Efeu - Die Kulturrundschau

Gepfefferte Bonmots und riskante Witze

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08.08.2020. In der taz erzählt der Schriftsteller Pedro Baran, wie Corona Kolumbien noch gefährlicher macht. Die Berliner Zeitung schaut in Orhan Pamuks Fotografien des nächtlichen Istanbul wehmütig auf das Sterben der Freiheit in der autoritären Türkei. Der neue Held im Film ist der Verräter, erkennt der Filmdienst. Und die SZ hört mit den "neißen" Hits der Glass Animals den perfekten Soundtrack für Post-Corona-Zeiten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.08.2020 finden Sie hier

Literatur

Im taz-Gespräch mit Ralf Leonhard erklärt der kolumbianische Schriftsteller Pedro Baran, weshalb die verschiedenen Regionen Kolumbiens einander misstrauen, wie Schriftsteller versuchen, aus dem monströsen Schatten von Gabriel Garcia Marquez herauszutreten und warum Kolumbien durch die Coronakrise noch gefährlicher geworden ist: "Wegen der Pandemie ist die Präsenz des Staats in vielen Regionen noch spärlicher geworden. Kriminelle Gruppen wie Drogenbanden, Dissidenten der Farc und andere können ungestraft AktivistInnen ermorden, die sich gegen Coca-Saaten oder andere illegale Pflanzungen wenden. 94 Kongressabgeordnete der USA haben gerade bestätigt, das Kolumbien eines der gefährlichste Länder für Verteidiger der Menschenrechte ist. Seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens im Jahr 2016 sind über 400 ermordet worden. Der Staat setzt sich kaum für deren Schutz ein, verfolgt und bestraft die Täter zumeist nicht."

Weiteres: Die FR übernimmt das große Gespräch mit Monika Maron, das Cornelia Geißler bereits vor einiger Zeit für die Berliner Zeitung geführt hatte (unser Resümee). In der FAZ liest Rainer Stamm parallel zu Ernst Jüngers "Atlantischer Fahrt" Werke des Fotografen Heinz Hajek-Halle und des deutsch-japanischen Schriftstellers Wilhelm Komakichi von Nohara, die sich ebenfalls 1936 auf der Monte Rosa befanden. In der Literarischen Welt denkt der Schriftsteller Hans Christoph Buch über Antisemitismus und Verschwörungstheorien bei Celine nach.

Besprochen werden unter anderem Zora del Buono: "Die Marschallin" (taz), Vivian Gornick: "Eine Frau in New York" (taz), Anne Webers "Annette, ein Heldinnenepos" (Tagesspiegel), Robert Seethalers "Der letzte Satz" (Tagesspiegel), Emily Carrs "Klee Wyck" (FR), Monika Marons Roman "Artur Lanz" (Literarische Welt), Sasha Filipenkos Roman "Rote Kreuze" (Literarische Welt), Roberto Bolanos "Cowboygräber" (FAZ), Iris Hanikas "Echos Kammern". Mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr.
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Kunst

Orhan Pamuk: Istanbul 2018. Bild aus dem bei Steidl erschienen Band "Orange"

Nur "subtil" schimmert die Kritik an der autoritären Neuordnung der Türkei in den Fotografien, die der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk im nächtlichen Istanbul aufnahm, stellt Hanno Hauenstein in der Berliner Zeitung in der Ausstellung "Orange" beim Literaturfestival Lit:Potsdam fest: "Auf seinen Aufnahmen sind streunende Hunderudel und umherschweifende Katzen zu sehen, mit dunklen Stoffen behangene Gestalten, die am Bordstein hocken, Bagger, die bedeutungsschwanger den Boden aufbrechen, Geflüchtete in religiösen Gewändern, aber auch säkular gekleidete, junge Istanbuler, Kinder, die vergnügt oder suchend die Straßen hinablaufen. Alles bei Nacht und stets in schrille Kontraste getaucht: Kontraste von Licht und Schatten, Leben und Stillstand, oder eben dem gleißenden Orange der Laternen und der nächtlichen Schwere des Blauschwarz im Himmel dahinter. Pamuk macht sich, indem er die Gassen, Verschläge, Plätze und Abhänge seiner Heimatstadt entlangläuft und das von ihm so sehr geliebte Orange überall da einfängt, wo es im Augenblick der Aufnahme noch zu sehen ist, zum Chronisten einer im Sterben begriffenen Gegenwart." "Hinreißend schön", nennt Andreas Kilb in der FAZ Pamuks Fotografien nach seinem Besuch auf der Lit:Potsdam. 

Um Künstler in der Coronakrise zu unterstützen, will Monika Grütters den Ankaufsetat für die Kunstsammlung des Bundes um 2,5 Millionen Euro bis zum Jahresende erhöhen, meldet Marcus Woeller in der Welt, der sich bei Kulturschaffenden umgehört hat. Der Tenor: zu wenig! "Für Ankäufe für die Kunstsammlung des Bundes wird folglich nur ein Viertel Promille verausgabt; mit der temporären Erhöhung lediglich in diesem Jahr steigt der Etat auf ganze eineinhalb Promille des Gesamthaushalts Kultur."

Weiteres: Im Tagesspiegel schaut Birgit Rieger in der Galerie Wedding vorbei, die vormittags zum Sozialamt umfunktioniert wurde und die derzeit nur in reduzierter Form die Ausstellung "And that Song Is Our Amulet" zeigen kann: "Verschiedene türkische Organisationen sollten über die Situation in der Türkei seit dem Militärputsch 2016 diskutieren, über den 'sozialen Tod', den viele Akademiker in der immer restriktiveren Gesellschaft riskieren, und wie sie durch 'Kültürhane' eine neue, hierarchiefreie, entschleunigte Form des Miteinanders fanden. Aber die Talks werden nicht stattfinden." Im SZ-Interview mit Catrin Lorch erklärt der Künstler Tino Sehgal, der im Berliner Martin-Gropius-Bau die Ausstellung "Down to Earth" ko-kuratiert, wie man nachhaltig um die Welt reist.
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Bühne

Nachtkritiker Falk Schreiber hat bei zwei Aktivisten des Kunstkollektivs Peng! nachgehakt, die gerade mit der Aktion "Klingelstreich beim Kapitalismus" Furore machen (Unser Resümee), wie man bei Managern von RWE, BMW, Helios oder Vonovia anruft, um mit ihnen über Alternativen zum Kapitalismus zu plaudern. Anja de Vries erklärt, wie Manager etwa auf die Klimakrise reagierten: "Es gibt eine Klimakrise. Und in den Gesprächen mit den Managern war das den meisten auch bewusst, und haben manche gesagt: 'Naja, wenn Sie mich fragen, in meiner Position, muss ich Ihnen solche Antworten geben. Aber wir können gerne weiter brainstormen.' 'Klingelstreich beim Kapitalismus' spielt mit dieser Irritation, dass Menschen mehrere Rollen haben. Sie haben Verpflichtungen den Aktionären gegenüber, es gibt Verträge, es gibt einen gesellschaftlichen Auftrag."

Begeistert hat sich Rudolf Neumaier in der SZ einen Moliere-Abend im niederbayerischen Obersüßbach angesehen, wo Maximilian Seefelder seit mehr als 20 Jahren mit seinem Kulturmobil durch die Gegend fährt. Besprochen wird Susi Webers Inszenierung der Dreigroschenoper im Innsbrucker Schloss Mentlberg (Standard).
Archiv: Bühne

Film

Tommaso Buscetta (Pierfrancesco Favino) im Exil in Braslien. © Copyright Lia Pasqualino / Pandora Film

Mit dem Whistleblower hat der Verräter sein Schmuddel-Image abgestreift, meint Marius Nobach im Filmdienst mit Blick in die Filmgeschichte. Mit Marco Bellocchios "Il Traditore" über einen Kronzeugen, der gegen die Cosa Nostra aussagt, ist ein Verräter jetzt gar der Held des Films - eine "Zäsur" in der Geschichte des Mafiafilms, schreibt Nobach und erklärt die Entwicklung: "Während autoritäre Machthaber der Stunde wie Donald Trump, Recep Tayyip Erdogan oder Jarosław Kaczynski ebenso wie populistische Bewegungen den Verräter-Begriff inflationär auf jeden anwenden, der ihnen missliebig erscheint, hat sich zur selben Zeit eine bestimmte Form des Verrats breites Ansehen erworben: Die öffentliche Enthüllung fragwürdiger bis illegaler Praktiken von Regierungen, Unternehmen oder anderen Institutionen mit weitreichendem Einfluss. Schon der Begriff des 'Whistleblowers' für solche Frauen und Männer, die als Beteiligte oder Eingeweihte diese Missstände aufdecken und damit oft Freiheit und Leben riskieren, kündet von einer Verschiebung der Perspektive: Hinter dem Verrat werden nun keine selbstsüchtigen Motive mehr ausgemacht (zumindest nicht primär), sondern Aufklärungsgedanken, Großherzigkeit und Altruismus. Der Whistleblower taugt inzwischen zum modernen Ideal eines Weltverbesserers."

Weiteres: Für den siebten Teil der "Mission Impossible" Reihe mit Tom Cruise soll eine Eisenbahnbrücke in Polen gesprengt werden, meldet Julian Weber in der taz: "Die 1905/06 erbaute Stahlbrücke in Niederschlesien ist ein bedeutendes Industriedenkmal, eine von weltweit nur wenigen erhaltenen einjochigen Stahlgitterkonstruktionen des 20. Jahrhunderts." In einem weiteren Artikel schreibt Gabriele Lesser zum Protest polnischer Denkmalschützer. Die großen "Emozioni" sucht Urs Bühler in der NZZ vergeblich beim diesjährigen Filmfestival in Locarno, das coronabedingt überwiegend online stattfindet.

Besprochen wird die Netflix-Dokumentarserie "Immigration Nation" (Zeit Online).
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Design

Zweihundert Jahre Plakatkunst bestaunt Katharina Rudolph in der FAZ im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe, das ihr in einer großen Ausstellung nicht nur Plakate von Deutschland, Frankreich über Polen, Spanien und Russland bis nach Japan und Myanmar zeigt, sondern auch einige Überraschungen bietet: "Zum Beispiel, dass der öffentliche Aushang in Deutschland bis zur Revolution 1848 nur der Obrigkeit gestattet war, weshalb man sich in Sachen Reklame auf anderen Wegen zu helfen wusste. Frühe Theaterwerbung wurde in allseits bekannten privaten Hausfluren plaziert und die für 'Martins Bier' ganz einfach auf der Speisetafel eines Berliner Restaurants."
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Musik

Als ob "softe Zombies" sängen - so hört sich für Jens-Christian Rabe in der SZ "Dreamland" an, das neue Album der britischen Elektro-Pop-Band "Glass Animals", das wie der Soundtrack zu Leif Randts "Allegro Pastell" klingt und ihm einige "neiße" Hits für die Post-Corona-Zeit liefert. "Brillant zahnlos" wie der Song "Heat Weaves": "Es wummst herrlich, und doch steht irgendwo immer ein Fuß auf der Bremse, weil man sich etwas blöd vorkäme, bei allem was man so weiß über sich selbst und die Welt, wenn man sich einfach nur gut und fröhlich fühlte. Dann lieber ein bisschen von dieser Schwermut, für die man es im Leben bislang eigentlich zu leicht gehabt hat. Hach. Die zentrale Zeile in 'Heat Waves' lautet entsprechend: 'I just wish that I could give you that / That look that's perfectly un-sad.' - Ich wünschte, ich hätte für Dich diesen perfekt untraurigen Blick. Das ist aber natürlich auch genau der Zauber dieser Musik, dieses elegisch-drängende Powerflüstern mit Kopfstimme über schwer schleppenden Beats und Synthie-Schwaden aller Art."

Wir hören rein:




Weiteres: Im taz-Interview spricht die Berliner Sängerin Wilhelmine über Diskriminierung, Identitätssuche und Lesbischsein in der Provinz. Im Aufmacher des Welt-Feuilletons hört sich Josef Engels neue Jazz-Trompeten-Alben von Avishai Cohen, Ambrose Akinmusire, Nils Wülker und Jaimie Branch an. Im NZZ-Gespräch mit Christian Wildhagen erzählt Michael Haefliger, Intendant des Lucerne Festivals, wie nach langem Hin und Her doch noch ein Programm auf die Beine gestellt werden konnte und wie die Coronakrise die Zukunft des Festivals beeinflussen könnte. Beispielsweise sei nicht klar, "wie sich die Gastspielmöglichkeiten bei den amerikanischen und den asiatischen Orchestern in Zukunft entwickeln." Ebenfalls in der NZZ würdigt Wolfgang Stähr den Dirigenten Herbert Blomstedt, der im Alter von 93 Jahren erstmals beim Lucerne Festival Orchestra auf der Bühne stehen wird.

Besprochen wird das neue Album "10 Jahre Abfuck" von Zugezogen Maskulin (FR, Freitag), das Chillwave-Album "Purple Noon" von Washed Out (Berliner Zeitung) und ein Beethoven-Abend mit Igor Levit im Rahmen der Salzburger Festspiele, bei dem Jan Brachmann in der FAZ Levit gelegentlich als Hochleistungssportler unter Druck erscheint, der aber immer wieder auch ein noch nie gehörtes, "flirrendes Glühwürmchengewimmel" zaubert: "Beethoven als Puck, der die Elfen an den Ohrläppchen kitzelt. Überall, wo Beethoven sich als Virtuose der Konversation zeigt, wo er gepfefferte Bonmots streut und riskante Witze macht, ist Levit in seinem Element." In der NZZ schreibt Marco Frei ein knappes Levit-Porträt.

Archiv: Musik