Efeu - Die Kulturrundschau

Die Tragik der späten Avantgarde

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31.05.2019. Die Welt erkundet mit Maria Lassnig und Martin Kippenberger weibliches und männliches Künstlersein. In der Berliner Zeitung fragt sich Schauspielerin und Regisseurin Steffi Kühnert, warum neue Stücke partout keine Dialoge mehr haben. In der Jungle World blickt Comic-Zeichner Ralf König befremdet auf "Scheinkämpfe" gegen Rassismus, die sich in der Kunst austoben. Im Film-Dienst spricht Regisseur Radu Jude über seinen Film "Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen", der sich mit der Shoah in Rumänien auseinandersetzt. 
9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.05.2019 finden Sie hier

Kunst


Bild links: Martin Kippenberger, Ohne Titel (aus der Serie "Das Floß der Medusa"), 1996 © Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne. Bild rechts: Maria Lassnig, Sprechzwang, 1980, Privatsammlung © Maria Lassnig Stiftung

"Widerständiger als diese beiden Maler sind wenige den lange geltenden Erwartungen an weibliches und männliches Künstlersein begegnet", schreibt Hans-Joachim Müller, der sich für die Welt eine Münchner Ausstellung angesehen hat, die im Münchner Lenbachhaus und im Kunstbau München Maria Lassnig und Martin Kippenberger unter dem Titel "Body Check" parallel zeigt. Hier die "unablässige Selbstbeschau" Maria Lassnigs: "Nie ist der Kopf der überlegene Teil des Körpers. Er ist wie Rumpf und Glieder Teil eines mentalen und psychischen Organismus, der mit dem distanzierenden 'Ich' nicht zureichend beschrieben ist. Denn immer schließt er ein abständiges Weltverhältnis mit ein, ist Denk- und Fühlinstanz in kritischer Auseinandersetzung mit Gesellschaft und Umwelt." Dort Kippenbergers "Nonsens-Brillanz", die alles mögliche verspricht, nur keine gute Laune. "Die Stimmung ist gar nicht geheuer in den Münchner Räumen. Kippenberger, das wird erst jetzt in der Zusammenschau mit Maria Lassnig vollends bewusst, ist auch ein anderes Wort für die Tragik der späten Avantgarde, für ein Künstlerbewusstsein, das alle Kunstorte längst besetzt weiß - so listig kunstartenreich besetzt, dass nicht einmal mehr die Attacke auf den Kunstort Spielfeldfreiheit schüfe."

Besprochen werden außerdem die Ausstellungen "Ein halbes Jahrhundert für die Kunst" über den Bau der Kunsthalle Rostock und "Utopie, Inspiration, Politikum" über den Berliner Palast der Republik, beide in der Kunsthalle Rostock (Tagesspiegel), eine Ausstellung der Skulpturen Lynn Chadwicks im Georg-Kolbe-Museum in Berlin (Berliner Zeitung), eine Ausstellung des Zeichners Hans Traxler im Caricatura Museum Frankfurt (SZ) und eine Ausstellung mit Werken der Sammlung Thannhauser aus dem New Yorker Guggenheim Museum im L'Hotel de Caumont Centre d'art in Aix-en-Provence (FAZ).
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Literatur

Eher achselzuckend reagiert Comicautor Ralf König auf die Kritik, eines seiner Wandbilder in Brüssel sei rassistisch und transphob, schlicht weil sie seinem gängigen karikaturenhaften Stil folgen: "Ich stehe etwas befremdet daneben", erklärt er in der Jungle World. An dem beanstandeten Bild werde er nichts ändern: "Ich würde womöglich bei People-of-Color-Knollennasen mit Lippenstift auf Lippen zurückhaltender sein, aber das ist schon alles. ... Ich glaube, das sind Scheinkämpfe, der wahre Rassismus ist da draußen, wenn Schwarze nur miese Jobs kriegen oder keine Wohnung. Dem ist nur schwer beizukommen, da stürzt man sich auf Comicfiguren."

Weitere Artikel: Susanne Lenz unterhält sich für die FR mit dem österreichischen Lyriker Christoph Szalay, der mit dem Alice-Salomon-Poetikpreis ausgezeichnet wurde. Peter von Becker berichtet im Tagesspiegel, wie er in seinem Buchregal zufällig auf die Werke des französischen Übersetzers Alain Lance stieß.

Besprochen werden unter anderem neue Lyrik aus Syrien (NZZ), Asli Erdogans "Das Haus aus Stein" (Tagesspiegel, Dlf), Jürgen Brôcans Übersetzung von Walt Whitmans "Leben und Abenteuer von Jack Eagle" (SZ) Marlene Streeruwitz' "Flammenwand" (Standard, Dlf Kultur hat mit der Autorin gesprochen), Dževad Karahasans "Ein Haus für die Müden" (online nachgereicht von der FAZ), Alex Beers "Der dunkle Bote" (Presse), Peter Brauns Porträt über die Fotografin Ilse Schneider-Lengyel (Dlf Kultur), Dashka Slaters "Bus 57" (Dlf Kultur), Nicolas Mahlers Comic "Das Ritual" (Jungle World), Johannes Groschupfs Krimi "Berlin Prepper" (Dlf Kultur) und ein Band mit den Briefen Werner Sombarts (FAZ).
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Film

Die Position der Täter: Radu Judes "Mir ist es egal..." (Bild: Grandfilm)

Eine Theaterperformance über die Shoah in Rumänien steht im Mittelpunkt von Radu Judes "Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen" - Anlass für den Regisseur selbst, sich filmisch ins Verhältnis zu den Geschehnissen zu setzen, bei denen Juden, Sinti und Roma unter der Führung Ion Antonescus systematisch ermordet wurden. "Wenn man über Gewalt in der Geschichte spricht, darf man sich nicht in die Rolle des Opfers versetzen", erklärt der Regisseur im Filmdienst-Gespräch. "Ich wurde auch häufig gefragt, warum ich nicht einen Film über die russische Invasion in Rumänien gemacht hätte. Solch ein Film ist natürlich möglich. Es ist aber wichtiger, Filme zu machen, die die Position der Täter hinterfragen. Das Massaker ist kein Problem der Juden, sondern derjenigen, die es begangen haben, der Rumänen nämlich und der Deutschen." Dies ist "zweifellos einer der facettenreichsten wie herausforderndsten Filme des Jahres", schreibt ein ziemlich beeindruckter Simon Hauck auf kino-zeit.de. Weitere Besprechungen im Perlentaucher, auf critic.de und in epdFilm.

Lügende Bilder: Brian de Palmas "Domino"

Der neue Film von Brian de Palma - lange, sehr lange hat das gedauert, bis man das mal wieder schreiben kann - hat eine äußerst verzwickte Produktionsgeschichte hinter sich, die nicht nur dafür sorgte, dass der Terroristen-Thriller zwei Jahre lang liegen blieb, bevor er nun eher ruhmlos als Video-on-Demand veröffentlicht wird, sondern auch, dass er "in vieler Hinsicht ein Film der prekären Bilder ist", wie Lukas Foerster im Film Bulletin erklärt. Auf oberster Ebene mag der Film enttäuschen, doch "der Kern des De-Palma-Kinos - die abgründige Bildintelligenz - bleibt davon unberührt. Das wird nicht nur in den de-Palma-typischen barock-exzentrischen Passagen deutlich, wie etwa in einer denkwürdigen, auf einem Laptopbildschirm verorteten Splitscreensequenz, die das Prinzip der Spaltung ins terroristische Extrem treibt; sondern auch in vermeintlich konventionellen Bildern. ... Gerade auf das vermeintlich befriedete Europa, das Konsumkultur mit Nachhaltigkeit versöhnt zu haben glaubt, lässt De Palma seine lügenden Bilder los."

Weitere Artikel: Die FAS hat ihr großes Gespräch mit Ingrid Caven online nachgereicht - wir erfahen unter anderem, dass Kokain schädlich für die Stimmbänder ist und wie Rainer Werner Fassbinder Muffesausen vor der RAF hatte. Außerdem gibt's in der FAZ ein Interview mit dem Filmregisseur Mehmet Akif Büyükatalay über dessen jetzt im Kino anlaufenden Film "Oray". Lutz Herden erinnert im Freitag an den von Bertolt Brecht geschriebenen Film "Kuhle Wampe". Im Filmdienst führt Fabian Tietke durch das Programm des Kölner Festivals "Visions of Iran". Wilfried Hippen spricht für die taz mit Maike Mia Höhne, der neuen künsterischen Leiterin des Hamburger Kurzfilmfestivals.

Besprochen werden Claire Denis' Science-Fiction-Kunstfilm "High Life" (Artechock, critic.de, FAZ, FR, der Standard hat mit Hauptdarsteller Robert Pattinson gesprochen, mehr dazu bereits hier), Jean-Michel Vecchiets Dokumentarfilm "Peter Lindbergh - Women's Stories" (ZeitOnline), Mamoru Hosodas Anime "Mirai" (Perlentaucher), die auf Amazon Prime gezeigte Serienadaption von Terry Pratchetts und Neil Gaimans Apokalypsenparodie "Good Omens" (Filmdienst, ZeitOnline, Presse, Welt). das Elton-John-Biopic "Rocketman" (Standard, Welt) und Sebastian Schippers Flüchtlings-Roadmovie "Roads" (FR, ZeitOnline, SZ).
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Bühne

Drei Stücke musste die Schauspielerin und Regisseurin Steffi Kühnert aus über hundert zusammen  mit ihren Jury-Kollegen für die Autorentheatertage auswählen. Dass es nicht einfach war, lag nicht nur an der Masse, erfahren wir aus einem Interview der Berliner Zeitung: "Auffällig für mich ist, dass neue Stücke partout keine Dialoge mehr haben, dafür seitenlange Statements abgeben: Monologisieren. Es gibt Zustandsbeschreibungen, aber es entsteht nichts daraus, keine Prozesse. Warum ist das so? Kämpft jeder nur noch für sich? Will jeder nur noch seine eigenen Befindlichkeiten austragen? Ist es womöglich zu schwer, Dialoge zu schreiben? Oder ist es nur nicht mehr angesagt, zu altmodisch? Ich weiß es nicht."

Weitere Artikel: Esther Slevogt untersucht für die nachtkritik den Hintergrund des Streits zwischen dem Frankfurter Theaterintendanten Anselm Weber und Regisseur Ulrich Rasche, der nicht ganz unterheblich durch mehrere FAZ-Artikel befeuert wurde. "Lodert in den Herzen der Abgehängten ein besonderes Feuer?" Das fragt sich in der FAZ Kerstin Holm, die bei den Autorentagen in Berlin fünf Inszenierungen aus Russland, Weißrussland, Tschechien, Ungarn und der Ukraine sah.

Besprochen werden Romeo Castelluccis "La vita nuova" bei den Wiener Festwochen ("Es bleibt ein leeres Rätsel", resümiert ein enttäuschter Norbert Mayer in der PresseStandard-Kritiker Ronald Pohl hingegen überlässt sich ganz der "berückende Wirkung dieser szenischen Installation"), Juliane Kanns Inszenierung von Patrick Marbers Turgenjew-Bearbeitung "Drei Tage auf dem Land" am Nationaltheater Weimar (nachtkritik), Thom Luz' begehbare Rauminstallation "Radio Requiem" am Theater Basel (nachtkritik), eine Wiederaufnahme von Pina Bauschs Choreografie "Er nimmt sie an der Hand und führt sie in das Schloss, die anderen folgen" in Wuppertal (NZZ), Barbara Freys Inszenierung der James-Joyce-Erzählung "Die Toten" am Schauspielhaus Zürich (SZ), Sidi Larbi Cherkaouis Inszenierung von Glucks "Alceste" in München (FAZ) und Vincent Huguets Inszenierung der Richard-Strauss-Oper "Die Frau ohne Schatten" an der Wiener Staatsoper mit Christian Thielemann am Pult (FAZ).
Archiv: Bühne

Musik



Anlässlich neuer Plattenveröffentlichungen von Jan St. Werner (ein Eindruck oben) und Stefan Goldmann (ein Video unten) hat Lars Fleischmann die beiden Produzenten experimenteller elektronischer Musik für die taz zum Gespräch an einen Tisch gesetzt. Es geht unter anderem um die Frage nach der ästhetischen Innovation in einem Feld, das zunehmend abgegrast wirkt: Für sein Album "Glottal Wolpertinger" hat Werner einen Software-Patch entwickelt, der "spektrales, obertonreiches, präzises und atonales Feedback ermöglicht, das bewusst nicht auf stabilen Wellenformen und Tonalitäten basiert." Und Goldmann erklärt zu seinem Album "Tacit Script": "Wir wachsen mit einer bestimmten Vorstellung von Tonalität auf. Die steckt bereits in Instrumenten wie Klavier und Gitarre, die spezifisch gestimmt sind. Dabei kennen andere Kulturen andere Systeme. Ich habe eigene Systeme entwickelt, die sich durch Streckung oder Verkürzung der Abstände von unserer bekannten Tonreihe unterscheiden und durch konsequente Wiederholung irgendwann vertraut erscheinen."



Gewissermaßen ganz gut passt dazu auch das Gespräch, das die NZZ mit dem malischen Musiker Bassekou Kouyate geführt hat. Zwar geht es darin auch um die bedrückende Situation in seinem Heimatland, in dem Musiker von Islamisten zur Flucht gezwungen wurden. Aber auch um die Weiterentwicklung musikalischer Traditionen - zumal, da Kouyate das Ngoni-Instrument, eine Art traditionelle Laute, weiterentwickelt hat: "Mein größter Kritiker war mein Vater: Als ich es wagte, populäre Gitarren-Riffs auf der Ngoni nachzuspielen, tadelte er mich. Aber letztlich hat er akzeptiert, dass die Tradition nur durch Veränderung fortlebt. Mein Vater hatte vier Saiten auf seiner Ngoni, eine mehr als mein Großvater. Und ich habe noch ein paar Saiten dazu aufgespannt. Manchmal sind es sieben, manchmal auch neun. Und dank den Wahwah-Effekten und dem Verzerrungs-Pedal kann ich nun jede Form von Musik spielen, von Klassik bis Rock." Hier erleben wir sein Fingerspiel live und in Großaufnahme:



Weiteres: Diviam Hoffmann spricht in der taz mit Jamila Woods über deren Album "Legacy! Legacy!", das dem Andenken afroamerikanischer Künstler und Künstlerinnen gewidmet ist (mehr dazu bereits hier). In der NZZ empfiehlt Thomas Schacher das Brahms-Festival in Winterthur. NPR meldet den Tod des Folk- und Bluesmusikers Leon Redbone.



Besprochen werden neue Alben von Flying Lotus (Presse), Fat White Family (taz) und Earth (Pitchfork) sowie ein Auftritt von Kiss (Standard, Presse), ein Bach-Konzert von Yo-Yo Ma (Standard), ein Konzert der Wiener Philharmoniker unter Mariss Jansons (Standard), neue Bücher über die Popkultur der 70er (Tagesspiegel) und ein Auftritt der wiedervereinten Backstreet Boys (Tagesspiegel).
Archiv: Musik