Efeu - Die Kulturrundschau

Im Gleichschritt einsam

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11.10.2019. Die Literaturkritiker streiten über die Literaturnobelpreise für Olga Tokarczuk und Peter Handke. Die Auszeichnung zweier Europäer zeigt der Welt, dass sich das Nobelkomitee nicht von außerliterarischen Kriterien leiten ließ. Die NZZ sieht in der Entscheidung eine äußerst herablassende Geste an andere Literaturen: Sorry, Stilhöhe nicht erreicht! Der amerikanische PEN protestiert scharf gegen den Preis für Handke - wegen seiner Leugnung des Massakers von Srebrenica. Die Kunstkritiker entdecken in Frankfurt eine große amerikanische Malerin: Lee Krasner.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.10.2019 finden Sie hier

Literatur

Die Schwedische Akademie hat entschieden: Der nachgereichte Literaturnobelpreis 2018 geht an die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk, der für 2019 an den österreichischen Schriftsteller Peter Handke - erste Links, darunter ein tolles TV-Porträt Handkes von Georg Stefan Troller, haben wir gestern bereits hier zusammengestellt.

Die Feuilletons brillieren durch Überschriften-Attributierung: Mit Olga Tokarczuk gewinnt die "metaphysische Lieblingspolin" (SZ), die "Meisterin der Ambivalenz" (Berliner Zeitung), eine "Stimme gegen den Nationalismus" (Standard), eine "Grenzüberschreiterin" (taz), nicht zuletzt eine "Raumzeitreisende" (ZeitOnline). Sie steht für "Phantasie und Provokation" (FAZ) - kurz: allgemeine Zustimmung. Für NZZ-Kritiker Ulrich M. Schmid zeigt sich Polen erneut als "literarische Supermacht. ... In ihren kunstvoll komponierten Erzähltexten schafft Olga Tokarczuk eine neue Sprache für die Herausforderungen einer geschichtsbelasteten prekären Gegenwart." Sie "lotet in ihrem bereits jetzt konventionelle Maßstäbe sprengenden Werk die Grenzen zwischen Religion und Moderne, Mystizismus und Aufklärung aus", erfahren wir von Katrin Hillgruber im Tagesspiegel. Ähnlich wie Handke verteidigt sie "Mitteleuropa als ein Gebiet des kulturellen Eigensinns, das in der dichotomen Logik des Kalten Krieges - bist Du West oder Ost? - partout nicht aufgehen will und das es geduldig zu entdecken und zu bewahren gilt", erklärt Elke Schmitt auf SpOn. Doch ihr "Schreiben zielt dabei über das Historische und Vordergründig-Völkerverständigende hinaus", fügt dem Richard Kämmerlings in der Welt hinzu.

In Polen eckt sie derweil an, erklärt Gerhard Gnauck in der FAZ, sie zählt zu den "schärfsten Kritikern im Land. Nach Erscheinen der 'Jakobsbücher' sagte sie, die Polen als Nation, als 'Kolonisatoren (ihrer östlichen Nachbarvölker), Sklavenhalter und Mörder von Juden' hätten 'furchtbare Dinge' getan. Darauf brach eine Welle des Hasses über sie herein, handfeste Drohungen eingeschlossen." Weshalb sich auch Thomas Urban in der SZ fragt: "Wollte die Stockholmer Akademie ein politisches Zeichen setzen?" Wobei er auch einräumt: Wohl eher nicht, "ihr Name stand schon lange auf der Favoritenliste der Buchmacher." NZZ-Kritikerin Roswitha Schieb lobt die Preisträgerin als umweltbewegte Schriftstellerin.

Peter Handke wiederum ist "ein literarischer Seher unter Blinden" (NZZ), "der Wundersame" (taz), ein "sturer Naturbursche" (Tagesspiegel), "ein Sprachspieler, Virtuose und Aufrührer" (Berliner Zeitung), "Popstar, Prophet, Provokateur" (FAZ), aber auch der "bessere Feind" (SpOn) und nicht zuletzt ein "zorniger Prophet der kleinen Dinge" (Standard). Literarisch gesehen ist diese Auszeichnung überfällig, denn "Handke ist einer der bedeutendsten Schriftsteller seit dem Zweiten Weltkrieg, nicht nur in Deutschland, nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen Welt", schreibt Thomas Steinfeld in der SZ: "Stets ist er bereit, das bereits Vorgegebene, Fertige und von Vorurteilen Belastete in allem zu finden, was man eigentlich für echt und wahr halten möchte." Absolut d'accord mit der Entscheidung geht auch Ulrich Rüdenauer auf ZeitOnline, "denn dieses Œuvre schillert in seiner poetischen Kraft, in dem fast klassischen Ausdruckswillen, in seiner epischen Anmutung und der Unbedingtheit, in der es sich dem Schwebenden, dem Nebensächlichen, den Schwellenzuständen zuwendet." Einst trat er an als spröder Sprachkritiker, doch allmählich verwandelte er sich "in einen Erzähler, wie ihn die deutsche Literatur bis dato noch nicht gesehen hatte", schreibt Ronald Pohl im Standard: Handke wurde zum "Ding- und Wortwanderer, der in schweren Schuhen, aber himmelhoch erhobenen Herzens Europas Schicksalslandschaften ablief. Der das behutsam Wahrgenommene, das leibhaftig Gesehene und für wichtig Erachtete mit feinem, weichem Bleistift verzeichnete." Und Handke wäre nicht Handke, wenn sein gestern einberufener Pressetermin nicht mindestens skurril wäre: Im Wald, gereicht wurden Äpfel, wie beim Standard zu sehen und nachzulesen ist: "Seine Freude sei groß, betreffe aber nicht nur ihn persönlich, so Handke: 'Ich bin ein Anhänger der Weltliteratur, nicht der internationalen Literatur. Der Preis ist eine sehr zwiespältige Angelegenheit und ein ewiges Dilemma. Aber mir kommt vor, ich bin doch ein Leser oder vielleicht sogar ein Schreiber von dem, was Goethe Weltliteratur genannt hat. Wenn dann das Nobelkomitee so entscheidet, dann sind sie auf keinem ganz schlechten Weg, dass die Weltliteratur was bedeutet.""

"Mutig" sei diese Entscheidung, kommentiert Andreas Platthaus in der FAZ. Denn wo Handke, da Serbien-Kontroverse, wie auch Philipp Haibach in der Welt erinnert: Seine "gelinde gesagt, wirre Äußerungen zum Balkan-Konflikt, seine vehemente, befremdliche Unterstützung Serbiens, seine harsche Verurteilung der Nato für ihre Luftschläge und dann noch viele Jahre später, 2006, seine Rede bei der Beerdigung von Slobodan Milosevic?" Die ignorierte man besser, meint Haibach, denn "Handke schrieb ja auch über Casanova, begab sich im Jahr 2008 mit 'Die morawische Nacht' auf eine Reise im Nirgendwo oder entdeckte Toiletten in der realen Welt in 'Versuch über den stillen Ort' als den idealen Rückzugsort." Nicht ganz so gnädig sieht das PEN America - der Verband hat gestern tiefen Unmut über die Auszeichnung für Handke geäußert: "Wir sind verblüfft, dass die Wahl auf einen Schriftsteller gefallen ist, der mit seiner öffentlichen Stimme die historische Wahrheit untergraben und den Tätern des Völkermords, wie dem ehemaligen serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic und dem bosnischen Serbenführer Radovan Karadzic, öffentliche Unterstützung gewährt hat. PEN America hat sich seit der Verabschiedung der PEN-Charta von 1948 verpflichtet, gegen verlogene Veröffentlichungen, absichtliche Lügen und Verzerrung von Fakten zu kämpfen." Der Guardian sammelt kritische Stimmen, darunter Slavoj Žižek, der Handke als "Apologeten von Kriegsverbrechen" bezeichnet.

Schwenk auf die Meta-Ebene: Wie sich die Schwedische Akademie in diesem Jahr verhalten würde, stand nach dem Krisenjahr 2018 unter besonderer Beobachtung. Im Vorfeld wurde gemutmaßt, man wolle ein Zeichen für Diversität und politische Korrektheit setzen. Die nun vorliegende Entscheidung spricht gegen diese Vermutungen.  Die Akademie "setzt damit eine Traditionslinie der ernsthaften Literatur fort, die sie vor dem Skandal zugunsten einer Verpoppung - Kazuo Ishiguro, Bob Dylan - verlassen hatte", meint Mara Delius in der Welt, die sich zwar sicher ist, dass man Diversität und literarischen hoch stehenden Anspruch sicher auch hätte verbinden können. Doch "vielleicht muss man noch warten, bis eine Akademie zwei Frauen auf einmal für ihre Kunst auszeichnet, ohne dass es dann heißt, es sei aus Proporzgründen geschehen. Bis dahin kann man sich freuen, dass hier eine Entscheidung nicht nur für die Literatur getroffen wurde, sondern auch gegen ihre Vereinnahmung von außerliterarischen Kriterien." Das muss auch Gerrit Bartels im Tagesspiegel konstatieren: "Das Nobelpreiskomitee hat tatsächlich höchst autark entschieden, sich um politische Korrektheit nicht geschert, sondern ausschließlich für die Literatur argumentiert hat. Ein Autor, eine Autorin, das ist geschlechtergerecht, aber sonst?" Die Presse zitiert unter anderem Denis Scheck: "Die politische Korrektheit hat eine krachende Ohrfeige erhalten, eine Niederlage erlitten."

Was für ein Signal geht mit dieser Entscheidung an die globale Weltliteratur, fragt sich Angela Schader in der NZZ - offenbar "'Sorry. Stilhöhe nicht erreicht.' Das wäre ein Armutszeugnis angesichts der Kandidatinnen und Kandidaten, denen im Vorfeld der Preisvergabe besondere Chancen eingeräumt wurden." Reinhard Wolff zitiert in der taz die Kritikerin Jenny Aschenbrenner: "Wieder zwei Europäer, obwohl dieser Erdteil in der Geschichte des Nobelpreises sowieso überrepräsentiert ist? Man übergeht damit einen regelrechten Tsunami an extrem wichtiger Literatur, die postkoloniale Erfahrungen verarbeitet, etwa repräsentiert durch Maryse Condé oder Jamaica Kincaid, die ja auch als Favoriten gehandelt worden waren."

Besprochen werden Philipp Schönthalers "Der Weg aller Wellen" (Freitag), Reinhard Kleists Comicbiografie über den Boxer Emile Griffith (Tagesspiegel) und die in Frankreich erschienenen, bis dahin unveröffentlichten Textfragmente aus Marcel Prousts Werk (Freitag).
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Film

Arno Raffeiner empfiehlt im Tagesspiegel die Lynne-Ramsay-Werkschau im Berliner Kino Arsenal. Besprochen werden Todd Phillips' "Joker" (Jungle World, Perlentaucher), der Haihorrorfilm "47 Meters Down: Uncaged" (SZ) und die Autobiografie von Liselotte Pulver (FAZ), zu deren heutigem 90. Geburtstag Jürg Zbinden in der NZZ gratuliert.
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Stichwörter: Phillips, Todd, Kino Arsenal

Bühne

René Polleschs Stück "Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt". Foto: William Minke


Kapitalismuskritik im Friedrichstadtpalast, mit den schönen Tänzerinnen? Klingt gut, aber viel ist dann doch nicht los auf der Bühne von René Polleschs Stück "Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt" - trotz der Tänzerinnen, bedauert Jenni Zylka in der taz. Hauptdarsteller Fabian Hinrichs, "so charismatisch er ist, verliert sich zunächst bewusst im Amphitheater, wandert allein, gekleidet in drei verschiedene glänzende Revuekostüme gleichzeitig, die Bühne auf und ab, und redet von der Tiefe, von der Einsamkeit. Eine Lasershow und Musik setzen ein, Hinrichs schwingt an einem Pendel über die Fläche, die Laser durchforsten den Raum, machen ihn mehrdimensional und noch riesenhafter, lassen den Schauspieler fast verschwinden. Dann kommen die Tänzer*innen. Das ist lustig und traurig: absurd, im Gleichschritt einsam zu sein." Aber so richtig funkt es nicht bei Zylka. Sie kann "nicht verstehen, wie die Welt erneuert werden soll, wenn doch nicht einmal ernsthaft in sie hineingeguckt wird".


In der Berliner Zeitung ist Janis El-Bira eher gerührt von dem hier ausgestellten Dilettantismus: "Ganz so hoch wie am Palast gefordert, wirft auch ein Supersportler wie Hinrichs die Beinchen nicht, seine Bewegungen schleppen denen der Kompanie stets um einen Sekundenbruchteil hinterher. Auch das ist purer Pollesch: Nur Unvermögen rettet noch vor der großen Uniformität. Aber Wahnsinn, wie gut die aussieht!" In der FAZ winkt Jürgen Kaube ab: "So weit, so bekannt, Aporien des Dagegenseins im Dabeisein eben, in einer Stadt, die den Kapitalismus mehr so vom Hörensagen kennt" und außerdem seien die Tanzeinlagen enttäuschend. Weitere Kritiken im Tagesspiegel und in der nachtkritik.

Besprochen werden außerdem Robert Borgmanns Adaption von Michel Houellebecqs Roman "Die Möglichkeit einer Insel" fürs Berliner Ensemble (Berliner Zeitung, nachtkritik), Friederike Hellers Inszenierung von Ella Hicksons "The Writer" am Schauspiel Hannover (nachtkritik) und Blanka Rádóczys Adaption von Vladimir Sorokins Roman "Manaraga" fürs Schauspielhaus Graz (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Musik

Mit 66 Jahren hat Kim Gordon als einstige Frontfrau von Sonic Youth nun ihr erstes Soloalbum veröffentlicht. "No Home Record" wirkt wie eine nervöse Autofahrt durch L.A., Gordons neuem Lebensmittelpunkt, erklärt Karl Fluch im Standard. Zu hören gibt es "akustische Fragmente. Man hört elektronische Beats aus vorbeifahrenden Autos, irgendwo summt eine defekte Reklametafel, Wortfetzen bleiben wie tote Insekten an der Windschutzscheibe hängen. Daraus montiert Gordon ihre Songs.... Zum Irrsinn des modernen Lebens positioniert sie sich ihrem Wesen nach distanziert. Gleichzeitig hadert sie an dem Zwiespalt von Ablehnung und Partizipieren. Sie will nicht, was man ihr vor die Nase hängt, sie braucht es nicht, trotzdem ist es überall. Ein Gift wie der Kapitalismus, verführerisch und zerstörerisch zugleich. Aus diesem Zustand heraus entsteht, was Gordon ihre 'fucked up poetry' nennt." Tobi Müller ergänzt auf ZeitOnline: "Die existenzielle Unbehaustheit ist das Generalthema in Gordons Werk. Weniger pathetisch lässt sich das kaum sagen." Ein aktuelles Video:



Besprochen werden das neue Wilco-Album (SZ), Angel Olsens neues Album "All Mirrors" (Jungle World), Hanne Hukkelbergs "Birthmark" (taz), Igor Levits Konzert in Wien (Standard), ein Auftritt von Cher (NZZ), ein Konzert von Erdmöbel (FAZ) und das neue Album von Ezra Furman (NZZ).
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Design

Le Corbusier, Pierre Jeanneret, Charlotte Perriand. Un équipement intérieur d'une habitation, Salon d'automne, 1929 © F.L.C. / Adagp, Paris, 2019 © Adagp, Paris 2019 © Jean Collas / AChP

Das ist mal ein Statement: Zum ersten Mal überhaupt stellt die Pariser Fondation Louis Vuitton ihre vier Etagen einer einzigen Person zur Verfügung - namentlich der Designerin Charlotte Perriand, die hier erstmals voll und angemessen gewürdigt wird, freut sich Nina Belz in der NZZ. Die großzügig angelegte Ausstellung gestattet es, "die Vielfalt von Perriands Schaffen nicht nur zu betrachten, sondern auch zu erleben. Und dabei nachzuvollziehen, was diese Frau angetrieben hat, deren Werk sich über siebzig Jahre des 20. Jahrhunderts erstreckt. Perriand konzipierte Wohnungen: Stühle, Tische, Bücherwände, Hocker, aber auch ganze Küchen und Bäder. Außerdem Studentenzimmer, Empfangsräume für Museen und Reiseagenturen, Sozialwohnungen, Krankenhäuser, ein ideales Berghaus und einen Pavillon am Wasser. In Paris darf man manche der rekonstruierten Interieurs betreten und sich auf die Möbel setzen, die Perriand stets mit großer Rücksicht auf den menschlichen Körper entworfen hat."

Zu den Kuratoren der drei gezeigten Perriand-Installationen zählt auch der Schweizer Architekt Arthur Rüegg, mit dem Sabine Fischer gesprochen hat. Es sei ihnen darum gegangen, "über das Verhältnis von Möbel und Raum die Entwicklung der Entwerferin sinnlich erfahrbar" zu machen: "Zuerst die Prägung durch die Welt des Art déco im eleganten Essraum ihrer Studiowohnung hoch über der Place Saint-Sulpice. Dann das Interesse an einem universell einsetzbaren Programm aus standardisierten Elementen und die Begeisterung für den Glanz von Chrom und Glas am Salon d'Automne 1929. Und schließlich die Absage an die Maschinenästhetik und die Hinwendung zu organischen Formen, die ihren Niederschlag im 'Studierzimmer für einen jungen Mann' 1935 auf der Weltausstellung in Brüssel fand."
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Kunst

Lee Krasner: Polar Stampede, 1960, Photograph: The Jewish Museum 


Lee Krasner war ebenso wie ihr Mann Jackson Pollock eine Pionierin des amerikanischen Expressionismus. Er wurde weltberühmt, sie war außerhalb Amerikas kaum bekannt. Jetzt wird erstmals in Deutschland eine Retrospektive der 1908 geborenenen Künstlerin gezeigt, in der Frankfurter Schirn. Gemalt hatte Krasner schon immer, aber 1957, ein Jahr nach Pollocks Tod, zog sie in dessen Atelier, in dem sie jetzt auch große Formate malen konnte. "Angst vor der nackten Fläche hatte sie nicht", schreibt Rose-Maria Gropp in der FAZ. "Aber sie litt unter Schlafstörungen, es entstanden nächtliche Bilder, die 'Night Journeys'. Sie erkannte, dass sie Farbtöne wählen muss, die das Tageslicht nicht kaputt macht; Umbra ist so ein Ton. Auf 'Polar Stampede' von 1960, was Ansturm oder Flucht meinen kann, sprüht auf mehr als vier Meter Breite eine Gischt aus Pinselhieben - keinesfalls unkontrolliert, eine kühne Vermessung des Bildraums."

FR-Kritikerin Sandra Danicke hatte beim Betreten der Schirn erst mal den Eindruck, sie sei in eine Gruppenausstellung geraten, so unterschiedlich sind die Bilder und Maltechniken. Nach den Bildern in Braun, die sie nach dem Tod Pollocks nachts malte, kehrte sie in den frühen Sechzigern zur Farbe zurück: "Ihre Formen wurden nun immer kühner, energetischer, auch greller. Zu Beginn der 70er Jahre konnte Krasner mit schrillen Tönen und geometrischen Umrissen in den USA einen späten Durchbruch erleben: 1973 zeigte das New Yorker Whitney Museum ihr Werk in einer Einzelausstellung."

In der Welt kann Boris Pofalla es kaum fassen, dass Krasner nicht so bekannt ist wie die männlichen amerikanischen Expressionisten: "Man sieht am Beispiel Lee Krasner ganz gut, wie Ausschluss qua Geschlecht funktioniert. Sie war keine verkannte Künstlerin, sondern hatte Galerien und Ausstellungen, war nach dem Tod Pollocks als Alleinerbin auch finanziell unabhängig. Aber man verweigerte Krasner lange den Platz im Pantheon der Kunstgeschichte, der ihr eigentlich zusteht, neben ihren Freunden Willem de Kooning, Franz Kline und Arshile Gorky, neben Mark Rothko, Barnett Newman und den anderen Helden. Nun kann man streiten, ob man die Heldengeschichten überhaupt braucht, doch sollten die Malerinnen nicht erst einmal auch ihren Ruhm bekommen?"

Besprochen wird außerdem eine Ausstellung zu "Entarteter Kunst" im Museum Moritzburg in Halle, "Bauhaus - Meister - Moderne" (Tagesspiegel).
Archiv: Kunst