Efeu - Die Kulturrundschau

So kompliziert ist Unrecht

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02.11.2019. Wo sind heute die Künstler, die provozieren, seufzt die SZ nach einem Besuch der großen Martin-Kippenberger-Schau in Bonn. Auch die Jungle World beklagt eine Filmkritik, die Filme vor allem auf die richtige Gesinnung hin abklopft. Der Guardian untersucht die Theaterkultur der DDR und erkennt: Das ganze Land war selbst eine Art Theater. Die taz blickt in die Abgründe des deutschen Nazi-Rap. Und die NZZ wird nicht glücklich mit dem Büchnerpreis für Lukas Bärfuss.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.11.2019 finden Sie hier

Literatur

Über den heute auch offiziell an den Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss verliehenen Büchnerpreis kommt bei Roman Bucheli in der NZZ allenfalls höflich-diplomatische Freude auf. Der Preis komme als Würdigung für aktuelle Leistungen entweder zu spät oder als Auszeichnung der guten Hoffnung zu früh, in jedem Fall aber blättert Bucheli eher enttäuscht durch Bärfuss' Arbeiten und legt auch Bärfuss' Roman "Hagard" unbefriedigt zur Seite. Alles in allem zeuge die Entscheidung für Bärfuss "von einem blinden Fleck, den man in der Darmstädter Akademie, die den Büchnerpreis vergibt, gegenüber der Schweiz lustvoll und mit rührender Anhänglichkeit zelebriert: Die Alpenrepublik muss noch aufgeklärt und kultiviert werden. So greifen sich die Darmstädter alle paar Jahrzehnte einen rustikalen Aufklärer zwischen Bergen und Tälern heraus und heben ihn auf ihren Schild. Dafür ist Lukas Bärfuss zweifellos der Richtige, und darum gönnt man ihm den Preis ohne Einschränkung und von Herzen. Auch wenn der Preis vielleicht anderes, Subtileres, mehr Poesie und weniger rabiate Moral verdient hätte."

Bestseller-Autor Robert Harris, der gerade seinen neuen Roman "Der zweite Schlaf" promotet, hat bei der Begegnung mit SZ-Autor Bernd Graff sichtlich Eindruck hinterlassen: Gibt sich Großbritanniens politisches Oberhaupt im Alltag rüpel- und flegelhaft, ist Harris' Anliegen demgegenüber "die Demut vor der geschichtlichen Erfahrung, sein Thema ist die Vergänglichkeit allen Ruhms, die Brüchigkeit jeder Kultur, mag sie sich auch für überlegen halten. All dies ist für ihn nicht nur eine Diagnose der fernen Vergangenheit. Auch unsere Kultur, sagt er, habe ihren Zenit überschritten: 'Unsere gesellschaftlichen Systeme und Institutionen, aber auch unsere Methoden der Informationsverarbeitung stammen noch aus analogen Zeiten. Vielleicht gelingt es uns deshalb nicht, mit den Krisen der Gegenwart angemessen umzugehen', sagt er."

Weiteres: Für die taz spricht Katharina Borchardt mit Nhung Dam über deren Debütroman "Tausend Väter". Auf ZeitOnline wirft Antonia Baum einen Blick auf den Handke-Streit zwischen "dem Feuilleton" und Twitter. Dazu passend wehrt sich Saša Stanišić - auf Twitter - gegen die in manchen Debattenbeiträgen - im Feuilleton - geäußerten Vorwurf, er hätte in seiner Dankesrede zum Deutschen Buchpreis Handke falsch zitiert. Die Art und Weise, wie Bertolt Brechts Autounfall im Jahr 1929 von einer Illustrierten werbewirksam rekonstruiert und ausgeschlachtet wurde (wofür Brecht als Honorar einen Neuwagen erhielt), ist eine von der Realität denkbar weit entfernte Inszenierung, berichtet Jan Knopf nach Recherchen in der Literarischen Welt. Jan Kuhlbrodt arbeitet sich für den Freitag durch die nunmehr editorisch erschlossen vorliegenden Tagebücher Erich Mühsams. Hans-Martin Gauger freut sich im "Literarischen Leben" der FAZ darüber, endlich Gottfried Kellers "Der Grüne Heinrich" gelesen zu haben: Den geneigten Leser erwartet hier "ein knorriges Meisterwerk". Die Literatur Luxemburgs ist weit weniger provinziell als ihr Ruf dies glauben macht, schreibt Anna Vollmer in der FAZ. Im Tagesspiegel gratuliert der Schriftsteller Friedrich Christian Delius seinem Kollegen Aras Ören zum 80. Geburtstag. Im Dlf Kultur spricht Dietmar Dath ausführlich über "Niegeschichte", seinen Wälzer über Geschichte und Theorie der Science Fiction.

Besprochen werden unter anderem Alma M. Karlins "Einsame Weltreise" (taz), Elizabeth Jane Howards "Die stürmischen Jahre" (SZ), Claire Lombardos Debütroman "Der größte Spaß, den wir je hatten" (Dlf Kultur), Andrej Kurkows "Graue Bienen" (Standard), William Melvin Kelleys "Ein anderer Takt" (taz), der neue Asterix-Band (NZZ) Burkhard Spinnens "Rückwind" (FAZ) sowie Annie Ernauxs "Eine Frau" und Hélène Cixous' "Meine Homère ist tot", in denen sich die beiden Autorinnen jeweils mit dem Tod ihrer Mutter auseinandersetzen (Literarische Welt).
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Film

In der Jungle World ärgert sich Nico Hoppe darüber, dass beträchtliche Teile der Filmkritik ihre Aufgabe zusehends darin erschöpft sehen, Filme auf die Eindeutigkeit einer richtigen Gesinnung hin zu überprüfen. Insbesondere die Diskussion um den "Joker", der einigen Kritikern einen Anlass bot, sich als Moralapostel zu inszenieren (der Perlentaucher brachte eine sehr differenzierte Kritik), dient Hoppe als Ausgangspunkt: "Wie arm das Kino wäre, wenn nur noch Filme gedreht würden, die von den Zuschauern nicht falsch interpretiert werden können, erscheint da als dringliche Frage. Die Kritik ergibt sich dem kindlichen Bedürfnis nach Erzählungen, die keinen Zweifel daran lassen, wer auf welcher Seite steht und wo sich der Zuschauer zu positionieren hat. Differenzierte Charakterstudien im Film scheinen trotz ihrer langen Tradition nur noch bedingt erwünscht. Ein Feel-Good-Movie, in dem Gut und Böse klar unterschieden sind, hätte die Gemüter sicherlich weniger erhitzt."

Weiteres: Lukas Foerster berichtet für critic.de vom Filmfestival in Antalya. Für die SZ hat sich David Steinitz mit der Schauspielerin Emilia Clarke getroffen. Rüdiger Suchsland erinnert auf Artechock an den kürzlich verstorbenen Filmproduzenten Robert Evans. Unter anderem die Salzburger Nachrichten melden, dass der Filmemacher Johannes Schaaf gestorben ist. Außerdem bringt Dlf Kultur eine Lange Nacht von Beate Becker über den Filmemacher Edgar Reitz.

Besprochen werden Markus Dietrichs "Invisible Sue - Plötzlich unsichtbar" (FR), Christoph Röhls Dokumentation "Verteidiger des Glaubens" über Ex-Papst Ratzinger (Welt) und die Sky-Serie "Watchmen", die den gleichnamigen Comicklassiker von Alan Moore weiterdenkt ("Seht her, sagt der Comic und sagt die Show: So kompliziert ist Unrecht", schreibt Dietmar Dath in der FAZ).
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Kunst

Bild: Ohne Titel (aus der Serie Krieg Böse). 1991 Skarstedt, New York© Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne


Wehmütig erinnert sich Kia Vahland in der SZ in der großen Martin-Kippenberger-Schau "Bitteschön, Dankeschön" in der Bundeskunsthalle Bonn an eine Zeit, in der Kunst noch widerständig und provokativ war. Kippenberger pfiff auf politische Korrektheit, etwa wenn er einen besoffenen Frosch ans Kreuz nagelte. Immerhin: "Unsere Gegenwart aber ist noch nah genug dran am später 20. Jahrhundert, um sich beflügeln zu lassen von dieser unverschämten Leichtigkeit, mit der Kippenberger immer wieder auch Sinnfragen verhandelt. Der gekreuzigte Frosch ist ja nicht nur eine Toleranzprobe. Er ruft tatsächlich die Schöpfungskraft auf, wenn er das Ei als Symbol bemüht, das, etwa auf einem Madonnenbild Piero della Francescas, für Fruchtbarkeit und die große Welt im Kleinen steht. Und Kippenbergers 1984 geschaffenes Gemälde 'Heil Hitler Ihr Fetischisten', das silikonbeschmierte Bild eines kaputten gereckten Arms, spielt vielleicht mit dem Tabu von Nazisymbolen, vor allem aber führt es Faschisten, ähnlich wie es einst Salvator Dalí tat, als auch emotional verblendete Fanatiker vor."

In der Welt wird Marcus Woeller in der Ausstellung "Re-Orient" im Leipziger Grassi-Museum beim Anblick von verzierten Kaffeekannen, persischen Harems-Utensilien und türkischen Schmuckdolchen - und bei genauer Inspektion seiner Assoziationen - mit Alltagsrassismus konfrontiert: "Da erzählt etwa ein Schüler davon, wie er im Kunstunterricht einem Mitschüler über den Boden eine Schere zuschliddern lässt, was die Lehrerin zum proto-terroristischen Gewaltakt aufbauscht. Eine Installation illustriert, wie eine sogenannte Gastarbeiterin in Deutschland immer weiter muslimisiert wurde, weil man sie in erster Linie als Fremde einordnete, statt als Frau, als Inhaberin eines deutschen Passes, als aktive Sportlerin, als Kleingärtnerin."

Weiteres: Im Standard hat Sandra Fleck mit dem Hundertwasser-Schüler und Leichenmaler Harald Köck über die Arbeit in der Pathologie, die Farben des Todes und das Malen des Sterbeprozesses gesprochen: "Man muss etwas darstellen, was der Lebende hat und dem Toten fehlt: die Energie, die Seele. Es ist dem Körper etwas entwichen, so präsentiert er sich auch."

Besprochen werden die große Vincent-van-Gogh-Ausstellung im Frankfurter Städel (NZZ) und die Schau "Hydra" des feministischen Künstlerinnenprojekts Goldrausch im Haus am Kleistpark (taz).
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Architektur

Die Baubranche verursacht die Hälfte des Treibhausgas-Ausstoßes, schreibt der italienische Architekt und Architekturhistoriker Vittorio Magnago Lampugnani in einem Essay in der NZZ und schlägt Maßnahmen zur Reduktion der Umweltbelastung vor: Nachhaltiges, langlebiges Bauen etwa, Umbau statt Neubau und eine dichtere Bauweise, wie sie einst üblich war: "Die historischen Städte wurden eng gebaut, weil man mit den Ressourcen Baumaterialien, Wegerschließung und sonstiger Infrastruktur haushälterisch umgehen und die Landschaft, deren Felder und Wälder die wichtigste wirtschaftliche Grundlage der Stadt darstellten, schonen musste. Ebenso die Dörfer und die Bauernhöfe, die im Kleinen die Kompaktheit der Städte reproduzierten - aus der gleichen Sparsamkeit heraus. Das Prinzip der urbanen Enge blieb bis zum 19. Jahrhundert unstrittig."
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Musik

In der FR spricht Arno Widmann mit dem Konzertagenten Berthold Seliger darüber, wie man heute mit Musik überhaupt noch Geld verdienen kann. Dieser bekräftigt einmal mehr, dass die Musiker nicht von Streamingdiensten, sondern von ihren Plattenfirmen arm gehalten werden: "Wer macht dort Geld? Spotify & Co. schreiben hohe Millionenverluste, und die Künstler verdienen am Streaming nur Centbeträge, es sei denn, sie sind Superstars. Die Plattenfirmen dagegen verzeichnen plötzlich Riesengewinne wie seit einem Jahrzehnt nicht mehr. Die Streamingfirmen überweisen etwa zwei Drittel ihrer Einnahmen an die Rechteinhaber - das sind in aller Regel die Plattenfirmen und Verlage. Und die rechnen mit den Musikern nach wie vor nach Vinyl-Steinzeit-Methoden ab. Ein profitables Geschäft, nur leider nicht für die Urheber der Musik."

Lars Fleischmann hat sich für die taz geopfert und sich nach dem antisemitischen Terroranschlag von Halle durch die wüsten Abgründe des deutschen Nazi-Raps gekämpft. Auffällig ist dabei, dass der Hass, die Parolen und die Sehnsucht nach einem neuen Holocaust gar nicht mehr groß unter Anspielungen camoufliert werden: "Diese Entwicklung ist neu. Früher waren Nazi-Rapper damit beschäftigt, überhaupt als Rapper ernst genommen zu werden." Zwar "gibt es weder eine ursächliche noch eine unmittelbare Verbindung zwischen Rap und rechtsextremistischer Gesinnung, doch kann Ersterer den Brandbeschleuniger für Zweitere darstellen. Dass es einstweilen den Versuch einer klaren Verbrüderung zwischen rechter Szene und Hip-Hop gibt, beweist etwa der Münchner Kampfsportler und Rapper Chris Ares und seine Clique. Er nennt seine Musik 'Patriotenrap', orientiert sich offen an rechten Codes und verdient sich damit in der Szene Anerkennung. Das manifestiert sich inzwischen auch in Chartserfolgen." Im Dlf Kultur sprach kürzlich auch der Musikwissenschaftler Thorsten Hinrichs zum Thema.

Weiteres: ZeitOnline öffnet eine neue Textreihe namens "Und jetzt Jazz", für die Ulrich Stock verantwortlich zeichnet. Im Auftakt berichtet er von seiner Begegnung mit dem Pianisten Hans Lüdemann, der an einer neuen Version seines bereits in den 90ern erstellten Amalgams der beiden deutschen Nationalhymnen aus der Zeit des Kalten Kriegs arbeitet. Andreas Danzer befasst sich im Standard mit alternden Punks. In der FAZ gratuliert Edo Reents dem Rockmusiker Frankie Miller zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Iggy Pops neues Album "Free" (taz), das neue, postum veröffentlichte Album von Gang Starr (Welt), Art Garfunkels Frankfurter Konzert (FR), der Auftakt des Jazzfests Berlin mit Anthony Braxton (FAZ), ein Sting-Konzert (Berliner Zeitung) und ein von Teodor Currentzis dirigierter Rameau-Abend in Baden-Baden (FAZ).

Außerdem bringt das Logbuch Suhrkamp die 73. Folge aus Thomas Meineckes "Clip//Schule ohne Worte".

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Bühne

Im Guardian erinnert der Autor Andrew Dickson, der für BBC Radio 3 gerade eine Dokumentation zum Thema gemacht hat, an die Bedeutung des Theaters in der DDR. Unter anderem fragt er, weshalb so viele Regisseure und Schriftsteller trotz Stasi und Zensur in der DDR blieben, als andere flohen: "'Die DDR konnte ein großartiger Ort sein, um Theater zu machen', sagt die Oxford-Wissenschaftlerin und DDR-Expertin Emily Oliver. 'Die Ressourcen waren im Wesentlichen unbegrenzt. Schauspieler konnten lebenslange Engagements in Ensembles bekommen. Wenn du es nach vorn geschafft hattest und mit einem guten Ensemble arbeitetest, gab es einen starken Anreiz zu bleiben.' Für einige mag die Zugehörigkeit zu einem Überwachungsstaat sogar einen merkwürdigen Reiz gehabt haben: Die Teilnahme an einem Drahtseilakt, bei dem ein einziger Fehltritt zu einer Katastrophe führen konnte, war gefährlich, aber auch aufregend. Stasiland, um den Titel von Anna Funders erschreckendem Buch über diese Ära zu verwenden, war selbst eine Art Theater. Müller scheint das gespürt zu haben und bemerkte trocken: 'Für einen Dramatiker ist eine Diktatur bunter als das Leben in einer Demokratie.'"

Weiteres: In der FAZ-Serie "Spielplanänderung" empfiehlt Verena Lueken die Wiederaufnahme von Terrence McNallys "Frankie und Johnny". Besprochen werden Martin Kusejs Inszenierung von Schillers "Don Karlos" am Wiener Burgtheater (Standard), Damien Jalets Eröffnungsstück "Omphalos" beim Tanzfestival Rhein-Main (FR), der Harald-Schmidt-Soloabend "Show-Reihe der ehrlichen Worte - Echt Schmidt" Schauspiel Stuttgart und Nuran David Calis' Inszenierung von Ebru Nihan Celkans Stück "Last Park Standing" am Schauspiel Stuttgart (SZ, nachtkritik).
Archiv: Bühne