Efeu - Die Kulturrundschau

Den Salzstreuer auspacken

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20.09.2019. SZ und Standard entdecken in der Wiener Albertina begeistert den experimentellen Dürer. Die neue musikzeitung geht über ihre Schmerzgrenzen in Philip Venables' Oper "4.48 Psychosis". Die NZZ fühlt sich bei einem Theaterwochenende in Berlin sehr allein. Die Filmkritiker gähnen sich mit "Downton Abbey" durch Merry Old England.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.09.2019 finden Sie hier

Kunst

Albrecht Dürer: Bacchanal mit Silen, 1494. Albertina, Wien

Angeregt und beglückt kommt Kia Vahland (SZ) aus der großen Dürer-Ausstellung in der Wiener Albertina. Zu sehen sind hier neben den Gemälden auch viele Zeichnungen und Drucke. "Gemälde erklären hier die Grafiken, nicht andersherum. Dieser Fokus tut der Ausstellung gut, denn er verführt zum genauen Schauen", schreibt Vahland, guckt hin und sieht viel Experimentelles: "Einmal hantiert er mit einem Handspiegel vor seinem nackten Körper, mannshohe Spiegel gibt es noch nicht. Das führt zu einigen Verrenkungen und am Ende zu einem Stückwerk: Dem nackten Dürer schauen Betrachter sowohl fast von oben auf die Schulter als auch von vorne auf das Geschlecht. Perspektivisch mag das nicht aufgehen, der Gesamteindruck aber ist anrührend. Hier zeigt sich jemand, windet sich vor dem Spiegel, drängt nach vorne und steht doch nicht ganz stabil. ... Wie die später in Stein gehauenen 'Sklaven' Michelangelos dreht sich auch diese nicht vollendete Figur aus dem Bildgrund heraus, tritt ins Leben, bevor ihr Schöpfer seine Arbeit abschließen konnte."

Auch Standard-Kritikerin Nicole Scheyerer entdeckt Neues, sogar bei einem so abgenudelten Bild wie Dürers Hasen: "Man müsse die Kunst 'aus der Natur herausreißen', schrieb Dürer später. Das Besondere am Feldhasen: Dürer fängt das Tier zwar lebensecht ein, aber er lässt den Betrachter über die Umgebung im Ungewissen. Schließlich bettet Meister Lampe seine vier Pfoten auf eine undefinierte weiße Fläche, auf die seitlich ein Schatten fällt. Ein gespiegeltes Fensterkreuz im Auge des Hopplers zeigt, wo das Licht dafür herkommt."

Weiteres: Im Tagesspiegel berichtet Nicola Kuhn von der Kunstbiennalein Lyon.
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Film

Siegel des Echten, Bewahrenswerten: Der Kinofilm "Downtown Abbey"

Die Kinoversion des Serienerfolgs "Downtown Abbey" kommt bei der Kritik nicht sonderlich gut an. Michael Englers Film kann man eigentlich nur "hartgesottenen Fans der Serie" empfehlen, meint Susan Vahabzadeh in der SZ: "Jede Wendung in diesem Film wirkt zäh, jeder Empfang wirkt wie eine weitere konstruierte Entschuldigung, ein paar neue Kostüme vorzuführen" und dann sei das ganze Old Merry England in seinem nostalgischen Glanz auch noch ziemlich realitätsfern. Manuel Brug führt in der Welt länglich durch die Erzählung, nur um dann festzustellen, dass in dem Film, sobald er an alten Serienqualitäten anschließt, "nicht mehr wirklich viel passiert". Ein wenig Vergnügen bleibt aber doch: "Die bewegliche Kamera ergötzt sich an den Dekors und der raffiniert glitzernden Art-déco-Eleganz der Damenroben. Man genießt die Reize der Wiederholung und des Altbekannten." Petra Kohse von der Berliner Zeitung erlebt das ganze "wie eine auf Kinofilmlänge geratene Episode. Die Erzählbögen sind serienhaft kurz, aber ohne die ruhespendende Möglichkeit der Fortsetzung."

Brexit-Kino hat FAZ-Kritiker Paul Ingendaay gesehen: "Die englische Aristokratie und ihre Werte - Geld, privilegierte Bildung, tapfer verteidigte Herrenhäuser und wangenrötende Landluft - erhalten durch 'Downton Abbey' das Siegel des Echten, Bewahrenswerten, forever and ever. Und damit auch die Brexit-Meistererzählung vom 'Eigenen', das durch die Berührung mit 'Europa' besudelt zu werden drohe. Die Londoner Presse spekuliert schon darüber, wann 'Downton'-Erfinder Julian Fellowes, ein Peer im britischen Oberhaus und überzeugter Brexiteer, mit der Beförderung in den Ritterstand rechnen darf." Besagten Fellowes hat der Standard im Gespräch.

Weiteres: Der auf Flüge konsequent verzichtende Filmregisseur Lars Jessen musste zwar deshalb auf einen Besuch des Filmfestivals Locarno verzichten, schwärmt im taz-Interview zum heutigen Weltklimastreik aber dennoch ungebrochen von den Vorzügen des Zugfahrens, die etwa darin bestehen, "dass man auf einer Zugfahrt von Hamburg nach München schön arbeiten kann. Zugstolz statt Flugscham sozusagen." Andreas Busche spricht im Tagesspiegel mit der Regisseurin Nora Fingscheidt über deren Spielfilmdebüt "Systemsprenger". In der Welt liefert Hanns-Georg Rodek Hintergründe zur Causa Mendig in der hessischen Filmförderung. Stephen Frears spricht in der FAZ über seine Serie "A Very English Scandal". Esther Buss empfiehlt im Tagesspiegel eine Reihe im Berliner Zeughauskino mit Filmen der Dokumentar-Avantgardistin Ella Bergmann-Michel.

Besprochen werden James Grays Science-Fiction-Film "Ad Astra" (Tagesspiegel, unsere Kritik hier), Luzie Looses Neuköllner Regiedebüt "Schwimmen" (SZ) und der neue Rambo-Film mit Sylvester Stallone (Tagesspiegel, Standard, Welt, mehr dazu hier).
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Bühne

Szene aus "4.48 Psychosis". Foto: Stephen Cummiskey


Dass die elsässische Rheinoper zur Oper des Jahres gekürt wurde, findet nmz-Kritiker Georg Rudiger nur verdient. Warum, das könne man jetzt in Straßburg sehen, wo Philip Venables' Oper "4.48 Psychosis" aufgeführt wurde. "4.48 Psychosis" war auch der Titel des letzten Stücks der britischen Dramatikerin Sarah Kane, bevor sie sich im Alter von 27 Jahren erhängte. Um sie geht es auch in der Oper, die die Musiker auf dem Dach einer Psychiatrie platziert hat, erzählt Rudiger: "Die entspannte Lounge-Musik, die zu Beginn über die Lautsprecher im Zuschauerraum erklingt, wird bis zur Schmerzgrenze hochgedreht, ehe '4.48 Psychosis' mit einer heftigen Selbstanklage beginnt. Gweneth-Ann Rand wechselt zwischen Stöhnen, Sprechen und Singen. 'Ich bin eine totale Versagerin. Ich kann nicht essen, ich kann nicht lieben. Um 4.48 Uhr werde ich mich umbringen.' Sirenen treffen auf ruppige Saxofone. Die Musik wechselt zwischen heftigen Attacken und Schockstarre, wenn die Spannung in einem tiefen Flötenton nachklingt. Die Musik von Philip Venables setzt auf radikale Zuspitzung." (Eine weitere Besprechung gibt's in der FAZ.)

Reichlich ernüchtert kommt Bernd Noack von einem Berlin-Wochenende nach Hause, nachdem er Ersan Mondtags "Baal" am BE, Katie Mitchells "Orlando" an der Schaubühne und Ivan Panteleevs "Ausweitung der Kampfzone" am Deutschen Theater gesehen hat: "Man hätte sich gerne mitnehmen lassen, man hätte das alles gerne verstanden", bedauert er in der NZZ. "Aber das Theater schien viel zu sehr mit sich selber beschäftigt, als dass es noch hätte Rücksicht nehmen können auf willige Mitreisende. Die Prosa zerpflückt, das Stück verulkt, die Sprache gequält - und überhaupt: Die Bühnen benutzen hinlänglich bekannte Szenenspielchen, die nur noch wie Markenzeichen wirken."

In einem von der Zeit online nachgereichten Artikel porträtiert Solmaz Khorsand die Russin Ekaterina Degot, die seit 2018 das Kulturfestival Steirischer Herbst leitet: "Auch dieses Jahr wird sie Leute vor den Kopf stoßen, das weiß Degot. Das hat Tradition in der Geschichte des Festivals. ... Dieses Jahr vermutet sie den größten Unmut über Eduard Freudmanns Installation 'Monumyth' am Befreiungsdenkmal im Grazer Stadtpark. Degots Augen leuchten. Das tun sie immer, wenn sie nicht über sich selbst, sondern über Kunst sprechen kann. 'Das Denkmal gedenkt nicht der Befreiung von den Nazis, es gedenkt der Befreiung von den Befreiern', erklärt sie. Das könnte mehr als nur einen Online-Kommentar provozieren. Vielleicht aber auch nicht: Noch seien ihr die roten Linien in Österreich nicht vertraut, gesteht Degot. Sie müsse noch lernen, wo die offenen Wunden in Österreich seien. Und wann sie den Salzstreuer auspacken könne, um die maximale Reaktion zu bekommen."

Weitere Artikel: Im Interview mit dem Standard warnt Klaus Maria Brandauer, der an der Burg aus Eric Vuillards "Die Tagesordnung" gelesen hat, vor der Rechten in Österreich. Burg-Chef Martin Kusej sieht das ähnlich, meldet die Presse und zitiert Kusej aus einem Gespräch mit der Zeit: Natürlich äußere er sich gegen FPÖ und AfD, "er würde seine Position 'vehement vertreten, aber ich habe keine Lust, zum Märtyrer zu werden. Was mich fast noch ein bisschen mehr verunsichert und irritiert ist, dass einem wahrscheinlich niemand helfen würde.' Er glaube, 'dass man sich gegen diese Menschen schlussendlich intellektuell nicht wehren kann. Rein künstlerisch geht es nicht. Wenn der Rechtsstaat versagt, geht es irgendwann um die Frage: Hast du einen Knüppel in der Hand, oder hat er einen Knüppel in der Hand?'" In der SZ schreibt Till Briegleb über den etwas holprigen Beginn von Sonja Anders' Intendanz am Schauspiel Hannover.

Besprochen werden "They Shoot Horses, Don't They?", mit dem Julia Reichert, Hayat Erdogan und Tine Milz ihre Intendanz am Zürcher Theater Neumarkt eröffnen ("Jetzt fühlt es sich richtig gut an. Richtig gut, weil auf eine hintersinnige und subversive Art unerwartet", freut sich Daniele Muscionico in der NZZ), Oliver Frljics Inszenierung von "Anna Karenina oder Arme Leute" im Maxim Gorki Theater in Berlin (Tagesspiegel), Verdis "Macht des Schicksals" an der Deutschen Oper Berlin (nmz) und Matthias Köhlers Inszenierung von Björn SC Deigners Stück "In Stanniolpapier" am Theater Bonn (SZ).
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Literatur

In seiner "Lahme Literaten"-Kolumne in der Jungle World knüpft sich Magnus Klaue diesmal die deutsche Poetry-Slam-Szene vor: "Irgendwo zwischen Trottel-Comedy, Linksstammtisch und abstiegsorientierter Sozialarbeit angesiedelt, hat sich der Deutsch-Slam derart ausgebreitet, dass unter seinem Namen alles vereinnahmt wird, was besser und anders ist als er selbst. ... Was sich gegenwärtig als Slam-Poetry versteht, sei es in eher akademischer (Michael Lentz) oder feministischer (Miete Medusa), in komödiantischer (Sebastian Rabsahl) oder konzertanter Form (Bas Böttcher), markiert Schritte auf dem Weg zu einem Selbstverständnis von Literatur und längst auch Wissenschaft als publikumsorientierte Selbstinszenierung."

Weiteres: Die Kritik in SZ und FAZ im Vorfeld des Literaturfests Berlin an der Schriftstellerin Petina Gappah (unsere Resümees hier und dort) findet Ulrike Baureithel im Freitag völlig daneben: "Was hier schlimmer ist, die männliche oder die neokoloniale Arroganz des Urteils, sei dahingestellt, aber wie man weiß, gehört beides zusammen." Annika Glunz berichtet im Klima-Schwerpunkt der taz über die Kolonialgeschichte des Klimas, die beim Literaturfest Berlin Thema ist. Für die FAZ hat Jan Wiele das Buchmessengastland Norwegen besucht und sich die literarische Szene in Bergen näher angesehen, wo ihn der Schriftsteller Tomas Espedal wissen lässt, dass der international boomende Trend der norwegischen Autobiografie im Ursprungsland selbst schon als eine Sache von gestern gilt.

Besprochen werden Sarah Newmans "Ice Cream Star" (NZZ), Terézia Moras "Auf dem Seil" (Freitag), Jonathan Safran Foers Essay "Wir sind das Klima" (Dlf Kultur), Adolf Endlers "Die Gedichte" (Dlf Kultur), Matthias Brands "Blackbird" (online nachgereicht von der FAZ), Judith Kuckarts "Kein Sturm, nur Wetter" (SZ) und der vierte Band des Briefwechsels zwischen Sigmund Freud und Martha Bernays (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Die taz kümmert sich zum heutigen Weltklimastreik vollumfassend ums Klima - auch im Gespräch mit dem Techno-DJ Richie Hawtin, der den Spagat vollziehen muss, mit instrumentaler Musik einerseits eskapistische Angebote zu liefern, der sich davon andererseits aber auch seinen Aktivismus nicht nehmen lassen will. In seiner Szene gibt es viel Nachholbedarf, meint er: "DJs sind eher interessiert an Veganismus, weil sie verstehen, dass die Fleischindustrie mit schuld an der Klimaerwärmung ist und schlecht fürs Tierwohl. Die gleichen Leute reagieren aber verdutzt, wenn ich sie auf ihr Flugverhalten anspreche. Bei Rockbands ist das früher anders gewesen, sie veröffentlichten Alben und gingen damit danach auf Tour, meist so, dass die Wege zwischen den Konzerten kurz waren. Für DJs gilt: Heute London, morgen Tokio, übermorgen New York. ... Ich will, dass sich DJs fragen, ob sie nicht anfangen wollen, das Geld, das sie verdienen, auch in den Klimaschutz zu investieren."

Weiteres: Marco Frei wirft für die NZZ einen Blick in die Schweizer Klassikfestivalszene, deren kleinere Vertreter Umbrüchen und Herausforderungen entgegen sehen. In der SZ porträtiert Juliane Liebert die Berliner Sängerin Dena. In einem Twitterthread bringt René Aguigah eine schöne Randnotiz von Igor Levits Beethovenabend in der Elbphilharmonie. Arte arbeitet gerade an der digitalen Plattform Arte concert einem europäischen Musikkanal, der neben Klassik- auch Popkonzerte streamen will, berichtet Lotte Thaler in der FAZ. Ab Juni 2020 soll's losgehen. Gregor Dotzauer gratuliert im Tagesspiegel dem Jazzklarinettisten Rolf Kühn zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden das Debütalbum von Madison Cunningham (Standard), ein Dokumentarfilm über die Fantastischen Vier (ZeitOnline) und Brittany Howards Solodebüt "Jaime" (Tagesspiegel). Deren gestern gespieltes Konzert gibt es als Livestream-Aufzeichnung auf Youtube:

Archiv: Musik