Efeu - Die Kulturrundschau

Im Kapuzenpulli, ohne Make-up, ohne Hairstyling

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05.09.2019. Der Tagesspiegel würdigt die biblischen Dimensionen der Maradona-Doku von Asif Kapadia. Die FAZ schlendert durch Ulrike Ottingers Ausstellung "Paris Calligrammes" - eine Hommage an die deutsche Buchhandlung "Calligrammes" in der Pariser Rue du Dragon. Die Welt nennt sechs gute Gründe, warum Rembrandt immer noch absolut modern ist. In der NZZ versichert der Manager Simon M. Ingold: Die Kunst mag im Zeitalter der Digitalisierung an Bedeutung verloren haben, mit der Automatisierung wird sie sie zurückgewinnen. Die Mode- und Fotografenwelt trauert um Peter Lindbergh.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.09.2019 finden Sie hier

Design

Greta Thunberg, fotografiert von Peter Lindbergh für die britische September-Vogue 2019
Der Fotograf Peter Lindbergh ist gestorben. In der SZ würdigt Jan Kedves den 1944 im heute polnischen Lezno geborenen, in Duisburg aufgewachsenen Künstler als einen der ganz großen Modefotografen, dessen Frauenporträts immer noch durch ihre Modernität auffallen - weil sie die Mode tragen (oder auch nicht) und nicht umgekehrt, schreibt Kedves: "kürzlich fotografierte er für die September-Ausgabe 2019 der britischen Vogue im Auftrag der Gastredakteurin Meghan Markle fünfzehn Frauen. Auf dem Cover werden sie als 'Forces of Change' bezeichnet: Frauen, die die Welt in die richtige Richtung lenken werden, hoffentlich! Unter anderem: Greta Thunberg. Lindberghs Schwarz-Weiß-Porträt der 16-jährigen Klimaaktivistin ist eine einzige Irritation. Hat man schon mal ein so ernstes Mädchen - im Kapuzenpulli, ohne Make-up, ohne Hairstyling - auf einem Vogue-Cover gesehen? Das sieht tatsächlich nach einer neuen Zeit aus. Eine Ikone für die Welt von 'Fridays For Future'."

Aber wie immer hatte die Sache auch einen Haken, notiert Arno Widmann in der Berliner Zeitung mit Rückblick auf Lindberghs nicht weniger ikonisches Cover für die britische Vogue 1990, das fünf Supermodels als Individuen zeigt: Lindbergh "lehrte uns, die Person zu sehen, nicht das Image. Aber durch ihn lernten wir auch zu begreifen, dass man dem Image nicht entkommt. Man selbst zu sein, wurde jetzt selbst zum Image, zu einem extrem lukrativen dazu. So wurden aus Models mit dem kurzen Durchgang der Vermenschlichung Supermodels, die wichtiger wurden als die Mode, die sie trugen. Nicht weil sie lebende, atmende Menschen waren, wie Lindbergh das sich gedacht hatte, sondern weil ihre 'Natürlichkeit' sich als gigantische Wertsteigerungsmaschine herausstellte."

Weitere Nachrufe finden sich von Grit Thönnissen im Tagesspiegel, von Elizabeth Paton in der New York Times, von Sam Rogers in der US-Vogue, von Ann-Kathrin Riedl in der deutschen Vogue, von Christoph Amend in der Zeit und von Andrea Diener in der FAZ. Fotos findet man auch auf dem Instagram-Account Lindberghs.

Besprochen wird außerdem die Ausstellung "Original Bauhaus" in der Berlinischen Galerie (Berliner Zeitung, taz)
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Bühne

NZZ-Kritikerin Lilo Weber lässt sich von Catja Loepfe, Leiterin des Tanzhauses Zürich, erzählen, was sie für den Ersatzneubau des Tanzhauses plant. Sophie Diesselhorst bespricht für die nachtkritik Philipp Ruchs Buch "Schluss mit der Geduld". Simon Strauß wirft für die FAZ einen Blick auf die kommende Theatersaison und verspricht eine "facettenreiche Saison..., in der viele literarische Entdeckungen zu machen sind und neben schauspielerischen Höhepunkten auch weiterer Streit um die Zukunft des Stadttheaters erwartet werden darf".
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Stichwörter: Ruch, Philipp

Kunst

Rembrandt van Rijn, Die Nachtwache, 1642. Foto: Rijksmuseum Amsterdam / Wikipedia


Warum soll uns eigentlich Rembrandt heute noch interessieren, mit seinen Gildemeistern in schwarzen Anzügen? Hans-Joachim Müller nennt in der Welt sechs gute Gründe, die alle darauf hinauslaufen, wie unwahrscheinlich modern Rembrandt heute noch ist: "Noch einmal 'Nachtwache'. Ist sie nicht doch etwas kurios, die unablässige Massen-Andacht vor dem seltsamen Aufmarsch wehrhafter Männer? Das riesenhafte Bild ist doch nichts anderes als ein toll gemaltes Beispiel aus dem seinerzeit beliebten Genre niederländischer Schützengilden. Man kennt jeden, der hier abgebildet ist. Was könnte am Gruppenporträt so aufregend sein? Vielleicht, dass es in Wahrheit gar kein Gruppenporträt ist, sondern eine Aufbruchsszene. Im Augenblick, in dem sich die Herren der Bürgerwehr aus dem Dunkel lösen, fängt ein noch unbekannter Film an. Keiner vor Rembrandt hat Filme anfangen lassen. Die Aufladung der Bilderzählung mit gespeicherter Bewegungsenergie - das ist neu. Und an nichts wird die gegenständliche Moderne so sehr Maß nehmen wie am Kopfkino, das Rembrandt mit seinen psychologisch visionären Mitteln begründet hat."

In der NZZ fragt sich der Schweizer Manager Simon M. Ingold, welche Bedeutung die Kunst heute noch hat: "Seit dem Aufstieg des Silicon Valley zum Zentrum der Innovation leben wir faktisch in einer globalen Technokratie. Die kreativsten Köpfe wandern in den Technologiesektor ab, der Glaube an Algorithmen und künstliche Intelligenz ist groß, wenn auch umstritten. Gerechtfertigt oder nicht, gegenüber den existenziellen Herausforderungen der Gegenwart, allen voran dem Klimawandel, sind künstlerische Interventionen machtlos." Das könne sich aber mit zunehmender Automatisierung der Arbeitswelt schnell ändern: "Automatisierung reduziert nicht nur die Nachfrage nach menschlicher Arbeitsleistung, sondern erfordert eine Neuinterpretation des Produktivitätsbegriffs. ... Unter diesen Bedingungen könnte Kunst, verstanden als jegliche Art der kreativen Betätigung, zur einzig verbleibenden sinnvollen menschlichen Betätigung avancieren." Bleibt die Frage, wer einen dafür bezahlen wird.

Weitere Artikel: Dass ausländische - darunter viele deutsche - Direktoren derzeit die Museen Italiens verlassen, wertet Ijoma Mangold in der Zeit nicht als Ausdruck von italienischem Nationalismus: "Die meisten verlassen ihre Posten aus Gründen der Karrieremobilität", mit Ausnahme der ehemaligen Direktorin der Galleria dell'Accademia in Florenz, Cecilie Hollberg, die im Interview mit der FAZ ihre unerwartete Kündigung immer noch nicht ganz fassen kann. In der taz stellt Laura Sophia Jung die neun Finalisten des Berlin Art Prize vor. Und Wilfried Hippen porträtiert die Bremer KünstlerInnengruppe "Urbanscreen". Tilman Krause begeht für die Welt den LGBTI-Parcours im Berliner Bode-Museum.

Besprochen wird eine Ausstellung des Kunstfälschers Wolfgang Beltracchi im Kunstforum Wien (Standard).
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Film

Zwei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust: Diego und Maradona in "Diego Maradona"

Asif Kapadias Dokumentarfilm "Diego Maradona" spitzt die Zeit der "Hand Gottes" in Neapel - wo man ihn anfangs feierte, dann aber verteufelte, nachdem er 1990 Italien ausgerechnet in Neapel aus der WM kegelte - ziemlich intensiv zu: Als geradezu faustisch gespaltene Persönlichkeit - hier der unschuldige Diego, dort der diabolische Maradona - lernt man den Fußballer hier kennen, schreibt Jens Uthoff in der taz, der schlussendlich aber doch unterwältigt den Saal verließ: "Fürs Nachtprogramm im Ersten wäre das okay, für einen Kino-Dokumentarfilm und dessen Möglichkeiten ist das zu wenig. Eine Augenweide für jeden Fußballfan bleiben viele Spielszenen, allerdings nerven auch da die Nachvertonungen bei Ballberührungen, Fouls, Treffern." Simon Rayß freut sich im Tagesspiegel über das zusammengetragene, sehr reichhaltige Archivmaterial, darunter "Material, das nie zuvor öffentlich gezeigt wurde. ...  Asif Kapadias Dokumentarfilm entwickelt durch die Geschichte des sagenhaften Aufstiegs und tiefen Falls einen ungemeinen Sog, wobei er beinahe biblische Dimensionen erreicht - nicht nur, weil sich Diego Maradona immer wieder selbst zum Erlöser stilisiert. Der Film fängt den unbedingten Willen der Menschen ein, an etwas zu glauben. Er zeigt den Wahnsinn dieses Lebens, den Rausch und die Traurigkeit." Weitere Kritiken in FAZ und SZ, die NZZ sprach mit Kapadia.

Ausgebleichte Gemälde: Roy Anderssons "About Endlessness"

Schwenk zum Filmfestival Venedig, wo sich nach starkem US-Auftakt nunmehr das europäische Kino präsentiert: Mit Pietro Marcellos "Martin Eden" und Roy Anderssons absurd lakonischem "About Endlessness" gab es für Standard-Kritiker Dominik Kamalzadeh richtige Highlights im Festivalprogramm. Andersson lege mit seinem Film einen ganzen Fundus "eigenwilliger szenischer Miniaturen vor. Mit dem Erfahrungsschatz eines langen Lebens sinniert Andersson über menschliche Fehler und Unbedarftheiten. Das ist oft zum Lachen, manchmal aber auch sehr melancholisch. Die längste Episode erzählt von einem Priester, der seinen Glauben verliert und zum Arzt geht. Was wie ein Witz klingt, wird unter Anderssons Regie, die die Figuren wie in ausgebleichten Gemälden arrangiert, zum Vexierbild absurder Anstrengungen." Allerdings ist das auch ziemlich Geschmackssache, meint Tim Caspar Boehme in der taz: "So eine Lakonie muss man mögen. Andersson berührt in seinen grotesken Anordnungen allerdings stets existenzielle Dinge: Liebe, Todesangst, Neid, Verzweiflung. Freude gibt es mitunter ebenfalls, in kleinen Dosen. Das Komische dieser Miniaturen liegt weniger in dem, was passiert, als in dem, was nicht passiert."

Václav Marhouls "The Painted Bird"

Probleme hatte Boehme allerdings bei den Grausamkeiten, die Václav Marhoul in seinem Holocaust-Drama "The Painted Bird" zeigt. Der Film handelt von einem Jungen, der auf seiner Flucht vor dem Schlimmsten offenbar schrecklich gequält und misshandelt wird. Jerzy Kosińskis literarische Vorlage gleichen Namens zählt zu den "grausamsten Bücher des 20. Jahrhunderts", erklärt Tobias Kniebe in der SZ. Dass der Autor das Buch als Erfahrungsbericht ausgab, entpuppte sich als Lüge: "Diese Behauptung musste er irgendwann zurückziehen, schließlich brachte er sich um. Das alles gefilmt zu sehen, macht das Pathologische in dieser Erzählung noch vielfach deutlicher. ... Aber warum die ungeheure Anstrengung, eine derartige Zumutung gegen alle Widerstände ins Kino zu bringen, gerade jetzt? Ist es ein Ausdruck tiefster Panik vor der Rückkehr einer Albtraumwelt, die alles Fremde sofort mit der Mistgabel durchbohrt? Oder doch eher die Arroganz eines Filmemachers, der selbst den grausamsten aller Götter spielen will? Es fühlt sich traurigerweise an... wie beides."

Weiteres: Knut Henkel wirft für die taz einen Blick in die neuen Filmgesetze Kubas, das ursprünglich den unabhängigen Film stärken sollte, womöglich aber doch nur mehr Kontrolle über kritische Regisseure ermöglicht.

Besprochen werden außerdem Nadav Lapids Berlinale-Gewinnerfilm "Synonymes" über einen Israeli in Paris (SZ, unsere Kritik hier, die taz hat mit dem Regisseur gesprochen), Bernd Böhlichs "Und der Zukunft zugewandt" über die DDR der 50er (Tagesspiegel, Dlf Kultur hat mit dem Regisseur gesprochen), der zweite Teil der Stephen-King-Verfilmung "Es" (NZZ, Standard, mehr dazu bereits hier), Brian de Palmas auf DVD veröffentlichter Thriller "Domino" (taz) und der von Arte online gestellte Bauhaus-Sechsteiler "Die Neue Zeit" (NZZ).
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Literatur

Ulrike Ottinger vor ihrem Werk "Allen Ginsberg", Paris, 1965 | Foto: privat


Peter Geimer hat für die FAZ Ulrike Ottingers Ausstellung "Paris Calligrammes - Eine Erinnerungslandschaft" - eine Hommage an die deutsche Buchhandlung "Calligrammes" in der Pariser Rue du Dragon - im Haus der Kulturen der Welt besucht. Sehenswert und überhaupt nicht nostalgisch ist sie, versichert er: "Es ist eine Besonderheit der Schau, dass man beim Durchstreifen der Räume nicht darüber nachdenken muss, ob es eine historische Dokumentation oder eine Kunstausstellung ist - die Unterscheidung wird bedeutungslos, weil beides sich auf selbstverständliche Weise zusammenfügt. Das liegt auch daran, dass die Ausstellung Ottingers neueste Produktion begleitet, den Film 'Paris Calligramme', der in acht Kapiteln besondere Orte der Stadt aufsucht und bald im Kino zu sehen sein wird."

Weitere Artikel: Manuel Müller wirft für die NZZ einen Blick zurück auf die Anfänge des Literaturhauses Zürich. In den online nachgereichten "Actionszenen der Weltliteratur" schreibt Marc Reichwein über das Verhältnis zwischen Else Lasker-Schüler und Gottfried Benn. Dlf Kultur hat eine sechsteilige Hörspielbearbeitung von Victor Klemperers Tagebüchern online gestellt.

Besprochen werden unter anderem Wulf Kirstens Gedichtband "Erdanziehung" (ZeitOnline), Steffen Kopetzkys "Propaganda" (FR), János Téreys "Budapester Überschreitungen" (SZ), Sophie Wennerscheids "Sex Machina" (NZZ) und Hendrick Otrembas "Kachelbads Erbe" (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Musik

"Free" lautet der Titel von Iggy Pops neuem Soloalbum und mal wieder gelingt es dem Proto-Punk, einen Karriere-Haken zu schlagen, schreibt Daniel Gerhardt auf ZeitOnline. Während Pops einstige Weggefährten wie Lou Reed und David Bowie stets auch langfristig die eigene Position im Pantheon im Blick hatten, sieht das bei Pop mal wieder alles anders aus: Seine "Fragen lauten stattdessen: Steht irgendwo im Salon ein Blumenkübel, in den ich noch nicht gepinkelt habe? Gibt es im Museum eine teure neue Skulptur, die ich mit dem Hintern umstoßen kann? Und läuft hier vielleicht noch ein Anzugträger herum, der an seine kunstbeflissene Armseligkeit erinnert werden muss? 'Free' findet darauf Antworten, die es nicht bis auf den Grabstein von Iggy Pop schaffen werden." Dafür bleibt Pop auch weiterhin "ein Agent im Namen der ewigen Majestätsbeleidigung."



Besprochen werden neue Alben von Lana del Rey (Presse, mehr dazu bereits hier) und Tool (Pitchfork).
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