Efeu - Die Kulturrundschau

Der kämpferische Einsatz seiner Kräfte

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02.12.2019. Mariss Jansons ist tot. Die Feuilletons trauern um den "aufrichtigsten, integersten und empathischsten" Dirigenten der Welt. In der Londoner Ausstellung "Eco-Visionaries" fragt der Guardian: Wo bleibt die Wut?  Der Tagesspiegel erkennt auf den Grundsatz: Im Zweifel gegen Handkes Zweifel. Und die SZ verfolgt in Mannheim mit bitterem Vergnügen wie Leonie Thies  Herrn R. Amok laufen lässt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.12.2019 finden Sie hier

Musik



"Die Klassikszene verliert einen besonders klar strahlenden Leuchtturm", schreibt Manuel Brug in der Welt, "der aufrichtigste, integerste, empathischste Dirigent der Welt ist tot", schreiben Wolfgang Schreiber und Egbert Tholl in der SZ über Mariss Jansons, der am Samstag in Petersburg im Alter von 76 Jahren mutmaßlich an Herzversagen gestorben ist. "Hat Jansons seine willensstarke Tatkraft despotisch gegen sich selbst gerichtet", fragen sie sich bang angesichts Jansons' Arbeitswut im Namen der Musik, das wenig Rücksicht gegen sich selbst zuließ: "Man musste ihn am Pult erleben, die Intensität seiner Überzeugungsfähigkeit wahrnehmen, den kämpferischen Einsatz seiner Kräfte. Jansons besaß Inständigkeit der Musik gegenüber, eine verführerische Liebe zur Musik. Autoritäres Verfügen über sie, jede Herrscherattitüde schienen ihm fremd zu sein."

Laszlo Molnar lobt in der FAZ Jansons' Sinn für Kontinuität: Er "verzettelte sich nicht mit Gastdirigaten, er hielt sein Repertoire konzentriert. ... Von Anfang an gab es klare Schwerpunkte. Brahms, Schostakowitsch, Mahler, Strauss, später Beethoven und Haydn. Es war seine besondere Gabe, die Musik im Detail zu durchdringen und sie zugleich in ihrer Größe zu erfassen." Marco Frei würdigt den Verstorbenen in der NZZ als bescheidenen Großmeister: "Allüren und Star-Eitelkeiten waren ihm wesensfremd. Jansons ging es stets einzig und allein um das Werk." Weitere Nachrufe in Presse, Standard und Tagesspiegel. Der BR hat eine Aufnahme aus Paris aus dem Jahr 2017 online. Das BR-Fernsehen und BR-Klassik holt zum Tod einige Sondertermine ins Programm - am Ende dieses Nachrufs finden sich alle Termine.

Außerdem: Ueli Bernays berichtet in der NZZ von der Schönheit des Krachs, die er beim Zürcher Jazzfestival "Unerhört" erfuhr. Thomas Schacher bon der NZZ hat derweil beim Zürcher Festival "Focus Contemporary" ein Heinz-Holliger-Konzert erlebt. Besprochen werden ein Zappa-Abend mit dem Ensemble Modern (FR), Verdis Totenmesse in einer Aufführung der Berliner Philharmoniker unter Teodor Currentzis (Tagesspiegel), der Berliner Tourauftritt von The National (SZ).
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Kunst

Unknown Fields, The Breast Milk of the Volcano, 2016-2018


In der Ausstellung "Eco-Visionaries in der Royal Academy in London hat Guardian-Kritiker Rowan Moore einige Arbeiten gesehen, die ihm nahegingen, von Rimini Protokoll etwa oder Alexandra Daisy Ginsbergs Arbeit "The Substitute" zum beinahe ausgelöschten Breitmaulnashorn. Aber wo bleibt die Wut?, fragt er: Wo Ernsthaftigkeit oder Entschlossenheit? "Künstler und Architekten zeigen Werke und Installationen, die irgendwie oder auch anders auf die Klimafrage beziehen, was gut ist, aber der Ton ist überwiegend indirekt und spekulativ. In einer Situation, in der Ärmelhochkrempeln gefragt ist, kratzen sich die Eco-Visionaries am Kinn, legen ihre Finger an die Schläfen und runzeln die Stirn und lassen ein nachdenkliches Hmm vernehmen. Das Bild von der ausgestellten Tugendhaftigkeit ist meistens schrecklich, weil es Integrität und Engagement lächerlich macht, hier trifft es."

Nach dem Juwelenraub von Dresden kritisiert der Kriminalist Daniel Zerbin in der FAZ Scharf das "naive" Sicherheitskonzept für das Grüne Gewölbe, das auf schwachgesichertes Glas und überforderte Wachleute setzte: "Der Raub in Dresden zeigt plakativ die Schwächen der deutschen Sicherheitsarchitektur, insbesondere hinsichtlich der Einbindung der privaten Sicherheit. Sicherheitskräfte werden als Mitarbeiter zweiter Klasse angesehen und schlecht bezahlt. Durch die hohe Fluktuation im Personalkörper der Sicherheitswirtschaft gelingt es der organisierten Kriminalität leicht, Innentäter einzuschleusen, die wichtiges Fachwissen liefern, wie beispielsweise beim Münzdiebstahl im Berliner Bode-Museum im März 2017 geschehen."

Besprochen werden die überbordende Ausstellung "Farbanstöße" im Bochumer Museum unter Tage (Tsp), Senga Nengudis Ausstellung "Topologien" im Münchner Lenbachhaus (taz) und eine Ausstellung des litauischen Fotografen Kazimieras Mizgiris in der Alfred-Ehrhardt-Stiftung (Tsp)

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Bühne

Ist doch klar, warum Herr R. Amok läuft. Rainer Werner Fassbinder am Nationaltheater Mannheim. Foto: Christian Kleiner

Christiane Lutz fragt sich in der SZ, was Regisseurinnen Lust macht, Rainer Werner Fassbender auf die Bühne zu bringen: In Mannheim haben sich Jennifer Peterson an das Divendrama "Die Sehnsucht der Veronika Voss" und Leonie Thies an die Angestelltentragödie "Warum läuft Herr R. Amok?" gemacht, und vor allem von Thies greller Inszenierung ist die Kritikerin überzeugt: "Thies kennt ihre Mittel, kennt den Raum, ihre Schauspieler und inszeniert entschlossen. Mit greller Komik und großem Tempo spült sie ihr Publikum im Turbogang durch einen Alltag, aus dem zu keinem Zeitpunkt ein Entkommen möglich war. Herrn R. dabei zuzuschauen, wie ihm genau das dämmert, ist ein bitteres Vergnügen."

FAZ-Kritiker genießt Simon Strauß in London einen handwerklich erstklassigen Abend mit Shakespeares "Maß für Maß", der von niemanden als "altbackenes Klassikertheater" abgetan, sondern gelten gelassen wird: "Die Royal Shakespeare Company tritt seit ihrer Gründung 1960 auf und ab wie eine stolze Königin, die weiß, dass ihre Macht nicht im Entscheiden liegt, sondern im steten Überdauern."

Besprochen werden Johanna Wehners Inszenierung von Sartres "Geschlossener Gesellschaft" am Schauspiel Frankfurt (FR, FAZ, Nachtkritik), das Abtreibungsstück "Frauensache" von Lutz Hübner & Sarah Nemitz am Staatstheater Karlsruhe (Nachtkritik) sowie Anne-Cécile Vandalems Stück "Die Anderen" an der Berliner Schaubühne und Elfriede Jelineks "Wolken.Heim" (die beide in ihrer "formalen Unbedarftheit" Doris Meyerhenrich in der Berliner Zeitung geradezu erschütterten, Nachtkritiker Michael Wolf fand Vandalems Thriller sehr vergnüglich, taz).
Archiv: Bühne

Architektur

Schinkels Bauakdemie war ein archtektonischer Meilenstein auf dem Weg zur Moderne, insistiert Rainer Haubrich in der Welt. Warum sollte man sie nicht originalgetreu wieder aufbauen? Ludwig Mies van der Rohes Barcelona-Pavillon oder Walter Gropius' Bauhaus wureden auch nicht "zeitgenössisch interpretiert": "Warum soll, was sich in jenen Fällen als richtig erwiesen hat, im aktuellen Fall der Bauakademie falsch sein? Warum sollte man nicht auch Schinkel jene Reverenz erweisen, die man in Barcelona und Dessau den Architekten Mies und Gropius erwiesen hat? Wie kann man glauben, eine Stahl-Glas-Fassade, ein Beton-Würfel, Digital Screens oder was sonst gerade angesagt sein mag, könnten faszinierender sein als die Wiederauferstehung von Schinkels Bauakademie, diesem singulären Werk der Architekturgeschichte?"
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Film

Anlässlich der Veröffentlichung von Harun Farockis gesammelten Texten aus den Jahren von 1976 und 1985 hat das CrimeMag dessen ursprünglich 1982 veröffentlichten Essay über Charles Laughtons einzige Regiearbeit "The Night of the Hunter" online gestellt. Artforum veröffentlicht die traditionelle Jahresbestenliste von Trashpapst John Waters. Auf der Spitzenposition: "Climax" von Gaspar Noé.

Besprochen werden Mariko Maniguchis Debütspielfilm "Mein Ende. Dein Anfang." (taz), Roger Eggers' Kunsthorrorfilm "The Lighthouse" (Standard, Freitag, mehr dazu hier), der rekonstruierte Aretha-Franklin-Konzertfilm "Amazing Grace" (Tagesspiegel, unsere Kritik hier), der CIA-Thriller "The Report" mit Adam Driver (taz) und Jens Rostecks Biografie über Jeanne Moreau (Zeit).
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Literatur

In seinen Wortmeldungen der letzten Tage und Wochen insistiert Peter Handke auf die genaue Lektüre seiner Texte und pocht auf das Recht der Literatur und der subjektiven Wahrnehmung - und dreht sich damit längst außerhalb der Debatten im Kreis seiner eigenen Argumentation, meint Gerrit Bartels im Tagesspiegel, der von der naiv fragenden Rhetorik in Handkes Texten wenig überzeugt ist. "Überall, wo er seine Zweifel hat, kann es selbst nur heißen: Im Zweifel gegen Handkes Zweifel; gegen seine Aussage, es handele sich, weil er Schriftsteller ist, bei seinen Jugoslawien-Texten um Literatur. Diese dient hier nur als Verpackung für seine Überzeugungen, sein Meinen, seine rhetorischen Manöver. Aufklärend sind die Texte nicht, und zu einem Frieden, von dem darin häufig die Rede ist, haben sie nicht gerade geführt. ... Peter Handke gefällt sich bis heute darin, um ihn noch einmal abgewandelt zu zitieren, 'ein Gefangener seiner Anfangsmeinung' zu sein."

Hat Peter Handke 1998 mit seinen Freunden Scott Abbott und Thomas Deichmann bei einer ihren vielen gemeinsamen Reisen ins ehemalige Jugoslawien im Vilina Vlas Hotel in Visegrad übernachtet?  Peter Maass ist sich in The Intercept sicher. Dies Hotel war einer der Orte, in denen einige Jahre zuvor systematisch Frauen vergewaltigt worden waren - was Handke bewusst war. Dennoch hat er seinen späteren Aufenthalt nicht thematisiert. Maass' Resümee der Effekte der Nobelpreisentscheidung für Handke ist bitter: "Ich finde es unmöglich, diese Geschichte zu beenden, ohne zu erwähnen, was wohl schon offensichtlich ist: die Wut, die ich empfinde, dass wir mehr als 25 Jahre nach dem Krieg wieder über diese längst abgehandelten Verbrechen diskutieren und sie beweisen müssen. Die schrecklichen Fragen der Grausamkeit und Schuld in Bosnien wurden schon vor langer Zeit in Prozessen und anderen Untersuchungen geklärt; es gibt eine Fülle von Beweisen. Aber dank der Schwedischen Akademie wurden diese Fragen wieder hochgespült, denn das Werk eines Völkermord-Leugners wurde mit einem Nobelpreis belohnt. Die Zeugen und Überlebenden von Mord und Folter werden von der so genannten zivilisierten Welt, die so viele Jahre lang kaum eine Hand erhoben hat, um ihnen während des Krieges zu helfen, ein weiteres Mal gedemütigt."

Weitere Artikel: In der taz gratuliert Ralf Leonhard der Zeitschrift Wespennest zum 50-jährigen Bestehen. FAZ und Deutschlandfunk Kultur küren die besten Krimis des Monats, in deren Jury auch unsere Krimi-Experten Thekla Dannenberg sitzt. Auf der Spitzenposition: John le Carrés "Federball". Außerdem ist eine neue Ausgabe des monatlichen CrimeMags erschienen: Hier das Editorial mit dem Überblick über alle Rezensionen, Empfehlungen und Essays.

Besprochen werden unter anderem Douglas Couplands "Bit Rot" (Dlf Kultur), Laura Groffs Kurzgeschichtenband "Florida" (Tagesspiegel), Botho Strauß' "zu oft umsonst gelächelt" (FR), James Woods "Upstate" (Dlf Kultur), Julia Bernhards Comic "Wie gut, dass wir darüber geredet haben" (Tagesspiegel), neue Hölderlin-Biografien (Standard) und Per Pettersons "Männer in meiner Lage" (SZ).

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