Efeu - Die Kulturrundschau

Feuchtfröhlich kosmisch

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29.11.2019. In Sachen Klimaschutz ist in der Kulturwelt noch einiges zu tun, stellen die Feuilletons bei ihrer Bestandsaufnahme fest. Die SZ lernt im Münchner NS-Dokumentationszentrum, wie man mit High Heels und zeitgenössischer Kunst deutsche Erinnerungskultur aufmischt. ZeitOnline stellt den besten Rapper Deutschlands vor: OG Keemo. Die NZZ erkennt, wie Algorithmen Kunst vom Dreck des Menschlichen befreien. Und die FAZ erfährt: Mit Raubkunst kann man in der Türkei auch Heroin bezahlen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.11.2019 finden Sie hier

Kunst

Bild: Kent Monkman, The Deluge, 2019 Detail. Private Collection, Canada.


"Überraschend, mutig und wegweisend", findet Jörg Häntzschel in der SZ die Ausstellung "Tell me about yesterday tomorrow" im Münchner NS-Dokumentationszentrum: Um die ständige Sammlung, die Münchens NS-Geschichte vom Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart erzählt, zu "vitalisieren", haben Museumsleiterin Mirjam Zadoff und Kurator Nicolaus Schafhausen Werke von 46 zeitgenössischen Künstlern in die Ausstellung integriert: "Die radikalste Arbeit stammt vom kanadischen Künstler Kent Monkman, der mit seinem opulenten Gemälde 'The Deluge', die Sintflut, die Verfolgung und Auslöschung der indigenen Bevölkerung als buchstäblichen Cliffhanger darstellt. Protagonist des nach hiesigen Maßstäben geschmacklosen Camp-Schinkens ist ein muskulöser Mann in High Heels. So etwas kennt man nicht in der deutschen 'Erinnerungskultur' mit ihren glattgeschliffenen Routinen und abgesicherten Sprach- und Darstellungsregelungen."

Bild: Shadi Ghadirian, Qajar #3, Detail, 1998 © Shadi Ghadirian, courtesy of Silk Road Gallery

Ein wenig enttäuscht über die vertane Chance kommt Hannah Jacobi im Tagesspiegel aus dem Museum für Islamische Kunst zurück, das zwar derzeit die Iranische Fotografie von 1842 bis zur Grünen Bewegung von 2009 beleuchtet, dabei aber offenbar weder auf Facettenreichtum noch auf "künstlerischen Anspruch" achtet: "Schwerer wiegt noch, dass diese Ausstellung einmal mehr eine iranische Kunst repräsentiert, die schon im Titel irgendwo zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Tradition und Moderne festgeschrieben wird. Um im globalen Kunstkontext bestehen zu können, haben iranische Künstler*innen schon genug an der sogenannten Bürde der Repräsentation zu tragen, die sie immer wieder in die Auseinandersetzung mit ihrem vornehmlich eigenen und iranischen Anderen der westlichen Rezipient*innen treibt. Ausstellungen wie diese schlagen in dieselbe Kerbe und wollen dem deutschen Publikum eine durch und durch 'authentische' iranische Kunst repräsentieren."

Dass die in Dresden geraubten Juwelen auf dem Schwarzmarkt angeboten werden, gilt als äußerst unwahrscheinlich. Für die Täter gibt es aber auch noch andere Verwendungsmöglichkeiten, weiß Niklas Maak in der FAZ: "Man spricht von 'Art Napping', wenn ein Teil eines geraubten Kunstwerks als Beweis verschickt und die Zerstörung des Rests angedroht wird. Versicherungen und Besitzer bevorzugen es in solchen Fällen oft, an der Polizei vorbei das verlangte Lösegeld zu zahlen, das in diesen Kreisen als 'Belohnung für Hinweise zur Wiederbeschaffung' firmiert; deswegen werden achtzig Prozent aller Kunstdiebstähle auch nie aufgeklärt. 'Kunstwerke', schreiben Nora und Stefan Koldehoff in ihrem Grundlagenwerk 'Aktenzeichen Kunst'' dienen dem organisierten Verbrechen als Zahlungsmittel oder als Instrument zur Geldwäsche. Wer groß in den europäischen Drogenhandel einsteigen will, kann das dafür notwendige Heroin in der Türkei inzwischen mit einem Porträt bezahlen."

Weiteres: Nach sieben Jahren als Museumschef der Kunsthalle Bonn wechselt Rein Wolfs zum Amsterdamer Stedelijk. Im SZ-Interview mit Alexander Menden erzählt er von Problemen in Bonn: "Ich wusste, dass wir hier viel näher an der Politik sein würden, und der Unterschied, was kuratorische Entscheidungen anging, war mir bewusst. (…) Wir haben hier eine gewisse repräsentative Vorbildfunktion in der deutschen Museumslandschaft." In der Zeit erinnert sich Felizitas von Schönborn an ein Gespräch, dass sie einst mit dem in diesem Jahr verstorbenen Künstler Tomi Ungerer führte.

Besprochen wird die Karel-Appel-Ausstellung "Late Nudes, 1985-1995" in der Berliner Galerie Max Hetzler (Berliner Zeitung) und die Klanginstallation "Bergama Stereo", für die der Künstler Cevdet Erek im Hamburger Bahnhof den Pergamon Altar nachbaute (Tagesspiegel).
Archiv: Kunst

Musik

Julia Lorenz greift in der taz eine zuvor von Steffen Greiner im Kaput Mag formulierte Beobachtung zum Thema Pop und Klimaschutz auf: Pop hat seine Funktion als Antriebsmotor für Protest verloren, eher "läuft die Sache heute umgekehrt: Pop bedient sich bei der Bewegung - denn die Slogans produziert deren Star höchstselbst. ... Vielleicht aus Angst vorm Selbstwiderspruch, denn schließlich verträgt sich die Verzichtsethik, ein zentraler Bestandteil der Rhetorik der aktuellen Klimabewegung, schlecht mit dem Performancecharakter von Pop."

Auf ZeitOnline feiert Daniel Gerhardt den Mainzer Rapper OG Keemo, der mal eben Deutschrap neu erfindet und sich auf seinem Debüt "Geist" mit wütendem Gestus den "Zusammenhängen zwischen diskriminierender Mehrheitsgesellschaft und selbstzerstörerischem Verhalten" widmet. "Viele Deutschrap-Akteure hielten das bisher für US-Probleme" und "manche fühlen sich sogar angegriffen von Martins Erzählungen, die Rassismus auch in scheinbar toleranten Milieus beschreiben und kein Interesse an Alliierten abseits des eigenen Zirkels demonstrieren. ... OG Keemo schlägt damit identitätspolitische Töne an, die im hiesigen Hip-Hop selten so klug und nie zuvor so unterhaltsam klangen. Stand jetzt gibt es keinen besseren Rapper in Deutschland." Wir hören rein:



Jens Uthoff freut sich in der taz darüber, dass der Berlin-Kreuzberger Heinrichplatz künftig nach Rio Reiser benannt sein wird, hofft aber auch, dass dort nicht einfach bloß ein Denkmal aufgestellt wird, denn "das widerspräche so ziemlich allem, wofür Rio Reiser stand. Nostalgie gibt es in Berlin und Kreuzberg nun wirklich genug."

Zu der Musik von OTTO, zweier langhaariger Exil-Bayern in Berlin, lässt es sich gut in Rumpelkellern schwofen, versichert Lars Fleischmann in der taz, denn zu hören gibt es "intelligenten Orgelpop. Das Duo zitiert feuchtfröhlich kosmische Musik und Krautrock, Synthesizerexotika der Siebziger, driftet gar in psychedelische Gefilde ab." Untergekommen sind sie beim auf die Krautrock-Nachlassverwaltung spezialisierten Label Bureau B. Wir hören rein:

Archiv: Musik

Architektur

"Das Bauen und Unterhalten von Gebäuden verursacht 40 Prozent der globalen CO₂ -Emissionen", weiß Laura Weissmüller in der SZ und begrüßt den Ansatz von Architects for Future: "Der freie Zusammenschluss aus Architekten und Bauingenieuren hat sich diesen Juni in Wuppertal gegründet und hat mittlerweile 16 deutsche Ortsgruppen sowie jeweils eine in der Schweiz und in England. Sie fordern die Baubranche auf, endlich ihrer Verantwortung gerecht zu werden, etwa indem nur noch gesunde und klimapositive Materialien verwendet werden, ein Abriss möglichst verhindern wird und falls er doch unumgänglich ist, die Rohstoffe zumindest wiederverwendet werden."

Weiteres: Für die NZZ hat sich der Medienwissenschaftler Stephan Russ-Mohl in den Brennpunkt Kleinmachnow begeben und berichtet von Bedrohungen durch Wildschweine, Rapper und Bausünden.
Archiv: Architektur
Stichwörter: Klimaschutz, Wuppertal

Bühne

Foto: Björn Klein

Tief beeindruckt zeigt sich Adrienne Braun in der SZ von Sabine Auf der Heydes "rasanter" Inszenierung von Anke Stellings mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneten Roman "Schäfchen im Trocknen" um eine Prenzlauer-Berger-Mutter mit Abstiegsängsten am Schauspiel Stuttgart: "Mit nichts als ein paar Requisiten und Perücken skizzieren die vier Schauspieler im Kammertheater diese verschiedenen Lebenswelten und Typen vom Prenzlauer Berg: das linke Pärchen mit Rastalocken, den Architekten mit schwarzer Brille. Dazwischen Resis tobende und greinende Kinder. 'Man muss sich vorher überlegen, ob man sich Kinder leisten kann', hört man die Freunde kommentieren. Das familiäre Chaos hätte 'durch den Gebrauch von Kondomen' verhindert werden können."

Weiteres: Im Klimaschwerpunkt der taz berichtet Karim El Gawhary von einem vom UN-Welternährungsprogramm WFP initiierten Laientheaterstück im ägyptischen Dorf El-Boghdadi, das den Bauern vor Ort die Folgen des Klimawandel näherbringen soll. Im Theaterbetrieb ist in Sachen Klimaschutz noch ziemlich viel Luft nach oben, stellt Till Briegleb in der SZ fest: "Obwohl weltreisende Orchester und Ensembles zu den größten Klimasündern der Branche gehören und jährlich Tausende Bühnenbilder gebaut und geschreddert werden, ergibt die Suche auf der Verbandswebsite: 'Es wurden 0 Ergebnisse für Nachhaltigkeit gefunden.'" Für die Nachtkritik ist Nikolaus Merck durch Sachsen und Thüringen gereist, um an verschiedenen Häusern zu überprüfen, wie sich ostdeutsche Theater mit "30 Jahren Mauerfall" auseinandersetzen. Seine Bilanz fällt bitter aus: Kaum ein neues Stück zum Thema, viel Boulevard, wenig Anspruch, meint er. Im Standard-Interview mit Margarete Affenzeller spricht der Kay Voges, desginierter Wiener Volkstheater-Direktor, über seine Pläne für das Haus: Eine Millionen Euro braucht er noch vom Bund, dann soll das jetzige Ensemble von 15 auf bis zu 25 SchauspielerInnen aufgestockt werden. Ebenfalls im Standard porträtiert Affenzeller Voges.

Besprochen wird das Kabuki-Stück "Kairennosuke und die drei leuchtenden Schwerter, das vom Disney Studio Japan eigens in Auftrag gegeben wurde, um den letzten Star-Wars-Teil "Der Aufstieg Skywalkers" zu bewerben (FAZ).
Archiv: Bühne

Film

Der ökologische Fußabdruck von Filmproduktionen ist erheblich, schreibt Susan Vahabzadeh in der SZ zum heutigen Weltklimastreiktag. Insbesondere auch der Digitalhunger selbst schon kleiner Produktionen schlägt zu Buche. Aber immerhin lasse sich zumindest bei kleinen "Tatort"-Produktionen gut die Hälfte an CO2-Emissionen einsparen, hat Vahabzadeh auf Nachfrage bei Carl Bergengruen, dem Geschäftsführer der Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg, herausgefunden: "Aber das erfordert eine Umstellung des Produktionsprozesses, die alle Bereiche erfasst", erklärt er. "In Baden-Württemberg müssen die Klimaschutzmaßnahmen jetzt schon im Antrag auf Filmförderung stehen, und es gibt zusätzliches Geld für einen Umweltberater."

In New York hat Netflix das Paris Theatre, das vor wenigen Monaten geschlossene, bis dahin letzte verbliebene Ein-Saal-Kino Manhattans, langfristig gemietet, melden die Agenturen und führen aus: "Die Anmietung dürfte dazu dienen, große Regisseure für hauseigene Produktionen anzulocken. Wenn Netflix Stars wie Martin Scorsese an sich binden will, reicht es nicht, dafür tief in die Taschen zu greifen. Die Produktionen müssen auch Chancen auf große Filmpreise haben und dafür braucht es die Kinos."

Besprochen werden Lorene Scafarias "Hustlers" mit Jennifer Lopez, die sich als Pole-Tänzerin an der Wall Street rächt (Standard, FR), Sydney Pollacks bei den Dreharbeiten aufgrund technischer Unachtsamkeiten vergeigter, nunmehr aber aufwändig rekonstruierter Dokumentarfilm "Amazing Grace" über die Aufnahmen eines Aretha-Franklin-Albums (taz, unsere Kritik hier), Markus Schleinzers Sklaverei-Drama "Angelo" (Tagesspiegel), die Ausstellung "Brandspuren - Filmplakate aus dem Salzstock" in der Deutschen Kinemathek in Berlin (Welt, mehr dazu hier), "The Good Liar" mit Helen Mirren und Ian McKellen (Standard), Nicolas Bedos' "Die schönste Zeit unseres Lebens" (SZ, online nachgereicht aus der FAZ) und ein Dokumentarfilm über den kanadischen Professor Jordan Peterson und seinen umstrittenen Äußerungen zum Thema "Political Correctness" (NZZ).
Archiv: Film

Literatur

Von Benn bis Handke: Ist die Trennung von Werk und Autor, wie sie in der Literaturwissenschaft üblicherweise und auch im intellektuellen Diskurs meist hochgehalten wird, noch zeitgemäß oder erfordert der Zeitgeist nicht etwa doch klare Bekenntnisse, fragt sich der Kultur- und Medienwissenschaftler Roberto Simanowski in der NZZ. Vielleicht sollte man das Feld der ästhetischen Produktion doch von Computern bestellen lassen: "Ein Kunstwerk, das nicht vom Menschen stammt, sondern von der Maschine, kann immerhin auch nicht durch menschliche Mängel befleckt sein. Oder sind dann die Programmierer, die ja das Datenmaterial auswählten und dem Algorithmus Anweisungen gaben, die Künstler, deren weiße Weste als Mensch und Bürger zu prüfen ist? ... Wie gelegen, wenn der Computer dem Menschen also nicht nur die Drecksarbeit abnimmt, sondern ihn auch noch vor dem Dreck des Menschlichen schützt."

Die New York Public Library zeigt eine Ausstellung mit Devotionalien aus dem Fundus des Schriftsteller-Eremiten J.D. Salinger -  und in der FAZ begeistert sich Simon Strauß an diesem Erlebnis. Dramatische Szenen spielen sich hier ab: "Vor dem Originalmanuskript des 'Catcher' drängeln sich die Besucher. Ein Mann will gern für einen Moment allein vor dem ihm anscheinend heiligen Dokument stehen und bittet die anderen, zur Seite zu treten. Eine ältere Frau will sich ihren Platz nicht nehmen lassen und hebt die Stimme. Schon eilen zwei Wärter herbei und eskortieren den Salinger-Maniac unter Protest zur Tür."

Besprochen werden unter anderem zwei neue Hölderlin-Biografien (NZZ) und Peter Kurzecks nachgelassenem Roman "Der vorige Sommer und der Sommer davor" (SZ).
Archiv: Literatur

Design

Das Vitra Design Museum in Weil am Rhein befasst sich in einer aktuellen Ausstellung mit dem Verhältnis von Design und Surrealismus, schreibt Jens Müller im Tagesspiegel, der sich einfach schon mal vorab über den feministischen Shitstorm empört, der sich bislang zwar noch nicht eingestellt hat, der sich seiner Ansicht nach aber ja wohl einstellen müsse, damit man damit abrechnen kann, schließlich gibt es hier auch Allen Jones' "Chair" von 1969 zu sehen, der einer Frau nachempfunden ist, auf die man sich somit setzen kann. "Man denke nur an das Gedöns, das um ein anderes Sitzmöbel mit weiblichen Rundungen, ebenfalls dem Grenzbereich zwischen Kunst und Design zuzuordnen und auch aus jenem offenbar notorischen Jahr 1969, in diesem Jahr 2019 bereits gemacht wurde. Als der italienische Designer Gaetano Pesce eine übergroße, zudem mit Pfeilen gespickte Variante seines Sesselklassikers 'Up' vor den Mailänder Dom stellte, rief das sogleich eine Frauenrechtsgruppe auf den Plan. Auf den Gedanken, dass Pesce möglicherweise ins gleiche - feministische - Horn stieß wie sie, nur eben mit dem altgedienten Mittel der Ironie, wollten die Aktivistinnen partout nicht kommen."
Archiv: Design