Efeu - Die Kulturrundschau

Kein einziges Konzert, niemals

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01.07.2020. FAZ und Tagesspiegel hoffen, dass der Bund den Hamburger Bahnhof kauft, bevor aus ihm eine Shoppingmall wird. ZeitOnline erkennt in Jean Paul Gaultier den Vordenker heutiger Sensibilitäten. Die FR feiert die Gründung des Suhrkamp Verlags vor siebzig Jahren, dem die Bundesrepublik die kritisch-undogmatische Gesellschaftstheorie verdankt. Und die taz lernt mit Rosaceaes neuem Album "Efia" einiges über Exportschlager.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.07.2020 finden Sie hier

Kunst

Niklas Maak dröselt in der FAZ noch einmal das Gezerre um den Hamburger Bahnhof auf, den Berlin für die Sammlung des Bauunternehmers Erich Marx herrichten ließ und dabei nicht merkte, dass das Gebäude nicht der Stadt, sondern der Bahn gehörte. Jetzt muss der Bund über einen Kauf der Anlage mit der neuen Eigentümerin, der Wiener Immobilienfirma CA Immo, verhandeln: "Nach dem Abzug der Kunst seit 1960 ans Kulturforum und nach einer kostspieligen Sanierung soll dort später die jüngere und unmittelbare Gegenwart gezeigt werden, für die Berlin eigentlich bekannt ist. Sollte der Plan schiefgehen, wird die sichtbare 'Gegenwart' in Berlin vor allem das sein, was die Immobilienwirtschaft mit der Stadt macht." Im Tagesspiegel traut Nicola Kuhn CA Immo alles zu, nachdem diese bereits im April den für 2021 angekündigten Abriss der Rieck-Hallen erledigt hat: "Besteht da nicht die Gefahr, dass genauso unsentimental mit dem Haupthaus, der historischen Bahnhofshalle und dem Kleihues-Anbau, umgesprungen wird? Eine weitere schicke Shoppingmall nur mit nostalgischem Touch ließe sich tadellos vorstellen. Die CA Immo ist darauf spezialisiert."

Frida Orupabo, Ohne Titel, 2019. Museum Ludwig


Sehr instruktiv findet taz-Kritiker Lars Fleischmann, wie die Ausstellung "Dynamische Räume" im Kölner Museum Ludwig die blinden Flecken der Kunstgeschichte ausleuchtet, mit fantastischen Arbeiten des kenianischen Nest Collective oder der südafrikanischen Gruppe CUSS. Ziemlich clever erscheinen ihm auch die Collagen der Osloerin Frida Orupabo mit schwarzen Frauenfiguren: "Deren Körper sind aus Einzelteilen zusammengesteckt. Fragil und bloß durch Reißzwecke beisammengehalten, drohen die Figuren beinahe auseinanderzufallen; verweisen gleichzeitig auf die mediale Ausbeutung und die Fixierung des weißen Mainstreams auf den Schwarzen Körper als exotisierte Schönheit."

Besprochen werden die Schau "Schwarze Sonnen", mit der der Louvre Lens die Entdeckung der Steinkohle in Nordfrankreich vor dreihundert Jahren würdigt (FAZ), die Skulpturen des spätgotischen Bildschnitzers Arnt vom Niederrhein im Kölner Museum Schnütgen (SZ), die Ausstellung "Interiors" des amerikanischen Malers Hernan Bas in der Galerie Peter Kilchmann in Zürich (NZZ), Anastasia Samoylovas Miami-Fotografien in der Frankfurter Galerie Peter Sillem (FR)
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Design

Männer in Röcken: Mode von Jean Paul Gaultier im Film "Freak & Chic" (Studiocanal GmbH / TS3 BOBY)

Ungeheuer sympathisch findet ZeitOnline-Rezensentin Carmen Böker den Modeschöpfer Jean Paul Gaultier, wie er in Yann L'Hénorets Kino-Dokumentarfilm "Freak & Chic" porträtiert wird: Im Grunde ist Gaultier ein Vordenker heutiger Sensibilitäten. "Männer in Röcken? Hatte er schon vor Jahrzehnten. Diversität bei den Castings? Gab es auch immer schon bei ihm. ... Seine Warmherzigkeit und Liebenswürdigkeit behält Gaultier sogar bei, als er im New Yorker Metropolitan Museum of Art Anna Wintour über den Weg läuft, der von Natur aus frostigen Chefredakteurin der US-Vogue."
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Literatur

Heute vor siebzig Jahren wurde der Suhrkamp Verlag gegründet - er mauserte sich rasch zu "dem bundesrepublikanischen Verlag" der nächsten zwanzig Jahre, erinnert Arno Widmann in der FR. Dialektisch begünstigt wurde die bis heute beschworene "Suhrkamp-Kultur" in Abgrenzung zu dem, was sich in der sowjetischen Zone und in der frühen DDR abzeichnete: "Die Geschichte des Aufbau-Verlages ist die Geschichte des Streits darum, was sie Leserinnen und Leser von der Welt erkennen ließen und was nicht." Demgegenüber "hatte schon Peter Suhrkamp 1951 Adornos 'Minima Moralia' ins Programm genommen. Damit war einer der Grundakkorde der 1973 von George Steiner so genannten 'Suhrkamp-Kultur' angeschlagen. Eine kritische Gesellschaftstheorie, die keiner Lehre folgte, die so weit ging, auch über die Aufklärung, die sie betrieb, aufklären zu wollen." In der SZ bespricht Lothar Müller Peter Suhrkamps Essayband "Über das Verhalten in Gefahr" mit Texten aus der Zeit der Verlagsgründung.

Weiteres: Maxim Biller hat seine Zeit-Kolumne, in der er seinem Ärger über Karl Heinz Bohrers FAZ-Text zum hundertsten Geburtstag Marcel Reich-Ranickis Luft macht (unser Resümee), auf Facebook online gestellt. Die Schriftstellerin Shida Bazyar berichtet im Freitext-Blog von Zeit Online von ihrer immer wieder auf Bewährungsproben gestellten Liebe zu Louisa May Alcotts Klassiker "Little Women". Peter von Becker befasst sich im Tagesspiegel damit, wie Schriftsteller ihre Heimatorte literarisch verarbeiten. Paul Ingendaay schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Feuilletonisten Dieter E. Zimmer.

Besprochen werden unter anderem Abubakar Adam Ibrahims' Debüt "Wo wir stolpern und wo wir fallen" (Tagesspiegel), Anne Webers "Annette, ein Heldinnenepos" (Standard), Albrecht Schönes "Erinnerungen" (Berliner Zeitung), Peter Suhrkamps Essayband "Über das Verhalten in der Gefahr" (SZ) und René Crevels nach 100 Jahren ins Deutsche übertragene Debütroman "Umwege" (FAZ).
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Bühne

Reinhard J. Brembeck genoss für die SZ den Luxus, in der Bayerischen Staatsoper zwei Abende mit Mahler, Strawinsky und Janacek geboten zu bekommen - mit fünfzig beziehungsweise hundert Zuschauern. FAZ-Kritiker Hans-Christian Rößler erlebt in Madrids Teatro Real eine improvisierte Aufführung von Verdis "La Traviata".
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Film

Für die Berliner Zeitung spricht Patrick Heidmann hier mit dem Schauspieler Daniel Radcliffe über dessen neuen Film "Gun Akimbo" und dort mit dem Schauspieler Andreas Pietschmann über dessen Rolle in der Netflix-Serie "Dark". Julia Dettke porträtiert in der FAZ Lisa Vicari, die ebenfalls bei "Dark" mitspielt und mit ihren 23 Jahren drauf und dran ist, das deutsche Gesicht von Netflix zu werden.

Besprochen werden Christian Petzolds "Undine" (SZ, unsere Kritik hier), der auf Netflix gezeigte Anthologiefilm "Homemade" mit insgesamt 18 im Lockdown gedrehten Beiträgen (FAZ) und Jonas Alexander Arnbys Thriller "Suicide Tourist" (Standard).
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Musik

Rosaceae macht auf ihrem von den Überlegungen des marxistischen Poptheoretikers Mark Fisher inspirierten Album "Efia" keinen Wohlfühl-Ambient zum Wegschlummern, versichert Julian Weber in der taz: Unter anderem hat die Hamburger Musikerin "die Erfahrungen einer traumatisierten kurdischen Flüchtenden aus Syrien mit in die Klangkulisse gearbeitet. In dem Track 'Six Years Old Child' wiederholt eine durch Effekte unkenntlich gemachte brüchige Stimme Fragen wie 'Tell me, who is my murderer', 'How much death suits you'. Dazu ist das Pumpen eines Herzens zu hören, schwere Atmung und der Gesang bei einer kurdischen Hochzeit. ... 'Die Leopard-2-Panzer verkauft Deutschland an die Türkei und die bringt damit KurdInnen um. Der Exportschlager ist dieses Jahr vierzig Jahre alt geworden. Da dachte ich mir, dass kann ich doch mal in meinem Album erwähnen.'"



Christopher Resch porträtiert in der taz die saudi-arabische Black-Metal-Band Al-Namrood, die sich ihrem traditionell klerus-kritischem Genre gemäß sehr einschlägig positioniert: "'Was uns antreibt? Die Unterdrückung der Menschen durch die Religion', sagt Mephisto, Gitarrist und Bassist der Band. 'Wir kritisieren Politik, Nationalismus, Klassizismus, Ideologiehörigkeit, soziale Ungerechtigkeit. Aber das Hauptproblem in Saudi-Arabien ist ein Islam, der uns als politisches System verkauft wird und uns von Beginn an in den Rachen gepresst wird.' Den Musikern ist vollkommen bewusst, dass sie mit dieser Haltung in Saudi-Arabien kein einziges Konzert spielen können, niemals. Im Internet werden sie dafür gefeiert: Mehr Black Metal zu sein als sie gehe gar nicht." Das aktuelle Album gibt es auf Youtube.

Weitere Artikel: Thomas Schacher wirft in der NZZ einen Blick ins Programmheft der Tonhalle für die kommende Saison. Peter Uehling ärgert sich in der Berliner Zeitung darüber, dass in Berlin das Chorsingen bis auf weiteres nicht gestattet bleibt.

Besprochen werden das neue Album "Mordechai" von Khruangbin (Tagesspiegel, mehr dazu bereits hier und dort), ein online gezeigter, multimedialer Mahler-Zyklus der Symphoniker Hamburg (SZ), eine Ausstellung in der Berliner Staatsbibliothek mit Handschriften Beethovens (FAZ) und weitere neue Popveröffentlichungen, darunter Haiytis neues Album "Sui Sui", auf dem "die Sounds so cool klingen, dass man sich fragt, ob es noch Eis gibt", schreibt SZ-Popkolumnist Jan Kedves. Wir hören rein:

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