Efeu - Die Kulturrundschau

Von Natur aus ungebärdig

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02.03.2020. Die Berlinale ist mit einem Goldenen Bären für Mohammad Rasoulofs iranischen Film "There is No Evil" zu Ende gegangen. Die einzig plausible Entscheidung oder eine politische? Die Kritiker bilanzieren Carlo Chatrians erstes Berliner Festival höchst uneins. In der NY Times bekennt Mary Lovelace ihre Lust, Doktrinen zu sprengen. Nachtkritik und SZ proben mit Yael Ronen am Thalia Theater den Identitäts- und Kontrollverlust der Zukunft. Und die FAZ prüft mit dem Ensemble Modern das Lebensmodell Idealismus.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.03.2020 finden Sie hier

Film



Am Wochenende ging die erste Berlinale unter der künstlerischen Leitung von Carlo Chatrian mit einem Goldenen Bären für Mohammad Rasoulofs "There is No Evil" ("ein Monument der Dissidenz", schreibt Perlentaucher Thierry Chervel in seiner Kritik) zu Ende (alle Bären hier im Überblick). Wie gelungen war dieser Auftakt? Die Kritiker sind sich höchst uneins: Für Dominik Kamalzadeh vom Standard war er "geglückt", das Festival habe mit seinem neuen Wettbewerb "Encounters" an Profil gewonnen - nicht zuletzt überzeugte "die Heterogenität des Gezeigten" und "Politik, das alte Steckenpferd der Berlinale, wurde nicht mehr so groß geschrieben wie früher." Von "einigen leuchtenden Höhepunkten" im Wettbewerb schreibt Wenke Husmann auf ZeitOnline in ihrem Resümee. Auch FR-Kritiker Daniel Kothenschulte schreibt von einem würdigen Wettbewerbsgewinner - und lobt insbesondere die Arbeit der Retrospektive, auch in diesem Jahr wieder vor allem 35mm-Kopien gezeigt zu haben.

Deutlich kritischer sieht es Rüdiger Suchsland auf Artechock: Der Goldene Bär sei vorhersehbar die Entscheidung einer Jury gewesen, "die sich ganz offensichtlich nicht auf ästhetisch-stilistische Kriterien einigen konnte, deren Ansichten zur Filmkunst sich gegenseitig neutralisierten. Zu weit auseinander lagen die anderen Preise, um diesen Eindruck zu verschleiern. So blieb eine politisch-moralische Botschaft der vorhersehbare kleinste gemeinsame Nenner." Auf Suchsland wirkt das "alles eher wie ein SPD-Stadtteilfest, nicht wie ein Filmfestival. So ein Preis hätte genauso unter Dieter Kosslick vergeben werden können."

Auch Andreas Busche im Tagesspiegel sieht hier wie weiland in Kosslicks Jahren einen Triumph der Politik über die Kunst. Wobei er die Entscheidung allerdings doch für "plausibel" hält: "Wer sonst hätte den Hauptpreis gewinnen sollen? ... Zu wenig herausragende Wettbewerbsfilme: Dieses chronische Problem wurde lange Dieter Kosslick angekreidet. Offenbar ist es jedoch strukturell: International scheint es immer weniger herausragende Filme zu geben, die drei großen europäischen Festivals Aufmerksamkeit und Qualität verschaffen können." Und dann grub auch noch der avancierte "Encounters"-Wettbewerb dem klassischen Wettbewerb die filmkünstlerische Schlagseite ab. Tim Caspar Boehme von der taz sieht in den Encounters hingegen "einen großen Zugewinn", dort liefen "ein paar der schönsten Filme des Festivals" - alles in allem: "ein guter Auftakt." In der SZ hält Susan Vahabzadeh dem neuen künstlerischen Leiter ein sichtbares "Bemühen um Filme mit sehr eigenen künstlerischen Handschriften" zugute. Vor allem hält sie fest: "Der Februar ist kein idealer Termin. Früher einmal war das nicht so wichtig, inzwischen werden viele Filme aber kurz vorher lanciert, damit sie für nationale Preise in Frage kommen, die sich aufs Vorjahr beziehen."

In seinem FAZ-Blog porträtiert Bert Rebhandl den Bärengewinner Mohammad Rasoulof und weist zudem auf dieses Skype-Interview mit dem Regisseur hin:



Weiteres von der Berlinale: Jochen Werner hat für den Perlentaucher Ilya Khrzanovskiys zweiten auf der Berlinale gezeigten DAU-Film "Degeneration" angesehen, ein fast sechsstündiges Werk - "ein ungemein faszinierender Film", der nochmals unterstreicht, dass es mit Khrzanovskiy nicht ganz so einfach liegt, wie die allgemeine Empörung glauben machen will. Freitag-Kritikerin Julia Hertäg sah auf der Berlinale Filme mit migrantischen Themen. Und zum Nachlesen: unser Berlinale-Blog mit allen Kritiken und Presseschauen zum Festival.

Außerdem: Gerhard Midding (Welt), Stefan Brändle (FR) und Joseph Hanimann (SZ) berichten von der César-Verleihung in Paris, wo Ladj Lys "Die Wütenden" als bester Film des Jahres ausgezeichnet wurde und die Auszeichnung für Roman Polanski als "bester Regisseur" wütende Proteste im Saal nach sich zog. Johannes Franzen befasst sich auf ZeitOnline mit der Darstellung von Virenepidemien im Film. Für Cargo blättert sich Bert Rebhandl durch die Ausgabe 02/1970 der Zeitschrift Filmkritik.


Besprochen werden die Serie "Virgin River" (Freitag) und neue Heimkinoveröffentlichungen, darunter eine luxuriöse BluRay von Eckhardt Schmidts München-Klassiker "Jet Generation" aus dem Jahr 1968 (SZ).
Archiv: Film

Bühne

Echt digitaler Sex in Yael Ronens "(R)evolution) am Thalia Theater. Foto: Krafft Angerer

Als "klug und kritisch, witzig und zynisch" feiert Katrin Ullmann in der taz das Stück "(R)evolution" am Hamburger Thalia Theater, für das Yael Ronens zusammen mit Dimitrij Schad die Zukunft entworfen hat: "Ronen treibt in ihrer Inszenierung die Gegenwart und ihre bio- und informationstechnologischen Entwicklungen auf die Spitze. Schwarzhumorig und angenehm beiläufig erzählt sie mit fast quecksilbrig agilen Schauspielern davon, was längst Teil der digitalen Gegenwart geworden ist: von Überwachung, Algorithmen, Transparenz, Identitäts- und Kontrollverlust. Ihre Figuren verfallen lebensechten Simulationen, sind von ihrem smarten Leben genauso begeistert wie überfordert, werden zunehmend orientierungslos und schlingern durch die unbegrenzte Welt der digitalen Möglichkeiten wie einst ihre Großeltern durch den Otto-Katalog." Überschwänglich lobt Stefan Forth in der Nachtkritik:, besonders gut haben ihm die Sexszenen gefallen: "Im Virtuellen kann Ricky ein feuerspeiendes Fabelwesen sein, das seinen 'fetten Drachenschwanz' lustvoll in Stefans Pharaonenkörper schiebt. Im Analogen reicht es noch nicht einmal mehr für einen Kuss."

Besprochen werden René Polleschs anti-authentisches Stück "Passing - It's so easy" (das SZ-Kritikerin Christiane Lutz als "lustvolles Behauptungshalligalli" genießt, Nachtkritiker Maximilian Sippenauer fand es allerdings etwas diffus), Jo Fabians "Antifaust" am Staatstheater Cottbus (Nachkritik), Philipp Preuss' Misanthropen-Verschnitt "Unterwerfung/Gegen den Strich" am Ruhr-Theater in Mülheim (FAZ),Jacopo Godanis Tanzstück "Alter Ego" sucht im Bockenheimer Depot in Frankfurt (FR).
Archiv: Bühne

Kunst

Mary Lovelace O'Neal: She is Living in the Clouds, um 2000. Bild: Mary Lovelace
Zum ersten mal seit über fünfundzwanzig Jahren bekommt die Malerin Mary Lovelace O'Neal wieder eine Ausstellung in New York, in der Mnuchin Gallery. Im Interview mit der NY Times spricht sie über die Zeit der Black Power, ihre Begegnungen mit Stokely Carmichael und James Baldwin, ihre Bewunderung für die kubanische Plakatkünstler und die Anfänge ihrer eigenen Kunst: "Zu Beginn malte ich mit schnellen dicken Pinselstrichen in einer de-Kooning-haften Art. Wenn man die Bilder betrachtet, möchte man sie ablecken. Dann gab ich meine expressionistischen Stil auf und begann, Schichten von schwarzen Pigmenten auf die unbehandelte Leinwand aufzutragen. Diese schwarzen Bilder waren so schwarz wie nur möglich. Man kann sie als Antwort auf meine Freunde im Black-Arts-Movement sehen. Ich würde mich nicht unbedingt als eine abstrakte Expressionistin bezeichnen oder Minimalistin. Ich bezeichne mich als Malerin. Ich kann malen und kraftvolle Dinge erschaffen. Galerien möchten einen katgorisieren. Sobald man von einer Doktrin abrückt, wird man in Frage gestellt. Ich bin von Natur aus ungebärdig. Alles Doktrinäre muss ich einfach sprengen."

Weiteres: In der fantastisch bestückten Schau "Young Rembrandt" im Ashmolean Museum in Oxford kann Observer-Kritikerin Laura Cumming verfolgen, wie aus Schweiß und Genie ein Künstler von konkurrenzloser Größe wurde. In der FAZ berichtet Brita Sachs von einer Raffael-Tagung in München. Besprochen wird die Ausstellung "Vorbilder/Nachbilder" im Münchner Stadtmuseum (FAZ).
Archiv: Kunst

Design

In der NZZ feiert Daniele Muscionico den eher übel beleumundeten Stiletto als "ein feministisches Instrument mit Ermächtigungspotenzial. Ihn zu tragen, zu leiden und gleichzeitig zu genießen, ist ein Akt der Selbstbestimmung. ... Es gibt Gesundheitsschuhe, angenehm und weich wie ein Handschuh für den Fuß, doch oft hässlich wie die Nacht. Und es gibt den High Heel, ein Folterinstrument zwar wie die Eiserne Jungfrau, doch verflixt attraktiv und aussichtsreich. Sich die Welt einmal von oben besehen, auch auf Männerglatzen blicken, auf schlechte Toupets, ist das nicht vielversprechend? High Heels sind nicht die Rache an unserem Geschlecht. Sie sind lediglich die Rache an jenen, die sie für uns erfunden haben."
Archiv: Design

Literatur

Eher betrüblich ist das Interview, das ZeitOnline mit dem in Deutschland lebenden spanischen Schriftsteller Fernando Aramburu, dessen Romane um Begriffe von Heimat kreisen, der aber Nationalismus - und auch den Separatismus der Katalanen - in Bausch und Bogen ablehnt. Derzeit macht ihm Deutschland post-Hanau sehr zu schaffen: "Für mich war Deutschland immer ein Land, das sich beispielhaft mit der eigenen Geschichte auseinandergesetzt hat. Ein zivilisiertes Land. Seit einiger Zeit zerbröselt mein positives Bild. Ich glaube, ich würde mich inzwischen an bestimmte Orte in Deutschland nicht mehr trauen."

Außerdem: Gerrit Bartels flaniert für den Tagesspiegel gemeinsam mit dem Schriftsteller Lutz Seiler auf den Spuren dessen Wenderomans "Stern 111". Der Standard dokumentiert Daniel Kehlmanns Nachwort zu Ernst Lothars Erinnerungsband "Das Wunder des Überlebens". Dlf Kultur und FAS präsentieren außerdem die besten Krimis des Monats.

Besprochen werden Monika Helfers "Die Bagage" (taz), Jonathan Coes "Middle England" (SZ) und neue Krimis, darunter Jan Costin Wagners "Sommer bei Nacht" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Gisela Trahms über Sebastian Ungers "Felder":

"Draußen schreiben die Felder über den Rand
inbegriffen ein Nächstes und vom Vorigen
beschrieben
..."
Archiv: Literatur

Musik

Das Ensemble Modern befasst sich seit 40 Jahren mit der Erneuerung der Musik. Dass dabei die Musiker älter werden, fiel allerdings erst spät auf, berichtet Jan Brachmann in der FAZ: Um die Altersvorsorge zumindest für die Gründergeneration steht es schlecht, sofern keine private Vorsorge getroffen wurde. Immerhin: "Seit kurzem habe die Bayerische Versorgungskammer eine Satzungsänderung verabschiedet, die zulasse, dass sich auch Mitglieder des Ensemble Modern dort versichern lassen können. Man fragt sich, ob so ein Lebensmodell voller Idealismus und hohem wirtschaftlichen Risiko noch eine Zukunft haben kann. Geschäftsführer Christian Fausch bejaht das: 'Der Markt im klassischen Bereich der festangestellten Orchestermusiker wird nicht größer, im Gegenteil. Zudem haben die Musiker heute größere Chancen, ein individuelleres Berufsprofil zu entwickeln: dass sie freischaffend tätig sind, in der Neuen und in der Alten Musik, im Bereich der Vermittlung, dass sie komponieren und Hörspiele machen.'"

In der NZZ ätzt Peter Maffay, selbst bekanntlich glühender Avantgardist von altem Schrot und Kron, gegen Mainstreamrock: "Mainstream-Pop und -Rock sind die Ausgeburt von Ängstlichkeit: Man will im Markt nicht anecken. ... Ihn künstlerisch ein Desaster zu nennen, wäre jedoch schon zu viel gesagt - denn es gibt da ja zumeist überhaupt keinen ästhetischen Anspruch."

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Gisela Trahms über Roberta Flacks "Killing Me Softly with His Song":

Archiv: Musik