Efeu - Die Kulturrundschau

Nichts an Zeremonie

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.03.2020. Die Theater schließen den Betrieb - die Berliner Philharmoniker spielen vor leerem Saal und dem Internet, für Twitter gibt Igor Levit ein Hauskonzert. In der SZ erinnert sich Filmemacherin Ulrike Ottinger an die Pariser Bohème der Sechziger. Warum so bitter und ernst, und so thesenhaft, fragen die enttäuschten Theaterkritiker nach der Premiere von Marius von Mayenburgs "Die Affen". Warum so lieblos, fragt die FAZ nach der äußerst kurzen und unfeierlichen Vergabe der Leipziger Buchpreise. Die NZZ freut sich, dass die Animationsfilme von Hayao Miyazaki jetzt bei Netflix laufen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.03.2020 finden Sie hier

Film

Ulrike Ottinger in "Paris Calligrammes" (Bild: Verleih)

Annett Scheffel unterhält sich für die SZ mit der Filmemacherin Ulrike Ottinger, die mit dem Film "Paris Calligrammes" eine Reise zurück in ihre Zeit in der Pariser Bohème der 60er unternimmt. Das Paris von damals findet sie heute kaum wieder. Auch der intellektuelle Hunger habe nachgelassen: "Um all diese berühmten Schriftsteller und Künstler herrschte damals noch nicht so ein Hype, wie man es heute kennt. Vielmehr hatte alles eine schöne Selbstverständlichkeit. Es war ein enger Kreis, in dem viel diskutiert wurde. Und hinterher ging man zusammen in die Kaffeehäuser. Das war ein einfaches Leben, gänzlich unspektakulär - aber angefüllt mit so vielen Gedanken. Es herrschte eine Gesprächskultur, wie es sie heute nicht mehr gibt: präzise und scharf, aber nie grob. ... Ich glaube, was heute oft fehlt, ist die persönliche Begegnung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass mich ein Skype-Gespräch jemals in eine solche Aufregung versetzt wie die Lesungen und Gespräche damals. "

Außerdem: Manuel Müller freut sich in der NZZ darüber, dass die Animationsfilme von Hayao Miyazakis (auch bei unseren Filmkritikern sehr beliebtem) legendärem Studio Ghibli, das sich lange gegen eine Online-Veröffentlichung aussprach, nun endlich auf Netflix zu sehen sind.Verena Lueken gratuliert dem Schauspieler William H. Macy in der FAZ zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Sandra Kaudelkas Kino-Dokumentarfilm über Sahra Wagenknecht (ZeitOnline) und Liz Garbus' auf Netflix veröffentlichtes Spielfilmdebüt "Lost Girls" (taz),
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Bühne

Szene aus Mario von Mayenburgs "Die Affen". Foto: Arno Declair

Das Festival Internationale Neue Dramatik (FIND), das am Mittwoch mit der Premiere von Marius von Mayenburgs Stück "Die Affen" an der Berliner Schaubühne eröffnen sollte, wurde wegen Corona abgesagt. Das Stück selbst wurde gezeigt, aber nur im kleinen Saal der Schaubühne, berichtet Katrin Bettina Müller in der taz. "Eine vermüllte Erdkugel hing dann über der Bühne, darunter saß ein trauriger Mann. Es war der Schauspieler Robert Beyer, der an diesem Abend erst einen Ehemann spielt, der mit seiner Frau (Jenny König) zunächst nicht mehr redet, dann ihr gegenüber eine wütende Rede hält, über die Unvernunft des Menschen, der seine Umwelt zerstört. Eine weitere Frau (Genji Rykova) und ein weiterer Mann (Mark Waschke) mischen sich ein, streiten sich um die beste Strategie, in einem Nationalpark im Kongo nach Öl zu bohren und die Politik auf ihre Seite zu bringen. Sie überbieten sich in zynischen Tricks. Und man weiß, dass alle diese Verbrechen schon verübt wurden. Das hält man nicht aus."

Auch SZ-Kritikerin Christine Dössel ist nicht überzeugt: "Nun erwartet ja niemand gleich eine Affengaudi, aber ein bisschen mehr Satire, Komik, Biss, mehr von dem sonst bei Mayenburg oft überschäumenden Groteskhumor wären schon gut gewesen. Diesmal ist es dem Autor mit seinem Thema bitterernst, und da er sein Stück selber inszeniert, was hier eher kontraproduktiv ist, bekommt der ganze Abend diesen Anstrich: bitter und ernst. Nur leider ist das auch: fad und zahm." Nachtkritiker Christian Rakow hörte nur "eine thesenstrotzende Sammlung von Exkursen", Ulrich Seidler (Berliner Zeitung) ging es nicht besser. Schade um das Komödienpotenzial des Stücks, bedauert im Tagesspiegel Christine Wahl.

Weiteres: Die Salzburger Osterfestspiele sind abgesagt, meldet der Standard. Besprochen werden außerdem Leonie Böhms Inszenierung von Büchners "Leonce und Lena" (hier als "Leonce und Leonce" am Schauspielhaus Zürich (nachtkritik), "the.heldenplatz.thing" mit dem Bernhard Ensemble im Wiener Off-Theater (Standard) und Bellinis "Norma" an der Staatsoper Hamburg (nmz).
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Musik

Große Trauer bei SZ-Kritiker Reinhard J. Brembeck: Wenige Stunden vor dem dritten Teil aus Andris Nelsons' Münchner Beethoven-Sinfonien-Zyklus mit den Wiener Philharmonikern musste das Konzert wegen der Coronavirus-Lage abgesagt werden. Ein Trauerspiel, denn die ersten zwei Konzerte waren für ihn das reinste Glück: "Die Wiener, Nelsons liegt da genau auf ihrer Linie (oder sie auf seiner?), bringen das Kunststück fertig, den übermenschlichen Anspruch Beethovens mit menschlichem Maß auszusöhnen. Titanentum und Häuslichkeit, Wahnwitz und Geborgenheit, Entfesselung und Innigkeit: All das ist gleichzeitig hörbar. So entwerfen Nelsons und die Wiener via Beethoven ein modernes Menschenbild. Dieser Idealmensch, egal ob Frau oder Mann, ist kraftvoll, klug und oft hinreißend witzig, er ist agil, rücksichtsvoll, draufgängerisch, auch schwärmerisch, visionär und liebevoll. Nie zeigt er sich fanatisch, nie driftet er in die Vereinzelung ab" - er ist "ein diesseitiger Realist."

Ein schöner Internet-Moment war das gestern Abend um 19 Uhr: Igor Levit hat das erste seiner, wie er ankündigt, möglichst täglichen Onlinekonzerte gegeben, mit denen er den derzeit weitgehend brach liegenden Kulturbetrieb abfedern will:



Außerdem haben gestern Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker ihr gestriges Konzert vor leerem Saal, aber gratis vor der Weltöffentlichkeit des Internet gegeben - hier kann man es nachhören. Auch weitere Kultureinrichtungen verlagern sich ins Netz - Bernd Graff hat für die SZ die wichtigsten Anlaufstellen gesammelt.

Außerdem: Juliane Liebert hat sich für die SZ mit King Krule getroffen. Julian Weber schreibt in der taz einen Nachruf auf den DJ und Musiker Bernd Hartwich. Das Tonhalle-Orchester setzt wegen eines bestätigten Coronavirus-Falls seinen Konzertbetrieb aus, meldet die NZZ.

Besprochen werden ein Konzert von Mitsuko Uchida in Berlin (Tagesspiegel) und Malakoff Kowalskis neues Piano-Album "Onomatopoetika" (taz). Ein Video:

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Literatur



Der Preis der Leipziger Buchmesse wurde gestern morgen coronavirus-bedingt im Dlf Kultur verliehen (hier die ganze Sendung zum Nachhören). In der Kategorie "Belletristik" ging er an Lutz Seilers Wenderoman "Stern 111". Als bestes Sachbuch wurde Bettina Hitzers "Krebs fühlen. Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhundert" ausgezeichnet, als beste Übersetzung Pieke Biermanns Übertragung von Fran Ross' "Oreo". In unserem Online-Buchladen Eichendorff21 haben wir einen Büchertisch mit allen Büchern aus der Shortlist zusammengestellt.

Normalerweise hat die Vergabe in Leipzig "etwas Staatsakthaftes", schreibt Dirk Knipphals in der taz. Im Radio - ohne die Nominierten, mit nur drei anwesenden Jurymitgliedern und vernehmlichem Rascheln mit den Kuverts, in denen die Gewinner stehen - gab es "eher eine Mischung aus Podcast und sympathetischen Telefoninterviews." Gerrit Bartels vom Tagesspiegel hatte mit Ingo Schulze statt mit Lutz Seiler als Gewinner gerechnet ("Vermutlich hat die einen Tick größere Literarizität bei Seiler den Ausschlag gegeben"), freute sich aber über die Geschwindigkeit, mit der die ganze Sache gelaufen ist - nach 20 Minuten wusste man Bescheid, im Anschluss gab es Bonusmaterial: Die Verlage posteten Jubelfotos von sich mit Radio.

Nicht die geringste Freude hatte FAZ-Kritiker Andreas Platthaus an dieser Verleihung, einem "Nichts an Zeremonie", die "lieblos und ohne jede Dramatik" gestaltet war: "In der Leipziger Messehalle waren bislang Menschen am Werk, die wussten, was sie tun, was es bedeutet, selbst Ehre einzulegen, wenn man Ehrungen vergibt. Das haben die Nominierten mit ihren Büchern auch verdient. An diesem Donnerstag wurden sie um ihre großen Momente betrogen." Lothar Müller blickt in der SZ auf die radiophonen Aspekte der Verleihung: Bei einer Livesendung geht auch mal was schief, gekonnt wurde aber das Öffnen der Briefumschläge inszeniert (hier zu sehen). Gewünscht hätte er sich allerdings Mikrofone in den Verlagshäusern, um den dortigen Jubel hören zu können.

Weiteres: Die SZ bringt ein großes, 1995 von Helmut Böttiger geführtes und bislang unveröffentliches Gespräch mit Günter Grass über dessen Verhältnis zu Paul Celan. In Paris hat Leïla Slimani ihren neuen Roman "Le pays des autres" vorgestellt, berichtet Jan Knobloch in der FAZ. Auch das Leipziger Indie-Comicfestival "The Millionaires Club" fällt nun aus, melden Stefan Pannor und Lars von Törne im Tagesspiegel. Und Michael Wurmitzer fragt sich im Standard angesichts der Vermarktungspotenziale von Social Media ob Autoren heute Buchmessen als Präsentationsplattform für sich überhaupt noch brauchen.

Besprochen werden unter anderem David Albaharis "Heute ist Mittwoch" (NZZ) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Heinz Janischs "Hans Christian Andersen. Die Reise seines Lebens" (SZ).
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Kunst


Zwei Fotos aus der Ausstellung "Owning the Game". Mehr Infos dazu bei Joci Marton (Instagram, Facebook), hier und hier.

In der SZ stellt Johanna Adorján auf der Seite 3 den schwulen ungarischen Rom Joci Márton vor, der in Budapest eine kleine Ausstellung mit Fotos organisiert hat, für die sich Roma inszeniert haben, die sich der LGBTQ-Bewegung zugehörig fühlen. Márton ist sehr froh, "auch mal eine positive Geschichte über uns" erzählen zu können. So viele gibt es nämlich nicht. "Insgesamt sind es 15 Personen, sie alle haben ihre Porträts selbst inszeniert. Márton erzählt, dass es nicht leicht war, sie zusammenzubekommen. Queere Roma zu finden. Sie sind nicht organisiert, nicht vernetzt. Im Grunde gibt es sie gar nicht richtig, oder noch nicht, jedenfalls nicht offiziell. Von der ungarischen Mainstream-LGBTQ-Bewegung bekam Márton keine Unterstützung. Er wirkt enttäuscht darüber, nennt sie einen elitären Verein, in dem viele außen vor blieben, Leute vom Land, Arbeiter. Als schwuler Mann habe man in Budapest groß und muskulös zu sein."

Weitere Artikel: In der FR gratuliert Ingeborg Ruthe dem Künstler Günther Uecker zum Neunzigsten, in der FAZ gratuliert Stefan Trinks.

Besprochen werden eine Ausstellung des Fotografen Umbo in der Berlinischen Galerie (FAZ, das Museum ist ab morgen bis vorerst zum 14. April geschlossen)
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