Efeu - Die Kulturrundschau

High-Five ans Universum

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.07.2019. In der SZ erklärt der russische Regisseur Pawel Lungin, warum er einen Film über den Abzug russischer Soldaten aus Afghanistan drehen wollte. Außerdem hört sie "fOnk" von Georgia Anne Muldrows. Hyperallergic sieht die Welt mit den Augen des Arte-Povera-Künstlers Jannis Kounellis. Der Tagesspiegel stellt die deutsche Künstlergruppe "Vereinigung der XI" vor.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.07.2019 finden Sie hier

Film

Szene aus Pawel Lungins "Brastwo"

In der SZ spricht der russische Regisseur Pawel Lungin über seine Motivation, mit "Bratstwo" einen Film über den Abzug russischer Soldaten aus Afghanistan zu drehen. Ihm geht es darum, ein russisches Schweigekartell zu brechen: "Das sind Themen, die das Volk vor sich selbst versteckt. Sie leben im Innern weiter und zerfressen die Seele. Wir haben zum Beispiel weder Filme über den Afghanistan- noch über den Tschetschenien-Krieg gemacht. Wir haben keine guten, tiefsinnigen Filme über Gulag, die Lager, gedreht. Es scheint mir, das wird zur psychischen Krankheit. Als ob der Kranke nicht zum Arzt gehen will. ... in Zeiten einer aktiven Propaganda für Militarismus, wie sie bei uns stattfindet, muss doch jemand sagen, dass Krieg schlecht ist, dass dort Menschen ums Leben kommen, dass dort Schmerz ist. Jeder ehrliche Film über den Krieg ist ein Antikriegsfilm."

Wohlstandsurbanismus: "Dene wos guet geit"

Eine junge Frau namens Alice Türli arbeitet im Callcenter und nimmt nebenbei via Telefontrick ältere Damen aus, als deren Enkelin in Finanznöten sie sich ausgibt. In seinem Film "Dene wos guet geit" erzählt der Schweizer Regisseur Cyril Schäublin von "Begehrlichkeiten in einer Konsumgesellschaft und das Leben in einer verdinglichten Welt", erklärt Fabian Tietke in der taz: "Der Betrug der jungen Frau folgt der Logik der Gesellschaft, in der er stattfindet. ... In der Kriminalität des Betrugs der Alice Türli liegt ein Akt der Rebellion gegen das Hamsterrad des Neoliberalismus; im Ergebnis des Betrugs und dem Versuch Türlis, das gewonnene Vermögen anzulegen, dessen Reaffirmation." Dieser "filmische Essay über labyrinthisch erkalteten Wohlstandsurbanismus" macht macht fremd vor den Gegenständen, die den Alltag strukturieren, schreibt Lukas Foerster im Perlentaucher: "Leinwandfüllende Ampel-Kästchen, elektronische Türöffner, Ausgabeschlitze von Bankautomaten. Schnittstellen zwischen Mensch und Stadt, die alle etwas Unheimliches bekommen, wenn man sie nur lang und genau genug beobachtet: Was öffnet sich da vor uns, womit kommunizieren wir, wenn wir unsere Chipkarten wieder und wieder an plane Kunststoffflächen drücken?"

Weiteres: Dem Berliner Publikum empfiehlt Fabian Tietke in der taz eine Reihe zum Kriegsfilm im Kino Pompeji. Besprochen werden die Neuverfilmung des "König der Löwen" (Perlentaucher, taz, Standard, Welt, mehr dazu hier), Yann Gonzales' queere Hommage ans B-Kino der 70er "Messer im Herz" mit Vanessa Paradis (SpOn, taz, SZ, mehr dazu bereits hier), das Remake des Serienkillerfilms "Chucky, die Mörderpuppe" (Film Bulletin, Standard), der auf Heimmedien veröffentlichte Film "Can You Ever Forgive Me" mit Melissa McCarthy (taz), die im Rahmen des Manchester International Festivals stattfindende Ausstellung "David Lynch at Home" (NZZ) und Nils Taverniers in Deutschland erst im Dezember startender Film "Ideal Palace" (NZZ).
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Literatur

Mit dem im Alter von 93 Jahren gestorbenen Andrea Camilleri verlässt ein in Italien geradezu volkstümlicher Schriftsteller das Parkett, schreibt Thomas Steinfeld in der SZ (hier unser erstes Resümee der italienischen Presse). So populär war seine Figur des Commissario Montalbano, dass sie sogar liebevoll verballhornt in italienischen Micky-Maus-Comics ihren Auftritt hatte. Zudem war der langjährige Kommunist ein wichtiger Vertreter der intellektuellen Zunft seines Landes, schreibt Steinfeld: "In seinem Protest gegen Silvio Berlusconi war er genauso unerbittlich wie in seinem Widerstand gegen das Referendum, mit dem Matteo Renzi im Dezember 2016 die Verfassung ändern wollte, oder in seinem offensiven Missvergnügen an Matteo Salvini ('ich möchte mich übergeben') und der Allianz mit der Fünf-Sterne-Bewegung, wenngleich Camilleri als Mittel des politischen Ausdrucks die Ironie stets der Parole vorzog. Und selbstverständlich ist sein Commissario Montalbano auch die Allegorie eines Staatsidealismus, in dem sehr viele Italiener eine bessere Variante ihrer selbst zu erkennen meinen". Weitere Nachrufe schreiben Norbert Mayer (Presse), Andrea Dernbach (Tagesspiegel), Dirk Schümer (Welt), Hans-Jürgen Schlamp (SpOn), Maike Albath (NZZ) und Michael Braun (taz).

Weitere Artikel: Für die SZ besucht Lothar Müller die Verlegerin Katharina Wagenbach-Wolff, die morgen ihren 90. Geburtstag feiert. Besprochen werden unter anderem Claudius Seidls Feuilletonsammlung "Die Kunst und das Nichts" (Standard), Ocean Vuongs "Auf Erden sind wir kurz grandios" (Zeit), Bücher von Paul Parin (NZZ), Philippe Collins und Sébastien Goethals' Comic "Die Reise des Marcel Grob" (Tagesspiegel) und Katerina Poladjans "Hier sind Löwen" (FAZ).
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Musik

"Vweto II", Georgia Anne Muldrows neues Instrumentalalbum, "klingt wie ein einziges euphorisches, avantgardistisches bis afrikanisch-schräges High-Five ans Universum", schwärmt Jonathan Fischer in der SZ: Die Hip-Hop-Produzentin "weiß ganz genau, wie man den Free Jazz von Alice Coltrane und den Funk von George Clinton durch den Zukunftsfilter jagt, der tanzend die Grenzen der Musik-Gesetze auslotet. ... Man höre auch den abstrakten Elektro-Boogie von 'Bronx Skates'. Oder 'Mary Lou's Motherboard', der klingt als hätte Muldrow einen Haufen alte Casio-Computerspiele in Sun Ras Umlaufbahnen geschossen. Und dann ist da zwischen all den unheimlich gurgelnden Synthesizern und Science-Fiction-Rülpsern noch die rettende Körperlichkeit, der Funk. Oder 'fOnk', wie Muldrow ihre Traumwandlereien zwischen Afrika, Amerika und den Weiten des Weltraums nennt." Zum Glück kann man sich das Album nach solchen Lobeshymnen auf Youtube-Music anhören:



Weitere Artikel: In der taz porträtiert Katrin Wilke den US-argentinischen Singer-Songwriter Kevin Johansen. Im Tagesspiegel gratuliert Frederik Hanssen dem Berliner Festival Young Euro Classik zum 20-jährigen Bestehen. Bernd Dörries (SZ) und Christian Putsch (Welt) schreiben Nachrufe auf den Anti-Apartheids-Musiker Johnny Clegg.

Besprochen werden fünf frühe, neu aufgelegte Veröffentlichungen von Stereolab (hier, dort, hier, dort und hier auf Pitchfork), das neue Album der Express Brass Band (taz) und unvermeidlicherweise leider auch Ed Sheerans neues Album (Presse).
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Bühne

Besprochen werden die Uraufführung von Akram Khans Tanzstück "Outwitting the Devil" beim Tanzfestival "Colours" in Stuttgart (Tagesspiegel) und die Opern "Turn of the Screw" von Britten und "Die verkaufte Braut" von Smetana in Garsington (FAZ).
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Kunst

"Jannis Kounellis" Ausstellungsansicht aus der Fondazione Prada Venezia. Photo Agostino Osio - Alto Piano


In Venedig hat in der Fondazione Prada gerade eine große Retrospektive des Arte-Povera-Künstlers Jannis Kounellis eröffnet. Ara Merjian war nicht dort, hat sich für Hyperallergic aber ins MART begeben, das Museum of Modern and Contemporary Art of Trento and Roveretoin begeben, wo man Kounellis abseits der Massen studieren kann. Man kann von ihm viel darüber lernen, wie Kunst die Augen für die Welt um einen öffnet, schreibt der beeindruckte Kritiker: "Sein Werk reimte sich weitgehend (wenn auch unwissentlich) auf das des prominentesten (und polemischsten) italienischen Nachkriegsintellektuellen - des Dichters, Kritikers und Filmemachers Pier Paolo Pasolini. Pasolini beschrieb den wirtschaftlichen 'Boom' Italiens in den späten 1950er und frühen 60er Jahren - als das Land von beispiellosen Gütern, Annehmlichkeiten und Geräten überflutet wurde - und nannte Italien eine 'Labornation'. Seine Kultur, so bemerkte er, sei immer häufiger Gegenstand von Konfrontationen zwischen dem Archaischen und dem Hypermodernen, zwischen dem 'Erste' und dem 'Dritte' Welt-Standard und zwischen einer tausendjährigen ungarischen Volkssprache und einer zunehmend internationalen neokapitalistischen Technokratie. Von allen italienischen Künstlern, die in den 1960er Jahren in die Jahre kamen, war Kounellis einzigartig in seiner Inszenierung genau dieser Konfrontationen, ohne sie zu vertreten.  Wenn das grobe Sackleinen einer Installation an den edlen Pauperismus des Heiligen Franziskus erinnert, beschwören die Kohlebrocken desselben Werkes die Notwendigkeiten der industriellen Moderne (eine heute, aus unserer Perspektive Anfang des 21. Jahrhunderts, kurios anmutende Wendung)."

Besprochen werden außerdem eine Ausstellung des norwegischen Landschaftsmalers Harald Sohlberg in der Kunsthalle Wiesbaden (Welt), eine Ausstellung zur deutschen Künstlergruppe "Vereinigung der XI" im Berliner Bröhan-Museum (Tagesspiegel), die Ausstellung "Wege des Barock" im Potsdamer Museum Barberini (FAZ, Zeit), die Ausstellung "Michel Campeau. The Donkey that became a Zebra: Darkroom Stories" im Fotografie Forum in Frankfurt (FAZ) und die Ausstellung "Schilder einer Ausstellung. Bildbeschriftungen der Gemäldegalerie von 1830 bis heute" in der Berliner Gemäldegalerie (SZ).
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