Efeu - Die Kulturrundschau

Neun weiße Rosen

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24.02.2020. Das ad-magazin lernt in Mexiko, wie der soziale Wohnungsbau der Zukunft aussehen könnte. Es hätte das Stück zur Stunde werden können: Wenn Michael Thalheimer Fassbinders "Katzelmacher" mit Ausländer- und Volkstheaterklischees auf die Bühne bringt, schauen die Theaterkritiker allerdings betreten zu Boden. Wo bleibt die Sinnlichkeit in den Kulturwissenschaften, fragt die NZZ und fordert einen "musical turn". Und die FAZ erinnert noch einmal an den Architekten Yona Friedman.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.02.2020 finden Sie hier

Bühne

Szene aus Katzelmacher. Bild: Matthias Horn

Es hätte das Stück zur Stunde werden können - stattdessen hat Michael Thalheimer am Berliner Ensemble Rainer Werner Fassbinders "Katzelmacher" ohne jeden Gegenwartsbezug inszeniert und erntet harsche Kritik. Im Tagesspiegel ärgert sich Rüdiger Schaper: "Rechtsradikaler Terror, Mordanschläge in Shisha-Bars, das ist nicht mehr Fassbinders Welt. Seine Sachen kann man heute so nicht mehr spielen - mit grauenhaften Ausländerklischees und einem zynischen Zicken-Frauenbild. Die Typen ebenso flach, cool mit Sonnenbrillen und Kaugummi im Maul. Thalheimer parodiert grellbunt Fassbinders radikale Schwarzweißfilm-Ästhetik, die in der Bundesrepublik von '69 revolutionär war. Jetzt reicht das an Denunziation heran. Hier wird ein alter Text bloßgestellt und seiner historischen Dimension beraubt. Und es wird eigentlich nicht gespielt, sondern sich schmierig in Pose geworfen. Es ist eben auch fatal, diejenigen einfach nur lächerlich zu machen, deren Haltung man erschreckend findet."

Mit "dumpf satirischen Volkstheaterklischees" kann man keinen "antirassistischen Beitrag" leisten, findet auch Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung. Nachtkritiker Michael Wolf sekundiert: "Das Geschehen hat etwas Einlullendes, beinahe Eskapistisches. Es scheint hier über Strecken so, als müsste man sich um Rassismus keine Sorgen mehr machen, als wäre das ein Thema, um das sich frühere Generationen doch schon gekümmert hätten." Schief geht auch das Gedenken an Hanau, findet FAZ-Kritiker Simon Strauss: "Unter dem johlenden Premierenjubel legen die Schauspieler neun weiße Rosen auf die Bühne und lassen sich von ihrem Regisseur zum 'Gedenken an Hanau' vor und zurück dirigieren. Entweder man gedenkt, dann ist man still und verbittet sich jeden Applaus, oder man feiert sich selbst und sein Gewissen, dann kann man johlen und klatschen." Weitere Besprechung in der taz.

CaptionSzene aus "Orestie". Bild: Thomas Aurin

Ziemlich zeitgemäß finden die TheaterkritikerInnen hingegen Jan-Christoph Gockels "Orestie", der das Stück anders als Aischylos am Schauspiel Frankfurt nicht mit der Geburt der Demokratie, sondern mit der Apokalypse enden lässt: Gockel "spricht für die Generation, deren Kinder miterleben könnten, wie sich die Welt durch Klimakatastrophen und Unterdrückung anderer Völker total umwälzt", meint Nachtkritikerin Grete Götze. Und in der FAZ schreibt Tilman Spreckelsen: "Man hätte in einer Zeit, in der sich der Rechtsstaat, das demokratische Bürgertum, die Zivilgesellschaft so herausgefordert sieht, kaum ein aktuelleres Stück finden können als dieses antike, das nach dem Unterschied von Gerechtigkeit und Rache fragt und danach, wie diejenigen, die in diesem Prozess als Erinnyen unterliegen, trotzdem und wohl gegen alle Wahrscheinlichkeit als Eumeniden eingebunden werden können." Für die FR bespricht Judith von Sternburg die Inszenierung.

Besprochen werden Barbara Bücks Inszenierung von Eduard von Keyserlings Stück "Am Südhang" am Schauspiel Frankfurt (FR, Nachtkritik), Sebastian Nüblings Shakespeare-Inszenierung "This is Venice" in einer Bearbeitung von Elisabeth Bronfen und Muriel Gerstner am Wiener Burgtheater (Standard, Nachtkritik), Viktor Bodos Inszenierung von Franz Kafkas "Das Schloss" am Hamburger Schauspielhaus (Nachtkritik) und Jean-Philippe Claracs und Olivier Deloeuils Melange aus drei Opern von Mozart und Da Ponte am Theatre de la Monnaie in Brüssel (FAZ). Für die SZ resümiert ein glücklicher Egbert Tholl das Brecht-Festival in Augsburg unter Leitung von Tom Kühnel und Jürgen Kuttner.
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Kunst

Bei seinem großen Rundumschlag beschimpfte Ai Weiwei auch die Berliner UDK-Studenten als "faul" (Unser Resümee). Für das monopol-Magazin hat sich Donna Schons an der Uni umgehört: "Spricht man mit ehemaligen Ai-Studierenden, kristallisiert sich Abwesenheit als markantestes Merkmal des Professors heraus." Auch an Absprachen hielt sich Weiwei nicht: Beim Sommerrundgang 2018 wollte Weiweis Klasse ihr Atelier unter anderem als Zeichen gegen den mangelnden Platz an der Uni leerstehen lassen. "Aber Ai war die Leere dann doch zu viel: Über die Köpfe vieler Studierender hinweg entschied er, ein Buch mit Transkripten der Klassengespräche zu zeigen: 'Conversations Between Ai Weiwei and Students' verleibte sich die Leere des Raumes ein. Eine Beteiligung der Studierenden an der Publikation lehnte Ai ab, zum Protest weigerten sich Helmut und einige Kommilitoninnen und Kommilitonen, die Arbeit während des Rundgangs zu beaufsichtigen."

Weiteres: "Virtuos und aufwändig", aber doch "zu glatt" erscheint Regine Müller in der taz die Peter-Lindbergh-Ausstellung "Untold Stories" im Düsseldorfer Kunstpalast. "Meditativ-schöne, intime Momente" erlebt Ingeborg Ruthe (Berliner Zeitung) in der Monet-Ausstellung im Potsdamer Barberini Museum. Besprochen wird die Ausstellung "Van Gogh, Cezanne, Matisse, Hodler. Die Sammlung Hahnloser" in der Wiener Albertina (Standard).
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Film

Die Berlinale am Wochenende: Mit Kelly Reichardts am Samstag gezeigtem Revisionswestern "First Cow" hat das Festival seinen ersten Favoriten. Christian Petzold ergründet derweil die Sümpfe unter Berlin. Liebesreigen in Schwarzweiß: Philippe Garrel hat einen französischen Film wie aus den Siebzigern gedreht, dabei aber nicht die Nonchalance hinbekommen. Die neue Berlinale ist die alte, meint Artechock. Und die Welt protestiert vor dem Kinosaal für mehr deutsche Untertitel. All das und mehr - im Pressespiegel in unserem Berlinale-Blog.

Außerdem: In der SZ spricht Susan Vahabzadeh mit Carl Bergengruen darüber, wie sich das Filmedrehen ökologisch verträglicher gestalten lässt. Schon in diesem Jahr soll es losgehen: "Alle Produktionen müssen drei Kriterien erfüllen: Sie brauchen professionelle Beratung, eine CO₂-Bilanzierung, und ein Abschlussbericht ist Pflicht. Es gibt 13 weitere Kategorien, zehn davon müssen erfüllt werden - Ökostrom, emissionsreduzierte PKWs und LKWs, Verzicht oder sehr weitgehende Reduktion von Dieselgeneratoren, Einwegbatterien, umweltschädlichen Substanzen und Flugreisen, Verwendung von energiesparenden Leuchtmitteln, Mülltrennung, nachhaltiges Catering ... Die Mitglieder des Arbeitskreises verpflichten sich, 100 Produktionen fürs Kino und fürs Fernsehen nach diesen Kriterien herzustellen."

Besprochen werden die Jack-London-Verfilmung "Der Ruf der Wildnis" mit Harrison Ford (Welt), William Wylers auf DVD veröffentlichter Klassiker "Infam" mit Audrey Hepburn und Shirley MacLaine (SZ) sowie die Netflix-Serie "The Circle" (NZZ).
Archiv: Film

Literatur

Besprochen werden Peter Handkes "Das zweite Schwert" (Freitag), Ulla Lenzes "Der Empfänger" (Tagesspiegel), die von Gundula Schiffer und Adrian Kasnitz herausgegebene Anthologie "Was es bedeuten soll. Neue hebräische Dichtung in Deutschland" (Freitag), Michael Kumpfmüllers "Ach, Virginia" (Zeit), Josef Haslingers "Mein Fall" (SZ) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Alison Greens "Einfach nett" (FAZ).
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Musik

In den Geistes- und Kulturwissenschaften werden ständig neue Turns ausgerufen - nur vom "musical turn" fehlt jede Spur. Ein grobes Versäumnis, meint der Kulturtheoretiker Jan Söffner in der NZZ: Das Altgriechische sei ohne seine essenzielle Sprachmelodie gar nicht denkbar, auch dass Kultur "musisch" sei, ist kein Zufall. Trotzdem bleiben die Kulturwissenschaften völlig unmusikalisch. Schuld daran seien der Objektivitätsglaube der Wissenschaft und die Methode der Dekonstruktion - beides lasse keinen Platz fürs sinnliche Empfinden. "Die ältere, auf die Musen begründete Kulturalität lässt hingegen das Potenzial erahnen, das ein 'Musical Turn' freisetzen könnte. Musik macht es einerseits erforderlich, kulturellen Sinn auch als erlebten Sinn zu fassen und zu beschreiben - und nicht allein als konstruierte Bedeutung. Andererseits aber ginge mit dieser Rückbesinnung auf das 'Geisteswissenschaftliche' paradoxerweise auch eine Öffnung auf die empirischen Wissenschaften einher. Denn es ist ja nicht so, dass Musik nicht auch objektiviert werden könnte - der Objektivierung entzieht sich lediglich der musikalische Sinn. Das, was an der Musik objektiviert werden kann, weist indessen eine erstaunliche Affinität zu den empirisch-mathematischen Wissenschaften auf. Schon die antike (pythagoreische) Tradition erlaubte eine Mathematisierung des Rhythmus und der Harmonien; heute gesellen sich Quantifizierungen des Akustischen hinzu."

Außerdem: In der NZZ erkundigt sich Thomas Schacher bei Lena-Catharina Schneider, der künstlerischen Leiterin des Zürcher Kammerorchesters, wie sie den Klangkkörper aus der Krise führen will.
Archiv: Musik

Architektur

In der FAZ erinnert Niklas Maak an dem am Freitag im Alter von 96 Jahren gestorbenen ungarischen Architekten Yona Friedman, der kaum etwas baute, aber ein enormes theoretisches Werk hinterließ - etwa zur "mobilen Architektur". "Er war der erste Grasroot-Denker in einer Branche, die immer mehr daran glaubte, große Ideen nur mit enormen Beton- und Geldmengen umsetzen zu können. Immer wieder plädierte er für das Leichte, Improvisierte, ständig Anpass- und Verwandelbare, für das Einnisten und das Überbauen des Bestands als Strategie, für die Ermächtigung derer, die sich bauen eigentlich nicht leisten lönnen; die Herstellung teurer, CO2-intensiver Betongebilde war ihm vor allem im Alter zunehmend suspekt."

Ein "Who's who" der zeitgenössischen mittelamerikanischen Architektur, darunter Derek Dellekamp, Tatiana Bilbao oder Michel Rojkind, hat sich in Mexiko im Auftrag des Laboratorio de Vivienda Gedanken zu preiswertem sozialen Wohnungsbau gemacht, staunt Andreas Kühnlein im ad-magazin. Entstanden sind 32 Einfamilienhäuser aus "Wellblech, Ziegelstein, Beton, viel Holz. Gemein bei aller Vielgestalt ist den Entwürfen ihr Spiel mit geometrischen Grundformen, vom eindrucksvollen Tonnengewölbe Frida Escobedos bis zum Satteldach, unter dem Jorge Ambrosi und Gabriela Etchegaray einen einzigen, durchgehenden Raum verstauten. Vor allem in einem sind sich die Architekten dabei aber einig: dem konsequenten Rekurs auf die vernakuläre Bautradition ihres Landes, auf formal und funktional dem jeweiligen Klima geschickt angepasste und über Jahrhunderte entwickelte Typologien, die so etwas wie die anonyme Volksarchitektur Mexikos bilden. Nicht das nie Dagewesene, eher das Bewährte neu gedacht: modulare Gerüste, verschiebbare Paneele, passive Klimatisierung, angepasst an schmale Budgets und die verfügbaren Ressourcen. Die meisten der 32 Häuser sind sogar so konstruiert, dass sie die künftigen Bewohner mehr oder weniger selbst zusammensetzen könnten."
Archiv: Architektur