Efeu - Die Kulturrundschau

Sehr konkret einsame Welt

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21.03.2020. "Ist die Langsamkeit der Literatur dem Geschehen überhaupt gewachsen?", fragt die Schriftstellerin Kathrin Röggla in der FAZ. Der Filmdienst empfiehlt Filme von Roy Andersson, der längst erkannte: Soziale Distanz ist die conditio humana schlechthin. In der taz fürchtet Annemie Vanackere mit Blick auf die Sars-Epidemie 2003 die Spätfolgen der Krise für das Theater. Die FAZ besucht den Kanzlerfotografen Konrad Rufus Müller, der in seiner Freizeit lieber Kuhaugen und Föten fotografiert. Und die NZZ zieht sich in das Universum von Beethovens Humor zurück.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.03.2020 finden Sie hier

Film

Immerhin hat das Museum noch auf: Social Distancing in Roy Anderssons Film "Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach" von 2014

Für existenzielle Einsamkeit im Kino ist der Schwede Roy Andersson zuständig, der all seine Filme in einem Privatstudio im Keller seines eigenen Hauses dreht und im Anschluss einen Stock drüber fertigstellt. Seine meist als surreal-lakonisch eingeschätzten Filme sind mit einem Mal für weite Teile der in Zwangs-Home-Office verlegten Bevölkerung von akuter Alltagsnähe, stellt der frische Kracauer-Stipendiat Till Kadritzke im Filmdienst-Blog fest: In Anderssons Filmen "ist soziale Distanz kein Gebot in einer Ausnahmesituation, sondern die conditio humana schlechthin. Seine Figuren halten generell Abstand, und falls es mal zu körperlichen Berührungen kommt, geht das selten gut. ... Wie schnell abstrakte Bilder, die sich der Einsamkeit des Menschen nähern, jetzt fast wie Dokumentationen einer gerade sehr konkret einsamen Welt erscheinen: 'Es ist plötzlich so leer hier', bemerkt ein Mann auf einem Bahnhof in 'Songs from the Second Floor'."

Weiteres: In der Berliner Zeitung schreibt Gerhard Midding über Eric Rohmer, der dieser Tage seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte. Das Berliner Kino Arsenal hat seinen dritten, zuvor Mitgliedern vorbehaltenen und rein digitalen Kinosaal für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht und macht dort seit letztem Abend Kinoprogramm - um solidarische Spenden für die Filmkünstler wird gebeten. Außerdem hat der Grandfilm Verleih nochmal sein Onlineangebot erweitert - die Hälfte der Einnahmen kommt von Ausfällen betroffenen Kinos zugute. Für Wochenende empfehlen können wir Perlentaucher zum Beispiel Małgorzata Szumowskas "Die Maske" (ein mit "starkem Humor gesalzener, aber im Grunde ernster und intelligenter Film", schreibt Thierry Chervel) und Alain Gomis' "Felicité" ("Alles ist Rausch, Fest, Musik", schreibt Thekla Dannenberg).

Besprochen werden Kinji Fukasakus auf archive.org bereitstehender Seuchenreißer "Virus" aus dem Jahr 1980, in dem sich laut Lukas Foerster "das Virus als Agent welthistorischer Dialektik" entpuppt (critic.de), Liz Garbus' Netflix-Film "Lost Girls" (SZ), die Amazon-Serie "The Plot Against America" (Freitag), die Serie "The Outsider" nach dem gleichnamigen Roman von Stephen King (online nachgereicht von der FAZ) und Damien Manivels "Isadors Kinder", der 2019 einen Goldenen Löwen in Locarno gewann und nun coronakrisen-bedingt auf der Plattform Kino-On-Demand ausgewertet wird, mit der die Kinos über die Krise kommen wollen (Artechock, FAZ).
Archiv: Film

Bühne

"Ich schließe nicht aus, dass wir bis zur Sommerpause keinen Spielbetrieb haben werden", sagt im taz-Gespräch mit Tom Mustroph Annemie Vanackere, Intendantin des Berliner Hebbel am Ufer. Zudem sorgt sie sich um die langfristigen Folgen des Social Distancing: "Nadia Ross von der kanadischen Gruppe STO Union, die 'Spy on Me #2' eröffnen sollte, hat mir erzählt, wie lange Kanada brauchte, sich von der Sars-Epidemie 2003 zu erholen. Auch damals ging es darum, soziale Distanz einzuhalten, um die Ansteckung einzudämmen. Als die Normalität zurückkommen durfte, hatten die Menschen Scheu, wieder in Theaterräume zu gehen, wo man Ellenbogen an Ellenbogen sitzt."

So düster blickt die Schweizer Theaterszene nicht in die Zukunft, weiß Daniele Muscionico, die sich für die NZZ umgehört hat: "Das Theater Basel (…) startete Zuschauerumfragen, erkundigte sich nach dem Befinden der Abonnenten und nach ihrer Absicht, im September wiederzukommen. Sie sei nach nur kurzer Reaktionszeit von einem überaus positiven Rücklauf und von Zeichen der Solidarität überrascht worden, meint die kaufmännische Direktorin Henriette Götz."

Weitere Artikel: Der Tagesspiegel hat ein Video online gestellt, in dem der russische Theaterregisseur Kirill Serebrennikow Empfehlungen für die Zeit der Isolation gibt. Im Standard porträtiert Helmut Ploebst den deutschen Choreografen Martin Schläpfer, der ab der kommenden Spielzeit die Leitung des Wiener Staatsballets und die künstlerische Leitung der Ballettakademie übernehmen wird. Für die taz hat Marlene Militz eine Liste mit digitalen Angeboten von Berliner Bühnen zusammengestellt. Die Nachtkritik hat ebenfalls einen Online-Spielplan zusammengestellt. In der FR gratuliert Peter Iden dem Regisseur Peter Brook zum 95. Geburtstag.
Archiv: Bühne

Kunst

Konrad Rufus Müller hat von Adenauer bis Merkel alle deutschen Kanzler porträtiert, nun feiert er seinen achtzigsten Geburtstag und Freddy Langer ist für die FAZ nach Königswinter gefahren, um sich von Müller private Aufnahmen jenseits der großen Porträts zeigen zu lassen: "Ein Panoptikum, in dem sich eine Künstlerseele Bahn gebrochen hat, vielleicht als Ausgleich zu den Gesichtern, vielleicht sogar im Trotz dagegen. Das Auge einer Kuh, die Blüte einer Tulpe, ein Stillleben mit Zwiebel, zart in hellstem Lichte eine nackte Frau, von der er verrät, es sei Ingrid Steeger, zu einer Zeit, als sie noch Sekretärin war, dann die Kreidefelsen von Rügen oder im Licht des Vollmonds eine verschneite Alpenlandschaft - und schließlich missgestaltete Föten aus der pathologisch-anatomischen Sammlung der Charité. Bizarre Wesen wie aus dem Fundus des Hieronymus Bosch, aber wie in Demut von einem Schleier blassen Lichts ummantelt. Und dann begreift man, worum es Konrad Rufus Müller in all seinen Arbeiten gegangen ist: um Momente, in denen Schönheit, Klarheit und Wahrheit zur Deckung kommen."

In der taz porträtiert Tigran Petrosyan die georgische Künstlerin Lia Ukleba, die mit ihren Arbeiten gegen die patriarchalen Strukturen und die Homophobie, vor allem in der georgisch-orthodoxen Kirche in ihrer Heimat protestiert: "Immer wieder kommt es in der georgischen Hauptstadt Tiflis zu Zusammenstößen bei der jährlichen Kundgebung zum Internationalen Tag gegen Homo- und Transphobie, wobei es die Kirche ist, die LGBTI-feindliche Stimmungen schürt, und Priester tausende Gegendemonstranten anführen und Steine auf die LGBTI-Aktivisten werfen. Das Thema stellt Ukleba in einem anderen Bild vor: 'Tango' heißt die Malerei, die einen Polizisten und einen Priester eng umschlungen beim Tanz zeigt."

Um Sammlungen diverser zu gestalten, sollten Museen beginnen zu "entsammeln", fordert die Kunsthistorikerin Julia Pelta Feldmann im Dlf-Kultur-Gespräch mit Max Oppel: Einfach einen Warhol oder Rothko teuer verkaufen und dafür marginalisierte KünstlerInnen einkaufen, schlägt sie vor. Franciska Zólyom, Direktorin der Galerie für Zeitgenössische Kunst in Leipzig, sieht das ähnlich: "Wir brauchen radikale Museumsmodelle', sagt Franciska Zólyom. Die Geschichte der Museen selbst sei eine Geschichte, die sehr stark verwoben sei mit der Geschichte der Eroberungsfahrten, der Unterwerfung von Bevölkerungen und Kulturen - mit dem Phänomen der Repräsentation: 'Ich beschreibe andere und schaffe dadurch Hierarchien. Ich lege Werte fest und schließe damit andere Werte aus.'"

Weitere Artikel: Jens Hinrichsen hat sich im Monopol-Magazin mit Julia Voss getroffen, die nicht nur eine Biografie über Hilma af Klint verfasst, sondern auch eine Ausstellung in der Villa Grisebach kuratiert hat: "Neben einigen bislang nie gezeigten Werken af Klints sind bei Grisebach auch Bleistiftzeichnungen von Frauen ausgestellt, die um 1900 in spirituellen Zirkeln entstanden sind."  Im Tagesspiegel blicken Christiane Meixner und Birgit Rieger einen Blick auf die aktuelle Lage im Berliner Kunstmarkt: Die Galerien schließen und stellen ihre Ausstellungen online, fast alle Messen sollen in der zweiten Jahreshälfte nachgeholt werden. Auf Hyperallergic stellt Valentina Di Liscia KünstlerInnen vor, die bedeutende Werke in der Isolation schufen. Im Dlf-Kultur spricht Britta Bürger mit dem Schweizer Fotografen Beat Presser.
Archiv: Kunst

Literatur

Soviel Prognose, ja noch mehr soviel von Faktizität unterfütterte Prognose war nie, wie jetzt in diesem von Newstickern und interaktiven Karten bestimmten Alltag, schreibt die Schriftstellerin Kathrin Röggla in einem großen Essay für die FAZ. Was heißt das für die Literatur, gerade jene, die sich mit der Realität der Gegenwart und der Realität der Zukunft befasst? Übliche poetologische Kategorien verwürfeln sich derzeit gerade im Stundentakt, neue Herausforderungen zeichnen sich: "Ist die Langsamkeit der Literatur dem Geschehen überhaupt gewachsen? Klar ist, alleine mit diesen Zeilen melde ich mich bereits aus der Vergangenheit." Schon sehe es so aus, "als bräche die Zeit der neuen Beruhigungsliteratur an, blickt man auf die viral gewordenen Erklärvideos im Netz. Auch die noch nicht geschriebenen Sätze einer neuen Trostliteratur oder von moralischen Erbauungstexten beginnen schon in manchen literarischen Fingern zu jucken. ... Sich literarisch Mut zu machen - wird das die neue Herausforderung sein? Welche Form von Komik und Witz wird dabei noch Erleichterung schaffen können?"

Die Coronakrise lässt die Gegenwartsliteratur rasch altern, muss Gerrit Bartels im Tagesspiegel feststellen. So etwa Leif Randts gerade überall besprochener "Allegro Pastell": "Man hat bei der Lektüre den Eindruck, der spiele in einer weit, weit zurückliegenden Vergangenheit. Was Randts Helden Tanja und Jerome da alles tun!"

Die Literarische Welt hat bei Schriftstellern nachgefragt, wie sie die Coronakrise trifft - die abgesagten Lesungen treffen alle hart, die abgesagte Leipziger Buchmesse begräbt zudem diverse Bücher auf dem Friedhof mangelnder Aufmerksamkeit. Kirsten Fuchs steht um fünf Morgens auf, um überhaupt zum Schreiben zu kommen, bevor das Haus erwacht, Olga Grjasnowa hat angesichts geschlossener Kitas Zweifel, ihren neuen Roman in absehbarer Zeit überarbeiten zu können. Und Bov Bjerg gelobt, keinen Corona-Roman zu schreiben.

Weitere Artikel: Der Schriftsteller Tilman Rammstedt schreibt für ZeitOnline weiterhin als Quarantänetröster Corona-Tagebuch. Hedwig Richter schreibt auf ZeitOnline über Hölderlin, der gestern vor 250 Jahren geboren wurde. Im Standard spricht Rüdiger Safranski über seine Hölderlin-Biografie. Auf der FAZ-Seite "Literarisches Leben" rät Kai Kauffmann zur Lektüre von Klopstocks "Messias", zumal sich hier eine "neuartige Poetik" der Empfindungen aufweist, die Kauffmann an die "Rhetorik musikalischer Formen und Figuren etwa in Johann Sebastian Bachs Passionen" denken lässt.

Besprochen werden unter anderem Graham Swifts "Da sind wir" (SZ), Téa Obrehts "Herzland" (taz), eine Neuausgabe von Kurt Pinthus' Lyrikanthologie "Menschheitsdämmerung" (Freitag), Olivia Viewegs Comicadaption von Sophokles' "Antigone" (Tagesspiegel), Tom Kummers "Von schlechten Eltern" (Tagesspiegel), Lana Lux' "Kukolka" (Literarische Welt) und Eva Weissweilers Biografie über Dora Kellner, die Ehefrau Walter Benjamins (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Die NZZ widmet ihre Wochend-Seiten komplett Ludwig van Beethoven. Die Kraft seiner Musik rührt vom "geistigen Ausdruck ihrer eigenen Zeit", schreibt Hans-Joachim Hinrichsen: Ohne Schiller, Goethe und Kant, die Beethoven las, verehrte und bewunderte, ist Beethoven weder zu haben, noch zu verstehen, was insbesondere auch für das Spätwerk gilt, "ein Universum des Humors, den man sich freilich nicht als Spaßbereitschaft im Alltagssinne vorstellen darf, sondern als die schwer errungene philosophische Heiterkeit einer tieferen Einsicht in die Conditio humana. Sie ist daher auch eher traurig als lustig und betrachtet die Unversöhntheit der Kontraste als Bedingung der eigenen Existenz. ... Ein Perspektivenwechsel also, der nicht das endliche Wesen Mensch und dessen Gebrechlichkeit idealistisch ins Übersinnliche erhebt, sondern umgekehrt die erhabene Idee des Unendlichen mit der unaufhebbaren Brüchigkeit des Endlichen realistisch versöhnt. Darin liegt die tiefe Humanität auch noch des sperrig wirkenden Spätwerks."

Außerdem im Beethoven-Schwerpunkt der NZZ: Michael Stallknecht hat nachgesehen, wie die Literatur Beethovens Opern aufgefangen hat. Christian Wildhagen hört Beethovens "Lebewohl"-Sonate. Corinne Holtz erinnert an die Klavierbauerin Nannette Streicher, die daneben noch lange Zeit Beethovens Haushalt besorgte. Corina Kolbe hat sich angesehen, was passiert, wenn man Beethovens "Fidelio" im Gefängnis mit Insassen aufführt. Und Wolfgang Stähr hört Beethovens Neunte.

Weitere Artikel: Früher gab es Razzien, jetzt sorgt sich die Politik um den Fortbestand der Berliner Clubs: In der Coronakrise zeige sich, zu welchem zentralen Bestandteil des öffentlichen Lebens und welchem Wirtschaftsfaktor die einst aus dem widerständigen Underground entstandene Clubszene geworden ist, schreibt Jana Janika Bach in der NZZ. Die Frage, wer welchen welcher Kultur zugeordneten Stil künstlerisch nutzen darf, erreicht auch Spanien: Dort wehren sich Gitanos dagegen, dass die spanische Musikerin Rosalía ihre Musik mit Flamenco-Elementen anreichert, berichtet Reiner Wandler in der taz. Adrian Schräder sammelt in der NZZ Streamingangebote fürs Zuhausebleiben. In der SZ gratuliert Andrian Kreye dem Supertramp-Gründer Roger Hodgson zum 70. Geburtstag. 100 Jahre alt wird der Oboist Helmut Winschermann, dem Clemens Haustein in der FAZ gratuliert.

Besprochen wird eine Schönberg-Aufnahme von Isabelle Faust (SZ) und die neue CD "Myopia" von Agnes Obel ("so viel Bedeutung, so viel Schwere. Wie kann Musik das schultern", fragt sich FR-Kritiker Thomas Stillbauer und hofft auf eine baldige Rückkehr der Musik in die derzeit leeren Konzertsäle). Wir hören rein:

Archiv: Musik