Efeu - Die Kulturrundschau

Flächige Ästhetiken

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17.01.2020. Die SZ fragt, wem das geplante neue deutsche Fotoinstitut eigentlich dienen soll: allen deutschen FotografInnen oder nur den Düsseldorfern um Andreas Gursky? Die nachtkritik feiert Susanne Kennedys und Markus Selgs transhumanistisches Tanztheater "Underworld". Die NZZ bewundert die Gelassenheit der Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk. Umso gereizter ist der Tagesspiegel, der den Jury-Präsidenten der Berlinale Jeremy Irons als alten, weißen Mann mit reaktionären Ansichten geißelt. Im taz-Interview will die Hiphop-Band Antilopengang auf gar keinen Fall aufs Land, wo es eh nur Faschos gebe. Der Standard meldet einen Aufstand des Chors an der Burg.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.01.2020 finden Sie hier

Bühne

Szene aus "Ultraworld". Foto: © Julian Röder


Einen "wilden Mix aus Computerspielfantasie, New-Age-Sinnsuche, Playbacktheater, Mythen-Mashup, LSD-Rausch und popkulturellem Zitatfeuer" erlebte nachtkritiker Christian Rakow in Susanne Kennedys und Markus Selgs transhumanistischem Tanztheater "Ultraworld" an der Volksbühne Berlin, einen "Abend, der problemlos den Bogen zwischen Kika-3D-Animationen und T.S. Eliots 'Four Quartets' schlägt. Und wie bei den durchaus ähnlich gelagerten Vorgängerarbeiten 'Women in Trouble' und 'Coming Society' braucht es hier fraglos ein spezielles Faible für flächige Ästhetiken, so wie eine Parkettnachbarin beim Intro flüsterte, als man auf stark eingefärbte Wellenbewegungen des Wassers starrte: 'Ich könnte mir auch das eine Stunde angucken.' Aber wenn man dieses Faible mitbringt, dann, würde ich behaupten, erlebt man hier ein Meisterwerk."

Am Wiener Burgtheater haben die Chormitglieder aus Protest gegen ihre Arbeitsbedingungen ihre Verträge gekündigt, berichtet Stefan Weiss im Standard. "Als Gastschauspieler waren sie demnach nur während der zweimonatigen Probezeit durchgängig angestellt und haben währenddessen eine monatliche Pauschale von 2.250 Euro brutto bezogen. Danach aber griff eine Tagelöhnerregelung: 300 Euro Bruttogage gibt es pro Abendvorstellung. Das ist bei nur drei bis vier Vorstellungen im Monat kein Einkommen, von dem sich anständig leben ließe. Für die Choristen heißt das, dass sie dazuverdienen müssen. Doch das - und hier liegt der Hauptvorwurf - werde vom Burgtheater massiv erschwert. Konkret müssen Gastspieler nämlich ihre 'Priorität abgeben', sprich: dem Burgtheater die Entscheidungshoheit darüber abtreten, welche Zusatzengagements angenommen werden dürfen und welche nicht."

Im Gespräch mit dem Standard erklärt der linke Aktivist Srećko Horvat was ihn antreibt, eine Reihe zu Europas Zukunft am Burgtheater zu kuratieren soll: "Infolge der Erderwärmung werden hunderte Millionen Menschen gezwungen sein, ihre Lebensräume zu verlassen. Was wird die EU dann machen? Sie hat keine Antwort. Europa sollte in die eigene Seele blicken und sich klar machen, dass dieser reiche Kontinent über Jahrhunderte auf Kosten anderer Erdteile aufgebaut wurde, mit Raubbau, Enteignung und Entwertung ganzer Länder. Europa muss zurückzahlen."

Besprochen werden außerdem Andrea Breths Inszenierung von Yasmina Rezas "Drei Mal Leben" am Berliner Ensemble (nachtkritik), die Adaption von David Schalkos Roman "Schwere Knochen" am Wiener Volkstheater (nachtkritik, SZ, Standard), zwei Bearbeitungen von Goethes "Iphigenie" in Celle und Hannover (taz) und Falk Richters Inszenierung seines autofiktionalen Stücks "In My Room" am Maxim Gorki Theater in Berlin (Berliner Zeitung, taz, nachtkritik, SZ).
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Kunst

In der SZ staunt Jörg Häntzschel über das Gründungsfieber in der deutschen Kulturpolitik: Jetzt ist ein deutsches Fotoinstitut geplant. Vorgeschlagen hatte es Monika Grütters, um "das künstlerische Erbe herausragender deutscher Fotografinnen und Fotografen" der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Der Bundestag hat jetzt ohne weitere Absprache beschlossen, es in Düsseldorf anzusiedeln und so dem Vorschlag einer Gruppe um den Fotografen Andreas Gursky nachzugeben. "Die Verfechter des Düsseldorfer Projekts werben gerne mit den Namen weltberühmter Fotokünstler, die es zu seinen Unterstützern zählt: Darunter sind außer Gurskys Düsseldorfer Kollegen, etwa Thomas Ruff, auch Cindy Sherman, Jeff Wall und Wolfgang Tillmans. Doch das verstärkt eher noch den Eindruck, hier wolle sich eine Gruppe millionenschwerer Weltstars eine öffentliche Institution schaffen, die vor allem ihren eigenen Zwecken dient."

Tatsächlich ist der Erhalt von Gurskys Werk nicht so sicher, wie man meinen könnte, erklärt Catrin Lorch in einem zweiten SZ-Artikel zum Thema. Fotografie ist ein sehr vergängliches Medium. "Schon ein Vierteljahrhundert nach dem Boom werden die Probleme unübersehbar: Findige Sammler und Museen ließen sich schon beim Ankauf im Atelier ein zweites Werk mitgeben, das sie in tiefgekühlten Kellern verwahrten für den Tag, an dem das Original nicht mehr farbfrisch ist, die Verbindung zum Bildträger nicht mehr hält. Ein neuer Ausdruck? Gerade wird die Produktion der 182 Zentimeter breiten Papierbahnen, die Gursky bevorzugt verwendet, eingestellt. Wer garantiert, dass seine Bilddateien in zwanzig Jahren noch lesbar sind?" Da soll jetzt das neue Fotoinstitut helfen und eine "Absicherung in die Ewigkeit" garantieren.

Weiteres: Im Tagesspiegel stellt Nicola Kuhn die prominentesten Themen des kommenden Ausstellungsjahres vor. Besprochen werden die Multimedia-Ausstellung "Pause: Broken Sounds / Remote Music" mit 24 Klavieren aus der Sammlung Conz in den Kunst-Werken in Berlin (taz) und die Gruppenausstellung "In full Sunlight" mit Werken dreier dänischer KünstlerInnen im Schweriner Kunstverein (taz).
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Literatur

Wie geht es Olga Tokarczuk eigentlich nach dem Trubel um den Literaturnobelpreis? Für die NZZ ist Olga Mannheimer dem nachgegangen und freut sich an der "altmodischen Freundlichkeit", die die im tschechisch-polnischen Grenzland fernab der Großstadtbetriebsamkeit lebende, der PiS-Regierung mit ihrem sozialpolitischen Engagement ziemlich als Dorn im Fleisch sitzende Schriftstellerin ausstrahlt. "Selbst nach dem Nobelpreis eignet sie sich nicht die gängigen Schutzmechanismen an, mit denen Berühmtheiten Bewunderer gern auf Distanz halten. Sie bedankt sich herzlich für die Glückwünsche, schüttelt die ausgestreckte Hand, wendet das Gesicht der Handykamera zu, findet ein persönliches Wort, signiert Fotos, Zettel oder eine Papierserviette, hört zu, nickt, lächelt . . . Die Miene verrät nichts von den Anstrengungen der Tage, der Blick bleibt wach, der Ton freundlich, keine Spur von Gereiztheit."

Weiteres: Online nachgereicht, präsentiert Jan Reemstma in der Literarischen Welt seine Lieblingsbücher. Nicola Slawson meldet im Guardian, dass Christopher Tolkien, der Sohn und Nachlassverwalter J.R.R. Tolkiens, im Alter von 95 Jahren gestorben ist. Außerdem bringt die NZZ vier Kurzgeschichten des Yello-Sängers Dieter Meier.

Besprochen werden unter anderem Gusel Jachinas "Wolgakinder" (SZ), Fran Ross' "Oreo" (Jungle World), Patricio Prons "Vergieß deine Tränen für keinen, der in diesen Straßen lebt" (Tagesspiegel), Attica Lockes Kriminalroman "Heaven, My Home" (FR) und Jérôme Ferraris "Nach seinem Bilde" (SZ).
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Film

Jeremy Irons' Haltungen zu MeToo und der Homoehe machen den Schauspieler zu keinem geeigneten Berlinale-Jurypräsidenten, meint Andreas Busche im Tagesspiegel-Kommentar: Die Bären würden "in diesem Jahr von einer Jury unter einem - man muss es wohl so plakativ sagen - alten, weißen Mann mit reaktionären Ansichten vergeben. Ein radikaler Neuanfang sieht anders aus. Um zu diesem Urteil zu kommen, muss man sich nicht einmal das bisher veröffentlichte Programm ansehen. Das alles klingt jedenfalls nicht nach der inhaltlichen Ausrichtung, die man von Carlo Chatrian aus seiner glänzenden Locarno-Ära gewohnt ist."

Sam Mendes' für zahlreiche Oscars nominiertes Kriegsdrama "1917" ist so gedreht, als gäbe es in dem Film keinerlei Schnitt. Folgt man dem Gespräch, das Roger Deakins der NZZ gegeben hat, bestand darin allerdings bei weitem nicht die größte Herausforderung. Sorgen bereitete dem Kameramann vor allem das Wetter: Schon am ersten Drehtag "gab es keine einzige Wolke am Himmel, wir konnten nicht drehen. Wir brauchten einen verhangenen Himmel. Da wurde ich ein bisschen nervös. ... Es blieb immer die Sorge: Was, wenn das Wetter nicht mitmacht? Was, wenn wir anfangen zu drehen und mittendrin die Sonne herauskommt?" In der Presse bespricht Andrey Arnold den Film.

Weiteres: Die Bekräftigung der Produzentin, dass James Bond auch künftig eine männliche Figur sein werde, findet Hannes Soltau im Tagesspiegel-Kommentar ziemlich ärgerlich. Im Standard porträtiert Dominik Kamalzadeh den Schauspieler Jan Bülow, der in Hermine Huntgeburths Biopic "Lindenberg! Mach Dein eigenes Ding" den jungen Udo Lindenberg spielt.

Besprochen werden Elia Suleimans "Vom Gießen des Zitronenbaums" (Tagesspiegel, unsere Kritik hier), Dror Zahavis "Crescendo" über ein Orchester, in dem israelische Juden und Palästinenser miteinander Musik spielen sollen (Tagesspiegel) und der dritte Teil der Buddy-Cop-Reihe "Bad Boys" mit Will Smith und Martin Lawrence (Presse).
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Architektur

Ernst Plojhar, Entwurf für den 14. Parteitag der KPÖ im Musikverein, 1948
© Architekturzentrum Wien, Sammlung


Auch in Wien versuchten die Siegermächte  nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Bevölkerung für sich zu gewinnen - mit Architektur etwa, lernt Laura Weißmüller (SZ) in der Ausstellung "Kalter Krieg und Architektur" im Architekturmuseum Wien. Moskau versuchte es mit Propaganda, die USA mit Eigenheimen aus Fertigbauteilen, die Franzosen propagierten die Ideen Le Corbusiers, die Briten die Gartenstadt: "Ziel war es, das unkontrollierte Wachstum der Städte, das mit der Industrialisierung eingesetzt hatte, in den Griff zu bekommen. Solche Ideen gab es schon länger und nicht nur in London - weswegen die örtlichen Stadtplaner in Wien auch prompt auf ihre Erfahrungen aus der NS-Zeit zurückgreifen konnten. Die gute alte Gartenstadt erlebte ein Revival, Pläne von damals wurden aus der Schublade geholt, manchmal tatsächlich nur die Typografie leicht angepasst. Was einmal mehr am Mythos der Stunde null kratzt."
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Design

In der NZZ bespricht Oliver Herwig die Ingo-Maurer-Ausstellung in der Münchner Pinakothek der Moderne (mehr dazu bereits hier).
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Stichwörter: Maurer, Ingo, Lichtdesign

Musik

In München hat sich das BR-Sinfonieorchester unter dem Taktstock Zubin Mehtas von ihrem vor sechs Wochen verstorbenen Leiter Mariss Jansons mit einem Mahler-Abend verabschiedet. Zu hören gab es eine "altmeisterliche Deutung", schreibt Reinhard J. Brembeck in der SZ, der in diesem Konzert auch den Abschied von einer heute etwas aus der Zeit gefallenen Tradition sah, die Mahler zu einem "letzten Romantiker" erklärte, "der in einem titanischen Kreativkampf gegen die plärrenden Vulgärverlockungen der Neuzeit noch einmal die Einheit der ins Gigantische übersteigerten, aber längst schon abgestorbenen Sinfonie ermöglichte." Ob der Klangkörper nach Jansons Tod nun "einen experimentierfreudigeren Chef beruft, oder aber erneut einen Siegelbewahrer der Tradition" sei noch nicht abzusehen, meint Brembeck.

Im taz-Gespräch zieht die linke Hiphop-Band Antilopen Gang ziemlich vom Leder, was das Landleben betrifft: "Das Dorf ist eine faschistoide Gemeinschaft", meint Danger Dan. Und Koljah sieht in der "Glorifizierung des Landlebens ... das antisemitische Stereotyp des organischen Dorfs, das so konkret ist und natürlich gewachsen und dagegen steht die künstliche Großstadt, in der alles anonym ist - und diese Freiheit sei etwas Schlechtes. Dabei ist sie die Voraussetzung dafür, dass Individualismus und bürgerliches Glücksversprechen überhaupt möglich sind." Am schlimmsten findet die Band allerdings Dorf-Kiffer, die sich erst in eine "psychotische Wahnwelt hineinkiffen", aus der sie dann als Neu-Rechte hervorträten. Dazu passend gibt es auch einen Song auf dem neuen Album:



Besprochen werden 070 Shakes Debütalbum "Modus Vivendi", die damit "HipHop zum Aufwachen nach dem Koma bringt", wie tazler Johann Voigt schreibt, Okay Kayas Album "Watch This Liquid Pour Itself" (taz), das neue Album von Algiers (Standard, Pitchfork) und ein Abend mit Wishbone Ash, Nazareth und Uriah Heep in Frankfurt (FR).
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