papier: Vanessa Kirby in Mona Fastvolds "World to Come"

Glasklar herausstechende Favoriten haben die Filmkritiker in diesem Jahrgang des Filmfestivals in Venedig zwar noch nicht ausgemacht. Umso mehr schwärmen sie aber schon seit Tagen von Vanessa Kirbys Schauspiel, das in diesem Jahr gleich zwei mal zu bewundern ist: Einmal in Kornél Mundruczós "Pieces of a Woman", einmal in Mona Fastvolds "The World to Come" über zwei mit Männern verheiratete Farmersfrauen, die sich ineinander verlieben. "Kann ein Film auf anziehende Weise aus Papier sein", fragt sich da ein entzückter Dietmar Dath in der FAZ. Auch Standard-Kritiker Dominik Kamalzadeh hat viel Freude an dem Film und dessen "zugefrorenen Winterlandschaften, die dem Film seine filigrane Textur verleihen".

Piktorialer Eigenwert oder Coffeetable-Book? Gianfranco Rosis "Notturno"

Von dem Film weniger begeistert war SZ-Kritiker Tobias Kniebe, der dafür Gianfranco Rosis "Notturno" umso interessanter fand: Der neue Film des italienischen Regisseurs, der 2016 mit "Seefeuer" den Goldenen Bären gewann, bündelt "dokumentarische Geschichten aus Syrien, Irak, Kurdistan und Libanon" ohne je zu klären, wo man sich gerade befindet. Rasch gibt man da "bald jeden Versuch bald auf, nach Frontlinien, falschen und richtigen Seiten, weltpolitischen Dimensionen zu suchen. Der Film ist ein einziges, universales Poem auf das Weiterleben nach Tod und Zerstörung, auf einen Alltag unter dem ewigen Widerschein brennender Ölquellen und dem Echo ferner Gewehrsalven." FR-Kritiker Daniel Kothenschulte sah einen der bislang besten Filme des Wettbewerbs: "Rosis diskreter Filmstil, sein gleichzeitiges Gespür für menschliche Würde und den piktoralen Eigenwert jeder Kameraeinstellung verbindet ihn mit den großen Fotografen des zwanzigsten Jahrhunderts. Doch seine Sequenzen sind mehr als Bildreportagen, sie entwickeln eine eigene Erzählkraft, die ohne jede verbale Erklärung auskommt." Für Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche ist das allerdings zu kulinarisch: "Notturno" erinnert an die "Ästhetik der Magnum-Fotografien. Der Krieg wird zum Tableau: Ein Esel steht unbewegt auf einer nächtlichen Kreuzung, Flammen färben den Himmel über einer Schilflandschaft rot." Tim Caspar Boehme (taz) und Hanns-Georg Rodek (Welt) besprechen unter anderem Andrei Kontschalowskis "Dorogie Tovarischi!" über den Aufstand in Nowotscherkassk im Jahr 1962.

Eine im Abspann des Disney-Blockbusters "Mulan" (unser Resümee) aufgetauchte Danksagung an die Sicherheitsbehörden in Xinjiang bringt den Konzern in Bedrängnis, erklärt Steffen Wurzel im Dlf Kultur: In dieser Region werden laut Menschenrechtsorganisationen hunderttausende Mitglieder der muslimischen Uiguren-Minderheit unterdrückt und teils in Internierungslager gesteckt. "Dass im Abspann wirklich explizit vier verschiedenen offiziellen Propagandabüros der kommunistischen Führung in Xinjiang gedankt wird, außerdem noch dem Büro für Staatssicherheit in der Stadt Turpan - das ist eine der besonders von den Menschenrechtsverletzungen betroffenen Städte, sagen Aktivisten -, das ist aus der Sicht vieler ein Riesenskandal.'" Die Lage der Uiguren war kürzlich auch bei John Oliver Thema:



Besprochen werden Jennifer Baichwals, Nicholas de Penciers und Edward Burtynskys Dokumentarfilm "Die Epoche des Menschen - das Anthropozän" (taz), die mit Cate Blanchett besetzte Miniserie "Mrs. America" über den US-Feminismus der 70er (Jungle World) und die Netflix-Serie "Away" mit Hilary Swank als Mars-Astronautin (NZZ).
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Bühne

Seit Anfang des Monats ist die ungarische Universität für Theater- und Filmkunst in Budapest besetzt. Der Protest richtet sich gegen ein neues Gesetz, das die Autonomität der Hochschule aufhebt. Alex Rühle hat für die SZ mit der Regisseurin Anna Lengyel gesprochen, die sich an den Protesten beteiligt und hinter dem staatlichen Angriff auf die Einrichtung Attila Vidnyánszky sieht, des mächtigen Intendanten des Nationaltheaters: "Das hier ist der letzte Ort in der ungarischen Theaterszene, den er noch nicht beherrscht." In den zahlreichen Institutionen, Gremien und Theatern, denen er vorsteht, betreibe er regierungskonforme Arbeit und arbeite nach Modell Vetternwirtschaft an rechten Netzwerken. "Früher war er ein herausragender Regisseur, heute verhält er sich wie der engstirnige Minister einer Diktatur." Ungarn "ist ein Land von 10 Millionen Einwohnern, in dem Theater eine sehr wichtige Kunstform ist und in dem man momentan nur noch unter Vidnyánszky Schauspiel, Regie oder Drehbuchschreiben studieren kann." (mehr dazu in der Berliner Zeitung und in unseren Magazinrundschauen)

Zart rieseln die Lotusblumen: Anthony Minghellas Inszeneirung der "Madame Butterfly". Foto: Wiener Staatsoper

In Wien hat die Staatsoper mit Anthony Minghellas Inszenierung der "Madame Butterfly" von 2005 ihre Saison eröffnet. Auf Asmik Grigorian in der Titelrolle möchte Standard-Kritiker Ljubisa Tosic nichts kommen lassen, sie erweise sich an diesem Abend als große Gestalterin. Aber die Inszenierung! "Im Zauber der Überfülle entgeht einem denn auch nicht, dass Cio-Cio-Sans Kind in Puppenform die tragische Schwere der Situationen eher verharmlost als verdichtet. Obwohl puppenhandwerklich alles delikat bleibt." Angesichts rieselnder Lotusblätter und hängender Lampions gibt auch Florian Amort in der FAZ Kitsch-Alarm". Und in der SZ fühlt sich Reinhard Brembeck wie in der Opernmumifizierungsgruft: "Eine fünfzehn Jahre alte Inszenierung ausgegraben haben, deren Regisseur schon längst verstorben ist. Das ist selbst für Wiener Verhältnisse morbid."

Weiteres: Im Interview mit Ulrich Seidler der Berliner Zeitung sprechen die Regisseurin Lucia Bihler und die Schauspielerin Teresa Schergaut über Geschlechtergerechtigkeit und ihr feminististisches "Iphigenie"-Projekt an der Volksbühne.

Besprochen werden David Hares Corona-Stück "Beat the Devil" mit Ralph Fiennes am Londoner Bridge Theatre (das NZZ-Kritikerin Marion Löhndorf als brillante "Tirade gegen die Versäumnisse der britischen Regierung in der Corona-Zeit" feiert, als "Brandrede gegen das Versagen und die Verschleierung dieses Versagens") und John Neumeiers Séance "Ghost Light" an der Hamburger Staatsoper (SZ).
Archiv: Bühne

Kunst

Als Highlight der Berlin Art Week feiert Daniel Völzke im Monopol die Ausstellung "Studio Berlin", für die das Berghain während der Berlin Art Week seine heiligen Hallen öffnet: "Die meisten Fotografien, Malereien, Videos, Soundarbeiten und Installationen ... sehen an diesem Ort - ohne eigene Ausstellungsarchitektur und oft im Putzlicht - ohnehin fantastisch aus. Selbst auf den Dancefloors, den Leerstellen, in denen der Verlust am meisten wehtut. Das Künstler- und Liebespaar Petrit Halilaj und Alvaro Urbano haben auf der Tanzfläche der Panoramabar, wo sie sich der Legende nach kennengelernt haben, eine riesige Blüte aus Stahl, Leinwand und Farbe aufgehängt, die taubstumme Künstlerin Christine Sun Kim, eine regelmäßige Besucherin des Berghains, auf dem Boden eine Art Bewegungsprofil aufgemalt."

"Es ist ein Fest", schwärmt auch Hanno Hauenstein in der Berliner Zeitung. Aber, warnt er,  auch wenn die Creme de la Creme der Berliner Kunstwelt vertreten sei, werde die Schau bestimmt "instagramtauglich": Es herrscht natürlich striktes Fotoverbot (Foto im Guardian). Andere Regeln wurden durchaus über den Haufen geworfen, was Tagesspiegel-Kritikerin Christiane Meixner kaum glauben mag: Kultursentor Klaus Lederer gab Geld für eine kommerzielle Kunstveranstaltung, und wer vor dem Club ansteht, kommt auch rein.
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Musik

In der NZZ feiert Christian Noe den Onlinedienst Bandcamp, ein im Gegensatz zu Spotify auch bei Künstlern äußerst beliebtes Arkadien der Musikkultur. Hier kommen nicht nur Künstler und Fans in direkten Austauscht, sondern es findet sich auch eine wahre Schatzkammer an Micro-Genres, Raritäten und Nischenkultur. Darüber hinaus leistet Bandcamp geradezu vorbildliche Corona-Solidaritätsarbeit: Schon "mehr als 20 Millionen Dollar sollen direkt bei Künstlern und ihren Labels gelandet sein."

Weitere Artikel: Maurice Summen war für die taz in Halberstadt, wo in der Langzeitaufführung von John Cages "ORGAN²/ASLSP" kürzlich das erste Mal seit fast sieben Jahren ein neuer Ton angeschlagen wurde. Michael Jäger berichtet im Freitag vom Musikfest Berlin.

Besprochen werden eine Box mit den Solo-Arbeiten von Michael Rother (Pitchfork), das neue Album von Tricky (SZ) und weitere neue Popveröffentlichungen, darunter das neue Album der Flaming Lips, die sich laut SZ-Popkolumnistin Ann-Kathrin Mittelstrass "in bester Form" präsentieren.
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