Efeu - Die Kulturrundschau

Die gedämpfte Stimmung veganer Boutiquen

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25.09.2019. Der Tagesspiegel spricht mit Regisseur François Ozon über sein Drama "Gelobt sei Gott", Missbrauch in der katholischen Kirche und die  Empfindsamkeit von Männern. Die Welt steht rätselnd vor einer mathematischen Kurvendiskussion, die Bjarke Ingels in die norwegische Fjordlandschaft baute. Die FAZ deutet auf die argumentative Not der Unterstützer von Kamila Shamsie. Die NMZ beklagt die Entwertung der Musikerfahrung durchs Streaming. Und die SZ trifft den Rapper Bobi Wine, der Präsident von Uganda werden will.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.09.2019 finden Sie hier

Film

Empfindsame Männer: François Ozons "Gelobt sei Gott"

François Ozons auf der Berlinale mit einem Silbernen Bären ausgezeichnetes Drama "Gelobt sei Gott" schildert unter Verwendung von Klarnamen einen historischen Missbrauchsfall in der katholischen Kirche und dessen allmähliche Aufklärung durch die Justiz (Hintergründe zu dem Fall im Tagesspiegel). Ungewöhnlich zurückgenommen ist diesmal die hier eher auf dokumenarische Qualitäten abzielende Inszenierung des französischen Auteurs, meint Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche: Beim Gespräch erfährt er, dass Ozon "weniger die moralische Dimension, sondern die Geschichte der Männer, die langsam eine Auseinandersetzung mit ihrer Missbrauchserfahrung zulassen, interessiert. 'Ich wollte schon lange einen Film über die Empfindsamkeit von Männern machen. Sie sind im Kino meist Handlungsträger, nun befreien sie sich durch Sprache.'". Ein Aufdeckungsfilm ist das nicht geworden, schreibt Hanns-Georg Rodek in der Welt, denn "die Tatsachen sind klar. Es ist eine Hommage an das zivile Aufbegehren, ihm geht es um die Auswirkungen auf die Opfer." So liege denn auch "in der Darstellung der Spannungen und Konflikte, die sich für die mit dem Widerstand der Kirche konfrontierten Personen und ihre Familien ergeben", die eigentliche Stärke des Films, meint Rudolf Balmer in der taz.

Der "größere Rhythmus in dem Film ist einer der Befreiung", schrieb Thierry Chervel im Perlentaucher zur Berlinale-Premiere des Films. "Hier zeigt sich die Schönheit von Ozons Ansatz: Gerade im nüchternen Erzählen dessen, was ja tatsächlich passiert ist (...), ist es ergreifend zu spüren, dass Alexandre nicht allein bleibt. Andere Protagonisten treten hinzu. Die Justiz nimmt ihre Arbeit auf. Sie findet François, dessen Fall nicht verjährt ist. Opfer ist man in der Vereinzelung, die Gemeinsamkeit erlaubt es, sich von der Geschichte zu emanzipieren."

Unter anderem SpOn meldet, dass Hans Joachim Mendig, Chef der HessenFilm, nach erheblichen Protest der Filmbranche im Zuge eines gemeinsamen Fotos mit dem AfD-Politiker Jörg Meuthen seinen Posten räumen muss. "Gut und richtig" findet Ludger Fittkau diese Entscheidung im Kommentar auf Dlf Kultur, "denn Mendig hatte in den letzten Tagen keinen glaubwürdigen Versuch unternommen, das arg angeschlagene Vertrauensverhältnis zur deutschen Szene der Filmschaffenden irgendwie wieder herzustellen." Wobei nicht das Treffen mit Meuthen an sich das Problem sei: "Dass Hans Joachim Mendig die öffentliche 'Vermarktung' des Treffens mit Meuthen durch den AfD-Vorsitzenden duldete und sich davon nie distanzierte, ist der Knackpunkt."

Weiteres: Sabine Rennefanz stellt in der Berliner Zeitung das Online-Videoarchiv Open Memory Box vor, das mit über 400 Stunden Privataufnahmen aus dem DDR-Alltag aufwartet. Thomas Stillbauer berichtet in der FR vom Kinderfilmfestival Lucas in Frankfurt. Unter anderem der Tagesspiegel meldet, dass Christoph Terhechte, der langjährige Leiter des Berlinale-Forums, nach einem kurzen Intermezzo bei den Filmfestspielen in Marrakesch künftig das Festival DOK.Leipzig leiten wird. Philipp Stadelmaier (SZ) und Andreas Kilb (FAZ) gratulieren Pedro Almodóvar zum 70. Geburtstag. Der Dlf schließt sich dem mit einem großen Radiofeature von Daniel Guthmann und Joachim Palutzki an.
Archiv: Film

Architektur

Zwischen Randsfjord und Tyrifjord: The Twist. Foto: BIG


Vor einem spektakulären Rätsel steht Welt-Kritiker Marcus Woeller mit der von Bjarke Ingels entworfenen Kunsthalle "The Twist", die sich nördlich von Oslo über die Schlucht der Randselva spannt: "Die Architektur scheint jeder Logik zu widersprechen. Ein metallverkleideter Quader schiebt sich über das Gewässer, krümmt sich kühn, sodass was am einen Flussufer noch der Boden war, am anderen Ufer als Außenwand ankommt. Die nach Osten weisenden Panoramafenster auf der einen Seite des Riegels werden durch die Krümmung zu Oberlichtern in der Decke verbogen. Und im Inneren des 60 Meter langen Hauses wird die gewohnte Raumwahrnehmung gleichfalls geprüft. Was als vertikal orientierter Tunnel beginnt, wird zu einem horizontal geweiteten Saal, dazwischen liegt der 'Twist'. Das Niveau hebt sich, der Weg macht eine doppelte Biegung, die Wände wölben sich, alles krümmt sich, so als wandelte man nicht durch Norwegens neueste Kunsthalle, sondern durch das 3-D-Modell einer mathematischen Kurvendiskussion."

Weiteres: In der NZZ propagiert der Architekt Jacques Herzog das Hochhaus, das natürlich aus kommerziellen Gründen, aber auch aus urbanistischen immer dringlicher werde: "Ein Hochhaus kann viel mehr sein: Es kann auch Öffentlichkeit generieren, es kann zum Treffpunkt werden. Es kann ein Innenleben haben, das erst in dieser extremen Vertikalen möglich ist." In der Berliner Zeitung veranschaulicht Ulrich Paul allerdings das Elend des Berliner Bauens am Beispiel des geplanten, für schlecht befundenen, aber bereits genehmigten Edge-Towers. In der taz berichtet Lorina Speder von der Architektur-Biennale in Chicago, die sich besonders den vernachlässigten Vierteln der South Side widmet.
Archiv: Architektur

Kunst

Hannah Ryggen, Vi lever på en stjerne, We are Living on a Star,1958. Bild: Schirn Kunsthalle

Auch in der Welt feiert Hans-Joachim Müller jetzt die große Schau, die Frankfurts Schirn der norwegischen Webkünstlerin Hannah Ryggen widmet. Besonders gefällt Müller an ihrer Arbeit, dass sie extrem politisch, aber nie angestrengt pflichtschuldig daherkommt: "Hannah Ryggen wäre bei aller unbeirrbar linken Überzeugung völlig unfähig, einem real existierenden Arbeiter- und Bauernstaat die sozialistischen Fortschrittssymbole zu weben. Es fehlt in dieser eigensinnigen Arbeit das plakativ Unmissverständliche, das politische Kunst sonst kennzeichnet." Auf Monopol stellt Saskia Trebing klar, dass Ryggen kein übersehenes Genie war: "Die ungewöhnliche Kombination aus traditionellen ländlichen Handwerkstechniken, antifaschister Botschaft und moderner Formensprache blieb auch zu Lebzeiten nicht unbeachtet... Das Problem lag, wie so oft bei bildenden Künstlerinnen, beim Umzug vom künstlerischen Kurz- ins Langzeitgedächtnis. Nach ihrem Tod 1970 verblasste auch die Erinnerung an Hannah Ryggen und ihr stures Anweben gegen die Grausamkeiten der Welt."

In Olafur Eliassons viel besprochener Schau in der Tate Modern bemerkt SZ-Kritikerin Catrin Lorch, dass seine Kunst der großen Gesten nicht mehr wirkt, zumindest bei ihr nicht: "Die 'Moss Wall' verströmt heute nicht die Aura von Flechten und Geröllfeldern, sondern evoziert die gedämpfte Stimmung veganer Boutiquen. Diese Art von gebändigter und ausgestellter Natur ist nicht einmal mehr im Rückblick visionär. Während Wissenschaftler derzeit - nur zum Beispiel - den unterirdischen Verbindungen von Pilzen nachspüren, man gerade erst beginnt, die Dimensionen alles Biologischen zu erfassen, liegt 'Natur' hier wie ausgestopft da."

Weiteres: Im Guardian spießt Jonathan Jones den Fund eines Cimabue in einem alten Haus in Compiègne auf, der von demselben Experten für echt befunden wurde, der auch schon den Fund eines Caravaggios authentifizierte. Alexandra Föderl-Schmid berichtet in der SZ, wie das Israel-Museum Werke aus der Sammlung Gurlitt seinem Jerusalemer Publikum nahebringen will.

Besprochen werden Bettina Pousttchis Schau "Recent Years" in der Berlinischen Galerie (taz) und die große Francis-Bacon-Schau im Centre Pompidou in Paris (die FAZ-Kritikerin Bettina Wohlfahrt zufolge den Künstler in Bezug zu seinen wichtigsten Lektüren setzt).
Archiv: Kunst

Literatur

Dass in der langen Liste von Unterstützern, die dagegen protestieren, dass die Schriftstellerin und BDS-Aktivistin Kamila Shamsie den Nelly-Sachs-Preis nun doch nicht erhält, als einziger Deutscher Alexander Kluge auftaucht (unser Resümee), dürfte wohl allein daran liegen, dass "die zugrundeliegende Sache komplex ist und die damit verbundene Debattenatmosphäre gerade hierzulande vergiftet", meint Andreas Platthaus in der FAZ. Auch entgeht ihm nicht, dass der Protest einer Boykott-Befürworterin gegen einen Boykott durchaus argumentativen Notstand hat. Und: "Die Verleihung des Literaturnobelpreises an Nelly Sachs wurde 1966 damit begründet, dass ihre Werke 'das Schicksal Israels mit ergreifender Stärke interpretieren'. Wäre es Kamila Shamsie um so etwas wie Konsequenz gegangen, hätte sie den nach der dezidierten Befürworterin des Staates Israel benannten Preis selbst ablehnen müssen."

Im Interview mit der FR spricht Robert Macfarlane über sein Buch "Im Unterland", mit dem es ihm vor allem um eine "moralische und politische Frage" geht, nämlich: "Sind wir gute Vorfahren? Das ist nicht dasselbe wie gute Eltern oder Großeltern zu sein. Es bedeutet, wie verantwortlich verhalte ich mich gegenüber Generationen, die ich persönlich nie kennenlernen werde. Und ich denke: zur Zeit sind wir keine guten Vorfahren."

Weiteres: Mechthild Henneke schreibt in der Berliner Zeitung über Theodor Fontanes Verhältnis zu den Frauen. In einem so epischen wie frühzeitigen Rundumschlag werfen Heike K. Behnke und Oliver Ristau im Tagesspiegel einen Blick zurück auf die wichtigsten Science-Fiction-Comics des Jahres, die in diesem Jahr vor allem weiblich geprägt waren. Willi Winkler schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Schriftsteller und Literaturkritiker Al Alvarez.

Besprochen werden unter anderem Norbert Scheuers für den Deutschen Buchpreis nominierter Roman "Winterbienen" (taz), Ayesha Harruna Attahs "Die Frauen von Salaga" (FR), Robertson Davies' "Der Fünfte im Spiel" (NZZ), Christopher Isherwoods "Die Welt am Abend" (SZ) und György Dragománs "Löwenchor" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Der Tagesspiegel meldet, dass Plácido Domingo nach den Belästigungsvorwürfen einen Tag vor einem geplanten Auftritt die New Yorker Metropolitan Oper verlassen wird.

Besprochen werden Armin Petras' Inszenierung von Georg Büchners "Dantons Tod" in Düsseldorf (die SZ-Kritiker Martin Krumbholz zufolge die Französische Revolution auf ein einziges Blutbad reduziert), "Tristan und Isolde " an der Oper Köln (FR, SZ) und Antonín Dvořáks Oper "Rusalka" am Theater St. Gallen (FAZ).
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Musik

NMZ-Autor Hans-Joachim Schaal ist es ein Graus, wie niedrigschweillig Streaming weite Teile der Musikproduktion aus der Geschichte und der Gegenwart zugänglich macht: Wo sich Menschen früher in einzelne Alben tief versenkten und förmlich mit allen Fasern ihres Körpers rezipierten, sei "die einzelne Musikerfahrung" nunmehr "entwertet. ... Streaming-Konsumenten sind keine Musiksammler und Musikforscher. Sie verbohren sich nicht in die Geschichte einer Band, haben nie einen Flohmarkt nach seltenen Aufnahmen abgesucht, sind häufig nicht einmal Fans bestimmter Künstler. Videos, Konzerte, Streaming - es ist eine ständig fluktuierende Sphäre, in der man sich frei bewegt. Die Wahrnehmung von Musik in einem größeren Werk-Zusammenhang und als Brennpunkt der eigenen Persönlichkeit geht dabei verloren." Dass derart obsessive Musikhörer zu Vinylzeiten die Regel gewesen seien, kann Schaal allerdings genauso wenig plausibilisieren wie seine zuspitzend-absolute Darstellung der Streamingnutzer.

Für die Seite Drei der SZ hat Bernd Dörries sich nach Uganda an die Seite des Rappers Bobi Wine begeben, der früher über Exzesse sang, aber jetzt Präsident seines Landes werden will. "Nirgends auf der Welt sind die Menschen so jung, nirgends die Führer so alt und nirgends klammern sie sich so sehr an die Macht. Warum gibt es nicht mehr Rebellion, mehr Aufstand angesichts der großen Ungerechtigkeiten? Warum begehrt die Jugend nicht auf? Gewehrkugeln sind die eine Antwort. Die Tradition eine andere." Aber "wenn es nach der Zahl seiner Anhänger und Fans geht, ist Bobi Wine durchaus eine Bedrohung für das Regime von Präsident Yoweri Museveni. Nicht zuletzt deshalb dürfen Radios in Uganda seine Songs nicht spielen, auch seine Konzerte sind verboten." Die BBC hat eine Videoreportage über Wine:



Weitere Artikel: Black Music verliere ihren subversiven Charakter, wenn sie, wie momentan zu beobachten, die Charts dominiert, meint Paul Gilroy in dem Gespräch, das Philipp Rhensius für die NZZ mit dem Kulturwissenschaftler und Musiktheoretiker geführt hat. Marianne Zelger-Vogt spricht in der NZZ mit dem Pianisten Helmut Deutsch über dessen Memoiren. Im Tagesspiegel plaudert Jenni Zylka mit Deichkind. In seinem Welt-Blog schwärmt Manuel Brug in den höchsten Tönen vom reichen Füllhorn von Pop bis Klassik, das das öffentlich-rechtliche Angebot ArteConcert mittlerweile darstellt.

Besprochen werden Lana Del Reys neues Album "Norman Fucking Rockwell" (Jungle World), Miles Davis' postumes Album "Rubberband" (" ein seltsamer Hybrid", meint Karl Fluch im Standard, "ein Homunculus der Jazzgeschichtsschreibung" ), das neue Album "Exiled" der britischen Punkband Bad Breeding (taz), Bruno Preisendörfers "Als die Musik in Deutschland spielte. Reise in die Bachzeit" (online nachgereicht von der Welt), ein Konzert der Sopranistin Angela Gheorghiu (NZZ) und neue Popveröffentlichungen, darunter das neue Sido-Album (SZ).
Archiv: Musik