Efeu - Die Kulturrundschau

Jenes dialektische Licht

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.12.2019. Wie diskrimierend ist die Avantgarde?, fragt die NZZ. Macht die Aufhebung von Unterschieden in der Kunst nur gute Laune oder auch Sinn?, fragt die Welt. Warum um Kunstpreise wetteifern?, fragt der Guardian und freut sich über gleich vier Turner-Preisträger. Die FR lauscht verzückt der Nagelgeige in Georg Caspar Schürmanns "Getreuer Alceste". Außerdem feiern die Feuilletons den allseits verehrten Jeff Bridges, der das scheinbare Nichtstun zur Kunstform erhob.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.12.2019 finden Sie hier

Kunst

Antiziganismus? Exotismus? Otto Müller Zwei Zigeunerinnen mit Katze, 1926/27, Museum Ludwig, Köln


Mit der Aktion "Bild und Gegenbild" erprobt das Kölner Museum Ludwig eine Revision seiner Sammlung, indem es einzelne Werke auf diskriminierende Elemente hin untersucht. Dafür erntete es einen üblen Shitstorm. Tugendterror! Cancel Culture! Warum nicht einfach mal gespannt sein?, fragt Antje Stahl in der NZZ, warum einen kritischen Blick nicht aushalten: "Im Museum Ludwig zeigt sich nun, wie fehlgeleitet solche Zuspitzungen sein können. Hier wird nichts bereinigt oder gecancelt, nichts entprovoziert oder gar entradikalisiert - im Gegenteil: Die Gegenüberstellung von Gemälde und Film wird die Besucher dieses Hauses vor den Kopf stoßen, weil sie die verehrte Ästhetik der Avantgarde in jenes dialektische Licht stellt, das in den größten Errungenschaften der Menschheit auch immer nach den Ursprüngen ihrer Verbrechen fahndet. Damit soll nicht gesagt sein, dass der Rassismus im schönen Schein von 'Zwei Zigeunerinnen mit Katze' aufgeht, nein. Aber der künstlerische Widerstand gegen die bürgerliche Ordnung funktioniert eben nur um den Preis, andere Menschen und Welten als wild und exotisch zu verklären. Wer das zugibt, greift mit Sicherheit nicht die Kunstfreiheit an, sondern kritisiert die realen Umstände, die es den einen auf Kosten der anderen ermöglicht haben, sie unwidersprochen auszuüben."

In der Welt verteidigt Hans-Joachim Müller prinzipiell den Kanon in der Kunstgeschichte: Wenn er sich als unhaltbar erweist, müsse man ihn eben umschreiben, aber nicht abschaffen. Ordnung schaffe nicht nur Hierarchien, sondern auch Sinn, betont Müller, eine bunte Hängung wie im neu arrangierten Moma macht nur gute Laune: "Wen kümmern noch die Unterschiede? Wenn es entschieden mehr Spaß macht, das, was Herkunft, Anspruch und Macht getrennt überliefert haben, so weich zu verschränken, dass zumindest die Illusion von 'Weltkultur' entsteht. Und bildet nicht die Regie der Beliebigkeit eine Erfahrung ab, die erst im Netz zur Kulturtechnik erwachsen ist? Ähnlich wie im kanonfreien Museum streift man ziel- und richtungslos umher und verliert sich in der Gleichrangigkeit der Dinge, die dort verdatet sind. Alles hat miteinander zu tun, steht in irgendeiner Korrelation zueinander. Der Philosoph Byang-Chul Han hat recht, wenn er in seinem Essay 'Psychopolitik' schreibt: 'Die Korrelation stellt die primitivste Stufe des Wissens dar ... Korrelationen ersetzen Kausalität... Die datengetriebene Quantifizierung der Wirklichkeit vertreibt den Geist ganz aus dem Wissen.'" (Nur wenn man auch bereit ist, ihn fahren zu lassen!)

Eigentlich ganz passend dazu meldet der Guardian, dass der Turner-Preis in diesem Jahr an alle vier nominierten Künstler - Lawrence Abu Hamdan, Helen Cammock, Oscar Murillo and Tai Shani -vergeben wurde, nachdem sie in einem gemeinsamen Plädoyer die Jury aufgefordert hatten, "Gemeinschaftlichkeit, Vielfalt und Solidarität" anzuerkennen. In einem ersten Kommentar findet Adrian Searle das ziemlich gut: "Der Turner-Preis zielte immer darauf, dass es einen Sieger geben muss. Er garantiert Öffentlichkeit, erzeugt Diskussion und nährt die Buchmacher. Das soll gut sein für das Klima, in dem über zeitgenössische Kunst gesprochen wird. Aber eigentlich werden Künstler, deren Arbeiten und Haltungen nichts miteinander zu tun haben, ohne Grund gegeneinander in Stellung gebracht."

Besprochen wird eine Ausstellung des österreichischen Expressionisten Richard Gerstl im Wiener Leopold-Museum (NZZ).

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Bühne

Szene aus "Getreue Alceste". Foto Susanne Reichardt
Eine tolle Entdeckung ist die Wiederentdeckung von Georg Caspar Schürmanns Oper "Getreue Alceste", freut sich Judith von Sternburg in der FR, die in der Inszenierung des Rokokotheaters Schwetzingen stille Melancholie und lebhaften Gesang genoss. Und dankenswerter Weise verzichte Schürmann - anders als Willibald Gluck - beim Opfertod der Liebenden auf ein "aktlanges Nein-ich-nein-ich-Gezerre", bemerkt Sternburg: "Die Musik des Bach-Zeitgenossen Schürmann ist in ihrer Süße, ihrem unerschöpflich wirkenden melodischen Reichtum in Arien und Ensembles unmittelbar ansprechend. Das Einfallsreiche und Unorthodoxe wird in Christina Pluhars Arrangements noch betont. Schwer zu sagen, ob es wirklich immer Schürmann selbst ist, der die Formelhaftigkeit im Arienaufbau so dermaßen erfrischend beiseite lässt. Überzeugend, wie die durch einige Barockexperten verstärkten Mitglieder des Philharmonischen Orchesters Heidelberg die Leichtigkeit und Intensität der Musik vermitteln. Ein Höhepunkt die Einleitung zum Unterweltsakt mit 1-A-Geräuschkulisse, in der man zum ersten Mal im Leben eine Nagelgeige hört. Sofern das eine Nagelgeige ist."

Besprochen werden John Neumeiers Choreografie zu Tennessee Williams' "Glasmenagerie (NZZ, FAZ) und Nicola Raabs Inszenierung von Verdis "La Traviata" an der Komischen Oper Berlin (taz).
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Film

Jungfräulichkeit und 80er - wie schön, dass sie vorbei sind! Szene aus "Auerhaus"

Ein wenig schade findet es Richard Kämmerlings in der Welt, dass Neele Vollmars Verfilmung von Bov Bjergs Überraschungsbesteller "Auerhaus" über eine subkulturell angehauchte Dorf-WG in den 80ern neben verzeihlichen Kürzungen gerade beim Thema Depression nicht so recht den Ton trifft. "Es ist ja eben nicht so, dass es sich bei dieser Krankheit um ein kaputtes Tretlager handelte, das sich einfach so reparieren ließe. ... Bov Bjerg gelingt es auf virtuose Weise, den Schmerz, die Schuld, die Trauer auszubalancieren mit einer Ahnung von Glück, das die kurze, so katastrophal endende Zeit im Auerhaus erst rückblickend, in der Erinnerung freisetzen kann. Im Film scheint der ganze Sinn des Lebens allein darin zu liegen, seine Jungfräulichkeit zu verlieren. Als Botschaft bleibt: eine seltsame Zeit, diese Achtzigerjahre, wie gut, dass sie vorbei sind!" Dlf Kultur hat mit der Regisseurin gesprochen.

Selbstbewusste Frauen: Woody Allens "A Rainy Day in New York"

Woody Allen bleibt mit "A Rainy Day in New York" (mehr dazu bereits hier) seiner filmischen Motivlage ziemlich treu, meint Maria Wiesner in der FAZ. Doch biete er "eine interessante Variation des Dauerthemas 'angeknackste Seelen in schwierigen Konstellationen', bei der sich die Frauenfiguren überraschend emanzipieren." Pygmalion-artige Erzählungen gibt es in Allens zwar Werken zuhauf, doch in der Figur der Chan gibt es in diesem Film eine selbstbewusste Ausnahme, die gegenüber der männlichen Figur "unbeeindruckt bleibt von seinen klugen Sprüchen und ihm vor Augen führt, dass er es sich als Opfer seines Privilegs, mit zu viel Geld geboren zu sein, sehr bequem gemacht hat und anderen dafür die Schuld gibt, dass er ambitionslos durchs Leben wankt". Auch Vittorio Storaros Kamerarbeit findet Wiesner exzellent.

Jeff Bridges wird 70. Ohne weiteres hätte der Mann in jungen Jahren den Weg gehen können, den Robert Redford und Richard Gere gegangen sind, schreibt Matt Sayles in der NZZ. Aber "der Ausnahmeschauspieler hat das scheinbare Nichtstun zur Kunstform erhoben. ... In einer Welt aus Starkult und Figuren, die größer als das Leben sind, pflegt Bridges auf und jenseits der Leinwand eine Jedermann-Persönlichkeit. Durchschnittlich ist an diesem Schauspieler aber rein gar nichts." Dietmar Dath schwärmt in der FAZ in wonniger Erinnerung an Bridges' werkdefinierende Arbeit in "The Big Lebowski": "Gebt ihm einen verratzten Bademantel und einen Klecks Bartunkraut am Kinn, schon kann er sich in seine eigene Legende legen wie in eine Hängematte", denn dann ist er "'der Dude', wie John Wayne früher 'der Duke'; ein weicher Konsonant ersetzt in der Geschichte maskulinen Rollenverhaltens also einen harten, der ganze Unterschied dahinter besteht darin, dass John Wayne einer war, hinter dem man in Deckung geht, wenn geschossen wird, während Bridges eher einer ist, an den man sich auf der Couch anlehnt, wenn der Tag mal wieder viel zu lang gedauert hat." In der SZ gratuliert Fritz Göttler.
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Literatur

Besprochen werden Tom Combos "Inneres Lind" (Dlf Kultur), Andor Endre Gelléris "Stromern" (Tell-Review), Ulrike Draesners "Kanalschwimmer" (SZ) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Allen Says "Der Kranichbaum" über Weihnachten in Japan (NZZ).
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Musik

17 Jahre alt ist Ivan Bessonov, aber da könnte ein  großer Name auf uns zu kommen, meint Helmut Mauró in der SZ, der beim Münchner Konzert einen unbändig neugierigen und künstlerisch hungrigen Pianisten mit einer hinreißenden B-Dur-Sonate von Prokofjew erlebt hat: "Bessonov kann dem toccatahaften mechanistischen Klavierstil überzeugende Klangstrukturen abgewinnen, eine vielleicht unerwartet humane Klangsprache, ja sogar eine melodische Seele. Es ist hochvirtuose Spiel- und Gedankenkunst, die das Sperrige mit dem zwingend Natürlichen wie selbsterklärend verbindet und daraus über das Individuum hinaus Weltklangtheater schafft."

Weitere Artikel: Binnen weniger Wochen haben sich in Südkorea zwei Popsängerinnen das Leben genommen, berichtet Jonas Lages in der SZ. Im Logbuch Suhrkamp präsentiert Thomas Meinecke die 74. Lieferung aus seiner "Clip//Schule ohne Worte":



Besprochen werden Herbie Hancocks Auftritt in der Berliner Philharmonie (taz, Tagesspiegel), ein Konzert von Khatia Buniatishvili mit dem London Symphony Orchestra (FR), ein Voodoo-Jürgens-Abend (Standard), neue Popveröffentlichungen, darunter neues von Jim O'Rourke (SZ), und das neue, schlicht "Who" betitelte The-Who-Album, das laut SZ-Kritiker Max Fellmann "manchmal an der Grenze zur peinlichen Selbstparodie" siedelt, im Großen und Ganzen aber eigentlich "ganz ordentlich geworden ist." Man kann ja mal reinhören:

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