Efeu - Die Kulturrundschau

Raum der Gegenmoderne

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07.11.2019. Im Perlentaucher beschreibt der bosnische Germanist Vahidin Preljević den Tag, als Peter Handke in Belgrad gleich drei Auszeichnungen von serbischen Nationalisten erhielt. The Intercept findet einen jugoslawischen Handke-Pass. Die SZ hält die Zwielichtigkeit der Ich-Figuren Handkes dagegen. Die New York Times erklärt, warum die Mona Lisa aus dem Louvre muss. Der Tagesspiegel staunt über den heterosexuelle Liebeskummerfuror von FKA Twigs. Die SZ scheut vor einer Nora als reflektiertem Luxus-Vögelchen. Und: Dieser Joker hat nichts mit Donald Trump zu tun, versichert in der Welt Slavoj Zizek, nachdem jetzt auch er Todd Phillips Film gesehen hat.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.11.2019 finden Sie hier

Literatur

Im Perlentaucher beschreibt der bosnische Germanist Vahidin Preljević einen Tag im Leben des Peter Handke, den 8. April 2013, als Handke in Belgrad gleich drei Auszeichnungen erhielt, alle von serbischen Nationalisten. Preljevićs Resümee von Handkes Serbien-Bild: "Handkes Serbien, das wird von einigen Fürsprechern übersehen, ist zunächst natürlich kein reales Land, dem er in der Not seiner Isolation beispringt. Es ist das beunruhigende Konstrukt eines Raumes der Gegenmoderne, der verschlossen, antizivilisatorisch, homogen ist... Es ist also zunächst eine ästhetische Utopie, die aber eine entscheidende Diskursgrenze überschreitet, in die Geschichte eingreift und somit die oft beschworene Trennung von Werk und Autor unmöglich macht."

Peter Maass hat unterdessen für The Intercept im Handke-Online-Archiv gestöbert und dort einen jugoslawischen Pass Handkes gefunden, den er für sein Magazin repografiert. Bei handkeonline.onb.ac.at seien diese Bilder inzwischen gelöscht. Ob Handke zum Bürger Jugoslawiens erklärt worden sei, sei allerdings unklar. Maass vermutet, dass Handke den Pass als Gefallen bekam, weil er als Ausländer bei seinen Reisen sonst höhere Hotelpreise hätte zahlen müssen. Allerdings sieht Maass die Annahme eines Passes vom Milosvic-Regime auch als "einen politischen Akt, der stark Unterstützung und Linientreue ausdrückt".

Die Suhrkamp-Handreichung in Sachen Handke (unser Resümee) wird an der Debatte um den Schriftsteller nichts ändern, meint Lothar Müller in der SZ, denn diese sei von vornherein auf die Logik eines Tribunals ausgelegt, in der ein Zitat immer nur auf Eindeutigkeit hin ausgelegt werde. Dem mache jedoch die "Zwielichtigkeit der Ich-Figuren" in Handkes Texten einen Strich durch die Rechnung: "Unverkennbar gibt es in ihnen ein Ich, das wünschen möchte, die Massaker von Srebrenica seien nicht allein von den bosnischen Serben zu verantworten, es gibt aber auch das Ich, das diesem Wunsch ins Wort fällt. Und es gibt das Ich, das sich im Blick auf die Brücke über der Drina in Visegrád weigert, das dort verübte Massaker an bosnischen Muslimen in den Sprachbildern eines amerikanischer Reporters in sich eingehen zu lassen. Dieses Ich entgeht nur knapp der Versuchung, mit den Bildern das Ereignis selber in Frage zu stellen, und muss sich fragen lassen, warum es die Vorstellung der bosnisch-muslimischen Opfer und der bosnisch-serbischen Täter nur widerstrebend in sich aufnehmen kann."

Weiteres: Die NZZ dokumentiert eines der letzten Interviews, das der Schriftsteller und Kritiker Peter Hamm vor seinem Tod gegeben hat. Besprochen werden unter anderem Lauren Groffs Kurzgeschichtenband "Florida" (taz), Katerina Poladjans "Hier sind Löwen" (Tagesspiegel), Dagmar Leupolds "Lavinia" (SZ), John Burnsides "Über Liebe und Magie" (Tagesspiegel), Christoph Ransmayrs "Arznei gegen die Sterblichkeit" (Dlf Kultur), Aleš Štegers "Logbuch der Gegenwart" (Standard), Adam Brookes Krimi "Der chinesische Verräter" (Freitag) und Selma Lagerlöfs von Roberta Bergmann illustrierte Geschichte "Herrn Arnes Schatz" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Keine Kontroverse um einen Film ist komplett, solange sich Slavoj Zizek nicht geäußert hat. Jetzt hat auch der slowenische Philosoph Todd Phillips' "Joker" (unsere Kritik) gesehen und lehnt Vergleiche der Titelfigur mit Donald Trump entschieden ab. Zwar mag der US-Präsident "auf seine eigene Art ein obszöner Clown sein, aber er ist keine Joker-Person - es beleidigt den Joker, ihn mit Trump zu vergleichen. ... Wenn eine Bewegung die normativen Fundamente der herrschenden Ordnung infrage stellt, ist es beinahe unmöglich, dass es nur zu friedlichen Protesten ohne gewalttätige Ausbrüche kommt. Die Eleganz des Films 'Joker' liegt darin, dass der entscheidende Schritt vom selbstzerstörerischen Trieb hin zu einem 'neuen Begehren' (Moore) nach einem emanzipatorischen politischen Projekt in der Geschichte abwesend ist: Wir, die Zuschauer, werden gebeten, diese Abwesenheit zu füllen."

Weiteres: Zum Tod des Filme- und Museumsmachers Gustav Deutsch (ein Nachruf im Standard) hat Cargo einen längeren Text von Alexander Horwath online gestellt. Dominik Kamalzadeh resümiert im Standard die Viennale. Im Perlentaucher empfiehlt Thomas Groh die morgen im Berliner Zeughauskino beginnende Ulrich-Schamoni-Retrospektive Fritz Göttler legt in der SZ den Münchnern das Rumänische Filmfestival im Filmmuseum ans Herz. Die Agenturen melden, dass Frankreich derzeit eine #MeToo-Debatte anrollte, nachdem die Schauspielerin Adèle Haenel Vorwürfe geäußert hat, dass der Regisseur Christophe Ruggia sie bei Dreharbeiten sexuell belästigt habe. Der Tagesspiegel hat bei der Berlinale nachgefragt, wie diese auf gerade drängende Krisen - zwei zentrale Abspielstätten drohen wegzufallen, es fehlen Sponsorenmittel in Höhe einer Million Euro - reagieren will. Antwort des Festivals: Man arbeite daran.

Besprochen werden Roland Emmerichs Kriegsfilm "Midway", der von der Filmkritik im wesentlichen ziemlich begähnt wird (Perlentaucher, FR, taz, Welt, Tagesspiegel), Jan-Ole Gersters "Lara" (Welt, ZeitOnline), Scott Z. Burns' Thriller "The Report" mit Adam Driver (taz), Ruben Fleischers Splatterkomödie "Zombieland 2" (NZZ, Tagesspiegel), Adam Bolts Dokumentarfilm "Human Nature" (SZ), die DVD von Andrew Dosunmus "Wo ist Kyra?" (taz), die Schweizer Filmproduktion "Bruno Manser - die Stimme des Regenwaldes" von Niklaus Hilber (NZZ) und die von Arte online gestellte zweite Staffel der bayerischen Korruptions-Serie "Hindafing" (FAZ).
Archiv: Film

Kunst

Soll gehen: Leonardos "Mona Lisa"
In der New York Times möchte Jason Farago die Mona Lisa aus dem Louvre verbannen. Millionen Besucher - 80 Prozent laut Louvre - kommen wegen der Mona Lisa und gehen enttäuscht, weil sie über die Absperrungen hinweg kaum etwas sehen können. Das Gemälde ist einfach zu weit weg. Das Museum jedoch leidet unter dem Ansturm und die großartige andere Kunst wird viel zu wenig beachtet: "Im 20. Jahrhundert war sie einfach berühmt, aber jetzt, im Zeitalter des Massentourismus und digitalen Narzissmus ist sie das schwarzes Loch der Antikunst", meint Fargo. "Es ist Zeit für den Louvre, sich zu geschlagen zu geben. Es ist Zeit für die Mona Lisa zu gehen. Sie braucht ihren eigenen Raum. Man sollte für sie einen eigenen Pavillon bauen, vielleicht in den Tuilerien, der für die Menge optimiert ist. Man könnte ihn über die unterirdische Mall Carrousel du Louvre mit dem Hauptmuseum verbinden und ein einziges Ticket für beide Orte verkaufen. Mann sollte erstklassige Selfie-Stationen einrichten und für neugierigere Besucher zusätzlichen Exponate über die geheimnisvolle Gioconda ausstellen. Das sollte bis zu den Olympischen Sommerspielen 2024 zu schaffen sein. Lasst es von Kylian Mbappé einweihen, vielleicht mit Carla Bruni daneben. Verkauft Makronen."

Weitere Artikel: Elke Linda Buchholz besucht für den Tagesspiegel in der Berliner Gemäldegalerie ein aus dem Amsterdamer Rijksmuseum ausgeliehenes Bild: Gerard ter Borchs "galante Konversationen" - ein Ebenbild von Gerard ter Borchs "Väterlicher Ermahnung", das in der Gemäldegalerie zu Hause ist.

Besprochen werden eine Ausstellung von Christopher Kulendran Thomas' virtuellen Kopien berühmter Menschen im Berliner Schinkel-Pavillon (Tagesspiegel), ein Bildband mit Salvador Dalis Tarot-Karten, die er für den James Bond Film "Live and Let Die" entworfen hatte (Hyperallergic) und die Ausstellung "Der Junge Josef Albers - Aufbruch in die Moderne" im Josef Albers Museum Quadrat in Bottrop (SZ).
Archiv: Kunst

Bühne

Szene aus "Nora". Foto: © Konrad Fersterer


Recht zwiegespalten kommt SZ-Kritikerin Christine Dössel aus Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Ibsens "Nora"  am Staatstheater Nürnberg: Immer wieder wendet sich die hinreißende Nora-Darstellerin Pauline Kästner ans Publikum um ihm zu sagen, wie sexistisch dieser Satz oder jener ist. Aber der Sexismus, denkt sich Dössel, liegt doch mehr bei Kriegenburg als bei Ibsen: Kästner "gibt auf (pseudo-)feministischer Behauptungsgrundlage die Nora als reflektiertes Luxus-'Vögelchen'. Und ist aber unverkennbar auch eine Lulu - in roten Fummeln von Kopf bis Fuß auf Verführung, Spiel, Lustgewinn eingestellt (Kostüme: Andrea Schraad). Mit ihrem Körper als Kapital und einem blonden Kindskopf für den überdrehten Spaß. Was man als kritische Zuschauerin zunächst skeptisch beäugt, weil es so wohlfeil ist, wenn ein Regisseur einen politisch korrekten Diskursrahmen auf der Höhe des Zeitgeistes setzt (wie ein Feigenblatt auf den Akt), um darin dann doch das ewig lockende Weib zu zelebrieren... Das bleibt als diffuses Unbehagen, auch wenn das Konzept (Dramaturgie: Andrea Vilter) insgesamt aufgeht und einen großen Unterhaltungswert hat."

Weiteres: In der Zeit stellt Christine Lemke-Matwey die Sopranistin Anna Lucia Richter vor, die gerade in Hamburg die Zerlina in Mozarts "Don Giovanni" singt. Besprochen werden außerdem R. B. Schlathers Oper "Tamerlano" im Bockenheimer Depot in Frankfurt (FR) und David Robert Colemans Kammeroper "Ahead of Struwwelpeter" im Brandenburger Theater (nmz).
Archiv: Bühne

Musik

Auf ihrem neuen Album "Magdalene" verarbeitet FKA Twigs ihren Liebeskummer, nachdem die langjährige Beziehung zu dem Schauspieler Robert Pattinson in die Brüche gegangen ist, erzählt Jörg Wunder im Tagesspiegel. "In Zeiten, in denen im Pop traditionelle Rollenmodelle zerbröseln und durch genderfluide, polyamouröse oder nonbinäre Identitäts- und Beziehungskonstruktionen abgelöst werden, wirkt der heterosexuelle Liebeskummerfuror von FKA Twigs fast altmodisch. Umso mehr bei einer Person, die sich all der Bedingtheiten ihrer Existenz als Frau und person of colour bewusst ist. ... Die Schönheit und beinahe spirituelle Kraft, die FKA Twigs aus ihrem Schmerz generiert hat, lässt einen für künftige Zeiten hoffen: So lange es gebrochene Herzen gibt, wird es auch gute Popmusik geben." Der Online-Radiosender Byte.FM erklärt die Platte zum "Album der Woche": "Es geht um das Wiederaufstehen. Das Weitermachen. Das Überleben. Das Heilen. ... Auf 'Magdalene' finden sich neun Pop-Phoenixe, die gefüllt sind mit Momenten, in denen Barnett alles niederreißt - nur um wieder aus der Asche aufzusteigen. Es ist kein Trennungsalbum. Es ist ein Triumph." Ein Video:



Nicht nur der Kontakt mit der westdeutschen Punkszene war für die DDR-Punks wichtig, sondern vor allem auch der zur polnischen, erfahren wir im taz-Gespräch, das Uwe Rada mit dem damaligen Szeneaktivisten Alexander Pehlemann geführt hat. Los ging es über Fanzines und Adressentausch. "Da hat sich zuerst eine Art Brieffreundschaft entwickelt. Dann wollte man sich auch treffen und kam auf den Gedanken, sich gegenseitig als Cousins auszugeben, um eine Einladung für das Visum zu bekommen. Dann fuhren die ersten Punks rüber, unter anderem zum großen Festival in Jarocin. ... Bis zu 20.000 Besucher über mehrere Tage, Dutzende Bands, ein Drittel der Besucher Punks, das war in der DDR unvorstellbar. Das führte dazu, dass die Alösa-Gruppe, die auch eine politisch oppositionelle Gruppe war, auf die Idee kam, auch in Berlin etwas Größeres zu organisieren." Über das Verhältnis zwischen der polnischen und der DDR-Punkszene hat Pehlemann auch ein Buch geschrieben. Außerdem entstand damals der gemeinsame Tape-Sampler "We are the Flowers in the Red Zone", von dem es auf Bandcamp ein paar Stücke zu hören gibt.

Weiteres: In der NZZ spricht der britisch-italienische Dirigent Antonio Pappano über sein von den Namen her (Weber, Chopin, Schumann) eher überraschungsarmes Programm, das er mit seinem römischen Orchester in der Schweiz aufführen wird, und verspricht: "Wir bringen besondere Farben hinein." Auch in Österreich wird Deutschrap immer erfolgreicher, schreibt Amira Ben Saoud  im Standard. Jan Feddersen empfiehlt in der taz Leslie Mandokis Auftritt in Berlin.

Besprochen werden der Dokumentarfilm "Marianne & Leonard: Words of Love" über Leonard Cohen und Marianne Ihlen (FR, taz, der Standard spricht mit dem Filmemacher Nick Broomfield), der Berliner Auftritt von Patti Smith (taz, Berliner Zeitung), ein Konzert von Adam Green (Presse) und ein neues Album von Max Herre (Welt).
Archiv: Musik