Efeu - Die Kulturrundschau

Schlupflöcher freihauen

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07.09.2020. Marie-Eve Signeyrole eröffnet mit ihrem in Berlin uraufgeführten Musiktheater der SZ eine neue Beethoven-Dimension. Mit Michael Armitage entblättert sie die innere Rinde der Natalfeige. Die FAZ feiert Benny Claessens als queeren Brandauer. Die FAS entdeckt in Cemile Sahins Romanen eine Finsternis, die in der aktuellen deutschen Belletristik ziemlich allein dasteht. Die NZZ hadert mit dem unsubtilen Schriftsteller-Aufruf gegen Donald Trump. Der Tagesspiegel berichtet beglückt von den Vanessa-Kirby-Festspielen in Venedig.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.09.2020 finden Sie hier

Kunst

Michael Armitage: Der Hühnerdieb, 2019, Öl auf Lubago. Bild: White Cube

SZ
-Kritikerin Kia Vahland kann sich im Haus der Kunst kaum satt sehen an den großflächigen Bildern des britisch-kenianischen Künstlers Michael Armitage, der ungehauer dynamisch male, dabei zugleich zart und präzise, wie sie beteuert: "Seine dicht erzählten Stoffe pinselt er nicht auf Leinwände, sondern auf Lubugo. Das kostbare Material gewinnen die Baganda in Uganda aus der inneren Rinde der Natalfeige. Verwendet wird es als Grabtuch oder für hohe zeremonielle Anlässe. In einem mühsamen Prozess werden die Bäume geschält und danach, um wieder zu heilen, mit einem Verband aus Bananenblättern umwickelt. Die Rinde wird ausgeräuchert und weichgeklopft, bis sie tuchartige Qualität hat. Es müssen viele Bäume sein, die für die Kunst Armitages ihre Haut ließen, denn er malt großflächig und viel."

Steht beispielhaft für ein alternatives Museum: das "Museo de la Solidaridad Salvador Allende", derzeit ausgestellt im Gropius Bau. Foto: 11. Berlin Biennale


In der FAZ sieht Niklas Maak viel künstlerisches Mittelmaß auf der Berlin Biennale, aber der Schwerpunkt Lateinamerika gefällt ihm gut, besondern das Museo de la Solidaridad Salvador Allende. Und: "Viel eindringlicher als alle als Kunst präsentierten Klimakatastrophen-Dokufragmente ist etwa das Gemälde 'Salt Bones' der kanadischen, aus einer Inuit-Künstlerfamilie stammenden Malerin Shuvinai Ashoona, das eine ausgetrocknete, angetaute, versalzene Welt zeigt, bei der man nicht weiß, ob man Desaster oder Schönheit sieht." Auch taz-Kritikerin Beate Scheder gefällt die Ausstellung im Gropiusbau am besten.

Weiteres: Christopher Suss empfiehlt in der taz die Ausstellung "Magical Soup" im Hamburger Bahnhof für einen letzten Blick auf die Sammlung Flick. Claudia Mäder besichtigt für die NZZ die Ausstellung "Zürich Schwarz auf Weiß" in der Photobastei.
Archiv: Kunst

Bühne

Marie-Ève Signeyroles "Baby Doll". Foto: Noemie Gillot / Deutsche Oper Berlin

Schwer auszuhalten, aber grandios findet SZ-Kritiker Wolfgang Schreiber das Musiktheater der französischen Regisseurin Marie-Ève Signeyrole, von Hörgenuss konnte bei der Premiere der Musik-Tanz-Videoshow "Baby Doll. Eine Flucht mit Beethovens 7. Sinfonie" an der Deutschen Oper Berlin keine Rede sein. Dafür eröffnete sich ihm eine neue Dimension: "Beethovens rhythmisierte Gewalt wird mit mürben Zwischen- und Nachspielen des Klarinettisten Yom und seines Klezmer-Quartetts sozusagen in einen fließenden Aggregatzustand gebracht. Die in Düsternis getauchte Szene beherrscht mit ihrer zerrissenen Körpervirtuosität die schwarze Ausdruckstänzerin Stencia Yambogazza, neben ihr, weißer Kontrapunkt, die entfesselt tanzende Annie Hanauer. Eine Kamera produziert auf der Bühne der Angst ständig ungehemmt spasmische Bilder, versetzt die Protagonisten in taumelnde Erscheinungen. Flucht mit Beethoven? Er durchschneidet, vertieft, sublimiert die Vision der Fakten. Gerade das Stück humaner Weltrealität zur Corona-prekären Saisoneröffnung, die gewagte Kunstübung, erzeugt einen Sog einer Empathie, der sich die meisten Zuschauer nicht entziehen wollen."

Benny Claessens in Sibylle Bergs "PAUL oder Im Frühling ging die Erde unter". Foto: Kunstfest Weimar

In der FAZ bejubelt Simon Strauß den Belgier Benny Claessens als "Theaterrahmensprenger und Unberechenbarkeitskönig", der mit seinem queerem Theater auch das Kunstfest Weimar hübsch aufmischte: "Einerseits nimmt sich sein stolz-schwules Ego alles heraus, bedroht die blasse Konvention, schüchtert ein, behauptet Übermacht; andererseits überspielt es die eigene Versagensfurcht, ist gefährdet und versucht, sich den gnadenlosen Kontrollblicken der Allgemeinheit durch ständige Veränderung zu entziehen. Ein queerer Brandauer. Eine vom Kopf auf die Füße gestellte Rampensau."

Weitere Artikel: Großes erhofft sich Jan Brachmann in der FAZ vom Festival "Bayreuth Baroque", das Max Emanuel Cenčić in diesem Jahr aus der Taufe gehoben hat. Der Auftakt mit Nicola Antonio Porporas Oper "Carlo il Calvo", in der Regisseur Cenčić auch die Hauptrolle singt, hat Brachmann schon mal umgehauen: "Tatsächlich kann man, wenn man will, in diesen Sprüngen, Trillern und Rouladen das Ich im überkontrollierten sozialen Körper des Barock zittern hören." Marco Frei richtet in der NZZ aber auch einige geharnischte Worte an die Stadt Bayreuth, die zwar gern "Festspielgäste abzockt", aber außer Wagner bisher wenig zu bieten hatte: "Ohne das Festival wäre Bayreuth im Corona-Jahr musikalisch keine Reise wert."

Besprochen werden Frank Castorfs multimediales Gesamtkunstwerk "multi agitato" an der Hamburger Staatsoper (Nachtkritik), Sebastian Nüblings Aufführung von Kevin Rittbergers "Schwarzem Block" (Nachtkritik), Rossinis "Barbier von Sevilla" am Staatstheater Wiesbaden (FR), Dostojewskis "Idiot" am Staatstheater Darmstadt (FR), die Doppelpremiere mit Jan Bosses Inszenierung von "Warten auf Godot" und Oliver Frljićs "Die Hermannsschlacht" am Schauspiel Köln (FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Im Aufmacher der FAS feiert Niklas Maak die Autorin und Künstlerin Cemile Sahin, die auch mit ihrem zweiten Roman "Alle Hunde sterben" in "unfassbar finstere" Welten führe: "Es gibt, trotz des Horrors und der Trauer, immer wieder Hoffnung, Solidarität, Trost, etwas ungebrochen Humanes und Großes in diesen Geschichten, aber keine Erlösung, weil die Erlösung nur eine politische sein könnte; das ist vielleicht das Politische an Sahins Kunstwerken (zu denen sie auch die Bücher zählt): Sie zeigen etwas, was es so noch nicht zu sehen gab, und sie machen den Deckel nicht wieder zu; das überraschende Ende des Buchs ist keins, mit dem man beruhigt das Thema abhaken kann.'Alle Hunde sterben' ist nicht nur eins der beeindruckendsten, sondern auch der dunkelsten Bücher dieses Jahres. Einer so kafkaesken, albtraumhaft brutalen Welt, wie Sahin sie beschreibt, begegnet man in der deutschen Gegenwartsliteratur sonst nicht."

Eine Gruppe von Literaten rund um Paul Auster und Siri Hustvedt - darunter Salman Rushdie, Margaret Atwood und Stewart O'Nan - haben sich mit einem energisch formulierten Aufruf gegen Donald Trump positioniert, meldet Angela Schader in der NZZ. Online gibt es dazu Video-Stellungnahmen: "Das Kolorit variiert von apokalyptischer Finsternis bis zur luziden Analyse, der Ton vom polemischen Trommelfeuer bis zur taktisch subtilen Annäherung ans Thema. ... Ein solcher Tonfall - besonnen, differenziert, beherrscht - wäre auch dem eingangs zitierten Manifest zugutegekommen. Denn das Austeilen mit der größtmöglichen sprachlichen Keule ist die erklärte Domäne des amtierenden Präsidenten; Schriftsteller sollten eigentlich die Letzten sein, die sich auf diese Ebene hinablassen."

Weiteres: Für die Berliner Zeitung hat Cornelia Geißler Helga Schubert besucht. Außerdem präsentieren Dlf Kultur und FAS die besten Krimis des Monats. An der Spitzenposition: "Der Fall Melchio Nikoleit" aus Max Annas' "Morduntersuchungskommission"-Reihe.

Besprochen werden unter anderem der Band "Selbstachtung" mit ausgewählten Essays von Toni Morrison (NZZ), Monika Melcherts Studie "Im Schutze von Adler und Schlange. Anna Seghers im mexikanischen Exil" (FR), David Grossmans "Was Nina wusste" (Standard), Khaled Kalifas "Keine Messer in den Küchen dieser Stadt" (Standard), Thomas Kapielskis "Kotmörtel" (online nachgereicht von der FAZ), Greg Neris "Tru & Nelle" (Tagesspiegel), Lee Childs Thriller "Bluthund" (Berliner Zeitung), Joachim Meyerhoffs "Hamster im hinteren Stromgebiet" (Tagesspiegel), Iván Repilas "Der Feminist" (SZ) und neue Krimis, darunter Mi-Ae Seos "Der rote Apfel" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Joachim Sartorius über Tomaž Šalamuns "Ich und Du":

"Mich hat dein Mund nicht geküsst, nie hast du Schnee
getrunken. Du, melancholisches Denkmal, das jetzt
..."
Archiv: Literatur

Film

Lasst alle Hoffnungen fahren: Majid Majidis "Khorshid"

Von ausgesprochen düsteren Filmfestspielen in Venedig berichtet Tobias Kniebe in der SZ: Der auf Kinderfilme spezialisierte iranische Regisseur Majid Majidi etwa gibt ihm mit "Khorshid", einem Film über verarmte Straßenkinder, die sich um Zusammenhalt bemühen, wenig Grund zur Hoffnung: Zwar habe "die Idee - sie müssen sich in einer gemeinnützigen Schule einschreiben, um dort im Auftrag eines Gangsters nach einem Schatz zu graben - sogar Züge ins Märchenhafte. Es kommt dann aber anders als gedacht, und sagen wir mal so: Wenn nicht einmal mehr der persische Kinderfilm seinen jungen Zuschauern Hoffnung machen will - wer bitteschön soll es dann noch tun? So denkt man ernsthaft über den Untergang der Welt nach, während man im hellen Spätsommerlicht über den Strand des Lido spaziert." Welt-Kritiker Hanns-Georg Rodek fühlt sich bei diesem Film an Abenteuer erinnert, wie man sie "sich als Junge gewünscht hat - dunkle Keller erforschen, durch unterirdische Gänge kriechen, mit dem Pickel Schlupflöcher freihauen -, aber hier wird es immer ernster, denn es geht auch um eine von Schließung bedrohte Schule und um Flüchtlingskinder, die von der Polizei gejagt werden." Düster ist auch Jasmila Žbanics "Quo Vadis, Aida" über das Massaker von Srebrenica - ein "eindringliches filmisches Mahnmal", schreibt Daniel Kothenschulte in der Berliner Zeitung.

Vanessa Kirby und Katherine Waterston in "The World to Come"
Ganz große Klasse findet Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche Mona Fastvolds historisches Drama "The World to Come" über zwei von Katherine Waterston und Vanessa Kirby gespielte Frauen, die sich in der Wildnis ineinander verlieben, was unter ihren Männern für Unmut sorgt: "Kirby spielt gerade ohnehin in ihrer eigenen Liga", schwärmt Busche. "Nach 'Pieces of a Woman' ist das ihr zweiter herausragender Auftritt am Wochenende. Man könnte das Festival dieses Jahr auch einfach in Vanessa-Kirby-Festspiele umbenennen." Tazler Tim Caspar Boehme vermisst derweil noch die ganz großen Highlights oder wenigstens wirklich außergewöhnliche Filme. Immerhin hat er sich in Philipp Yuryevs in einer Nebensektion gezeigten Film "The Whaler Boy" gerne an die Seite eines naiven Jungen begeben, der zu seiner vermeintlichen Freundin reist, die er in einem Erotik-Chat kennengelernt hat. Der Regisseur "erzählt diese tragikomische Romanze mit so trockenem Witz, hat dabei ein so gutes Gespür für Timing und lakonisches Erzählen, dass man sich diesen real fernen Menschen auf der Tschuktschen-Halbinsel sehr nah fühlt."

Umstrittenes Filmplakat zu "Patria"


Szenenwechsel von Italien nach Spanien: Dort hat eine Poster-Werbekampagne zur achtteiligen HBO-Verfilmung von Fernando Aramburus Roman "Patria" erhebliche Proteste auf sich gezogen, berichtet Hans-Christian Rößler in der FAZ: "Die Empörung gilt den gleich großen Bildern von Opfern und Tätern: Die Witwe Bittori mit dem von Eta-Terroristen erschossenen Ehemann Txato, daneben ein Folteropfer, dessen Peiniger in Polizeikleidung gerade Pause machen. Für die Stiftung der Terroropfer bedeuten die Plakate eine 'Demütigung' aller Spanier, die unter dem Morden von Eta litten." Aramburu selbst hält das Plakat für einen "Missgriff", verteidigt aber die Verfilmung seines Buchs.

Weitere Artikel: Für den Tagesspiegel wirft Kerstin Decker einen Blick ins Programm des Jüdischen Filmfestivals in Berlin. Endlich hat sie den allerersten Schimanski-Tatort gesehen, gesteht Judith von Sternburg in der FR - möglich machte das die momentane Schimanski-Retro des WDR, der die Duisburg-Krimis in HD restauriert hat. Die NZZ meldet, dass der tschechische Regisseur Jiri Menzel gestorben ist. In der FAZ gratuliert Dietmar Dath dem italienischen Horror-Auteur Dario Argento zum 80. Geburtstag: In seinen "Filmen, die italienischer nicht sein könnten, stützen sich Ekel, Tiefsinn, Quatsch, Mystik und sprezzatura wie bei einer statisch perfekten Balkenbrücke gegenseitig ab". Einen guten Eindruck davon verschafft dieser vom Regieduo Hélène Cattet und Bruno Forzani vor ein paar Jahren für Arte erstellte Videoessay:



Besprochen werden Charlie Kaufmans Netflix-Film "I'm Thinking of Ending Things" (Presse), Nicolas Boukhriefs "Drei Tage und ein Leben" (online nachgereicht von der FAZ), die DVD-Edition des Splatterfilms "The Hunt" (SZ) und die Netflix-Serie "Away", die Hilary Swank auf den Mars schießt (FAZ).
Archiv: Film

Musik

So richtig umgehauen hat es taz-Kritiker Detlef Diederichsen nicht gerade beim Hören des Tributalbums zu Ehren von Marc Bolans Glamrock-Truppe T.Rex, für das der (im April an Covid-19 verstorbene) Produzent Hal Wilner, wie zuvor auch schon für seine Tribut-Produktionen für Kurt Weill, Harold Arlen und Charles Mingus, eine durchaus illustre Schar an Musikern zusammengetrommelt hatte. Ein paar Schönheiten gibt es zwar auch hier, etwa Gaby Morenos Version von "Beltane Walk" - "ein hinreißendes Stück Kammermusik, für das ihr nicht beteiligter Lieblingsarrangeur Van Dyke Parks nicht unverdient einen Credit als 'Inspiration' bekommt. ...  Zu den kuriosesten Curiosa zählt sicherlich, dass 'Metal Guru' von niemand anderem als Nena eingesungen wurde. Unsere Nena? Ja, so könnte sie heute klingen. Dankenswerterweise verzichtete Willner darauf, Dieter Bohlen einzuladen - dabei nannte der seinen ersten Sohn immerhin Marc." Wir hören skeptisch rein:



Außerdem: Im Gespräch für die Berliner Zeitung schwärmt Igor Levit von der Bühne als seinem Freiheitsort, wo ihm nichts geschehen kann, selbst wenn ihm mal ein verrutschter Schlussakkord durchkommt. Auf ZeitOnline denkt Daniel Gerhardt über den Royal-Fimmel der Popmusik nach, wo von Michael Jackson bis Beyoncé an allen Ecken und Enden Königinnen und Könige ausgerufen werden. Für den Tagesspiegel fasst Sabrina Markutzyk die Debatten und Aufreger rund um Cardi Bs und Megan Thee Stallions Video "WAP" zusammen.
Archiv: Musik