Efeu - Die Kulturrundschau

Gestopft und gedrungen

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20.05.2019.  In Cannes mussten die Kritiker mit Terrence Malick der Anrufung Gottes beiwohnen, FAZ und Welt versichern aber, dass "A Hidden Life" kein Film für die Amtskirche sei, eher für den Naturglauben. Der Tagesspiegel bewundert, wie der ghanaische Künstler El Anatsui im Haus der Kunst Riesenechsen zum Tanzen bringt. In der SZ fragt Museumschef Achim Hochöfer: Welcher Stil herrscht eigentlich gerade? Die Nachtkritik feiert Max Simonischek, der in Frankfurt den "Peer Gynt" mit vollem Körpereinsatz gab.  SpOn und ZeitOnline resümieren betreten den ESC mit Madonnas schrägem Auftritt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.05.2019 finden Sie hier

Film

Verweilt lang bei den Liebenden: Terrence Malicks "A Hidden Life"

Kino-Gottesdienst in Cannes: Groß-Auteur Terrence Malick hat mit dem seit langem angekündigten "A Hidden Life" die Geschichte des österreichischen Bauern Franz Jägerstätter (August Diehl), der wegen seiner christlichen Überzeugungen den Nationalsozialisten den Dienst an der Waffe versagt hatte und dafür in den Tod gegangen ist, auf die Leinwand gebracht. Man bekommt, was man von diesem Regisseur bei diesem Stoff erwarten darf, meint FAZ-Kritikerin Verena Lueken: "Die Natur wird hier zur Kathedrale, in der Gott wohnt, jedes Bild scheint ihn anzurufen. Jede Anstrengung des Bauernlebens wird getragen nicht nur von einem bombastischen Soundtrack, sondern auch von der Kamera, die ans Licht strebt, die den Körpern weniger Aufmerksamkeit schenkt als Wasserfällen und Wolkentürmen und deshalb Arme, Köpfe, Beine der Figuren abschneidet, schräg kadriert oder an ihnen vorbeiwischt, um einen Augenblick goldenen Scheins auf den Weizenähren einzufangen. Ein Film darüber, was ein Gewissen und ein Glaube vermögen, das auch. Aber vor allem eine lange Anrufung von Malicks Gott."

Hanns-Georg Rodek versucht in der Welt den Film auch weniger katholischen Menschen schmackhaft zu machen: Dies "ist kein Film für die Amtskirche, sondern eher für einen Naturglauben". Auch SpOn-Kritikerin Hannah Pilarczyk sieht hier vor allem große Filmkunst, die auch Agnostikern und Atheisten schlussendlich gefallen könnte: "Persönliche Filme über den Nationalsozialismus zu machen, das wollen viele. Einen so überzeugenden Zugang wie Malick finden jedoch die wenigsten." SZ-Kritikerin Susan Vahabzadeh sah in diesem Film manch grandioses Bild, hörte aber auch viel zu viel Geraune: "Malicks Dialogfragmente und Voiceovers taugen nicht als Medium für philosophische Erörterungen. ... Die Geschichte, wie Jägerstätter sich jeder Gruppendynamik verweigert, auf seinem Standpunkt beharrt, ist ganz aktuell und wäre es wert gewesen, vollständig erzählt zu werden."

Aus Cannes und unter anderem von den neuen Filmen von Pedro Almodóvar, Ken Loach und Jessica Hausner berichten Tim Caspar Boehme (taz), Wenke Husmann (ZeitOnline), Andreas Busche (Tagesspiegel), Dominik Kamalzadeh (Standard) und Daniel Kothenschulte (FR). Die New York Times hat sich mit Jurypräsident Alejandro Gonzáles Iñárritu zum Gespräch getroffen, der wenig vom Netflix-Bashing hält, auch wenn er die Kino-Erfahrung dem Streaming vorzieht: Die Studios selbst lassen das Kino vor die Hunde gehen, sagt er.

Aus Cannes berichten zudem Artechock, Kino-Zeit und critic.de, letztere auch mit täglichen Podcast-Lieferungen. Mehrfach täglich einen Blick wert: Der critic.de-Kritkerinnenspiegel. Mit Tweets vom Festival versorgen uns Jenny Jecke und Beatrice Behn. Und ebenfalls sehr fein: Der regelmäßig aktualisierte Cannes-Ticker vom Blogger Negative Space.

Abseits von Cannes: Mit "Game of Thrones" geht eine Ära zu Ende - oder sie beginnt überhaupt erst, schreibt Barbara Schweizerhof im Freitag: "Sie sei das letzte gemeinschaftlich, weil noch in Echtzeit geteilte Erlebnis, wurde diagnostiziert, ein Schwanengesang aufs alte lineare Fernsehen. Andererseits: Wann gab es das schon einmal, dass ein Publikum weltweit auf eine Erzählung mit der Intensität reagiert, die sonst Sportereignissen vorbehalten ist? Vielleicht ist Game of Thrones ja eher die erste ihrer Art - als Serie, die eine neue Weise der Rezeption geprägt hat." Wenke Husmann schreibt auf ZeitOnline über die Spoiler-Phobie, die viele packt, wenn es um "Game of Thrones" geht. Schade findet es Peter Huth in der Welt, dass die Serie in ihrer letzten Staffel die Drehbuchlogik weitgehend suspendiert hat.

Weiteres: In Frankfurt wird das Rainer Werner Fassbinder Center eröffnet, berichtet Claus-Jürgen Göpfert in der FR. Auf Moviepilot verteidigt Rajko Buchardt die vielgehasste Episode 1 von "Star Wars", die vor 20 Jahren ins Kino kam. Besprochen werden neue Heimmedien-Veröffentlichungen, darunter Lana Gogoberidses "Einige Interviews zu persönlichen Fragen" von 1978 (SZ), und die abschließende Staffel von Phoebe Walter-Bridges Serie "Fleabag", vor der ZeitOnline-Kritiker Daniel Gerhardt auf die Knie geht.
Archiv: Film

Kunst

Die von El Anatsui verhängte Fassade. Foto: Haus der Kunst. 

Im Tagesspiegel ist Peter von Becker völlig verzaubert von der Ausstellung des ghanaischen Künstlers El Anatsui, die noch vom kürzlich verstorbenen Okwui Enwezor für das Münchner Haus der Kunst konzipiert wurde. El Anatsui, stellt Becker klar, gehört zu den größten Künstlern Afrikas: "Das Tolle ist nun: El Anatsuis charakteristische Wandbehänge, die wie bunt schillernde, enorm große Textilien wirken, sie scheinen in ihren immer neuen Wellen, Raffungen, Ausspreizungen zu schweben. Und zu leben. Manchmal stehen, hocken, liegen sie auch nur wie sonderbare Urwesen mitten im Raum, und man glaubt, gleich werden sie sich weiter vom Boden erheben und loskriechen wie urzeitliche Riesenechsen. Oder tanzen wie fragile, grazile Riesen. Den zentralen Längssaal der Ausstellung füllen (und öffnen) sie gar in Form von geschwungenen, aneinandergereihten transparenten Käfigen oder Netzen. Zwischen ihnen können sich die Besucher wie durch ein poröses Labyrinth bewegen."

Im SZ-Interview mit Catrin Lorch spricht der Direktor der Sammlung Brandhorst, Achim Hochöfer, über den wachsenden ökonomischen auf dem Kunstmarkt, neue Geschäftsmodelle der Galerien und die Veränderung in der Kunstgeschichtsschreibung: "Ein Symptom des Umbruchs liegt doch schon allein darin, dass wir gar keinen Namen mehr für die Stile und Tendenzen der Kunst unserer Zeit haben. Noch bis in die Neunzigerjahre hinein tobte geradezu ein Wettstreit: Wer erfindet den neuesten Stil, wer gibt einer Dekade ein Thema vor? Während schon Anfang der Achtzigerjahre die Wiederkehr der Malerei ausgerufen wurde und zu Beginn der Neunzigerjahre die Institutionskritik, sind solche Bestandsaufnahmen seit der Jahrtausendwende ausgeblieben. Es gibt keine Ismen mehr."

Besprochen werden eine Schau des Impressionisten Gustave Caillebotte in der Alten Nationalgalerie in Berlin (SZ), eine Ausstellung mit Bildern des griechischen Sammlers Byron Metos, die Fotografien deutscher Wehrmachtssoldaten in Athen zeigt (SZ), Werke des Pariser Musée de l'Art moderne in der Kunsthalle Schwäbisch Hall (FAZ) und due Hermann-Nitsch-Ausstellung "Räume aus Farbe" in der Wiener Albertina (Standard).
Archiv: Kunst

Bühne

Max Simonischek als Peer gynt in Andreas Kriegenburgs Inszenierung. Foto: Birgit Hupfeld / Schauspiel Frankfurt


Fasziniert taucht Nachtkritiker Alexander Jürgs in Andreas Kriegenburgs fantastisch-mystische Ibsen-Inszenierung am Schauspiel Frankfurt. Sein Peer Gynt ist der von Freiheit und Moderne überforderte Mensch: "Kein Abenteurer, sondern ein Leidender, das ist dieser Peer Gynt, den Max Simonischek gibt, in einer bildgewaltigen, poetischen, fast fünfstündigen Inszenierung von Andreas Kriegenburg am Frankfurter Schauspiel. Er spricht oft bleiern-monoton, krümmt sich, zerreißt sich, duckt sich weg, als wolle er sich vor der Welt da draußen, vor den Frauen, den Trollen, den Mitreisenden, verstecken. Und doch ist er auch ein Kraftprotz, kann er wüten wie ein wildes Tier. Braucht nur eine Handbewegung, um Ingrid, der Tochter des Hägstadt-Bauern, die er entführen wird, das Kleid vom Körper zu zerren. An toxischer Männlichkeit mangelt es dem 'nordischen Faust', 1867 verfasst, nicht. Max Simonischek, dieser stoische Mannkoloss, der mit vollem Körpereinsatz spielt, ist die ideale Besetzung dafür." FAZ-Kritikerin Sandra Kegel sieht in diesem "willenlosen und ichfernen" Peer Gynt zwar gerade keinen nordischen Faust, aber gebannt hat diese untergründige Wahnlandschaft auch sie: "Als habe sich der Filmsurrealist David Lynch in den Cirque du Soleil verirrt."

Weiteres: Der Tagesspiegel bringt die Laudatio des Schausspielers Frank Rogowskis auf seinen Bühnenkollegen Johannes Nussbaum, der beim Theatertreffen in Berlin den Alfred-Kerr-Darstellerpreis erhielt: "Sein Herz liegt offen, ohne dass er daraus eine Show macht." Petra Kohse berichtet in der Berliner Zeitung von der Burning-Issues-Konferenz beim Theatertreffen: "Front war gestern, Feminismus ist hip geworden im heutigen Theater." Nachtkritiker Nikolaus Merck war beim Europäischen Bürgerbühnen Festival in Dresden.

Besprochen werden Elmar Goerdens Bühnenfassung von Josph Roths "Radetzkymarsch" im Theater in der Josefstadt (Standard), Roger Vontobels Adaption des Films "Fight Club" im Schauspielhaus Düsseldorf (Nachtkritik), Achim Freyers Hoffmann-Inszenierung "Der goldene Topf" am Schauspiel Stuttgart (Nachtkritik) und Händels frühe Oper "Rodrigo" bei den Göttinger Festspielen (FAZ).

Archiv: Bühne

Literatur

Wer über W.G. Sebald spricht, kommt meist auch rasch auf "Austerlitz" zu sprechen - ein Fehler, meint Sebalds Doktorand Uwe Schütte im Freitag. Der Autor selbst sei Zeit seines Lebens unzufrieden gewesen mit dem Buch, das, wiewohl immer noch "hervorragend", gegenüber seinem übrigen Werk jedoch "offen zutage liegende literarische Schwächen" aufweise. "Misst man es an Sebalds eigenem Anspruch als Prosaautor, vermag es keineswegs zu bestehen: 'Ich habe einen Horror vor allen billigen Formen der Fiktionalisierung. Mein Medium ist die Prosa, nicht der Roman.' ... Gegen die Schubladisierung als Holocaust-Autor hat sich Sebald, solange er noch konnte, vehement verwehrt. Heute muss man ihn vor den Verehrern von 'Austerlitz' beschützen. Etwa indem man ihnen die Lektüre von 'Die Ringe des Saturn' anrät, Sebalds wahrem Meisterwerk."

Weitere Artikel: Schriftsteller Robert Menasse denkt im SZ-Gespräch darüber nach, wie sich Straches Ibiza-Affäre zu einer Novelle umformen ließe. Für die Republik hat sich Daniel Graf zum großen Gespräch mit Carolin Emcke über deren neues Buch "Ja heißt ja und ... Ein Monolog" getroffen. Hans-Peter Kunisch ist für die SZ ins brandenburgische Bad Belzig zur US-Autorin Nell Zink gereist. Angela Schader schreibt in der NZZ einen Nachruf auf den Schriftsteller Herman Wouk. Im Literatur-Feature des Dlf Kultur erinnert Silke Rotzoll an Joseph Roths Jahre in Paris.

Besprochen werden unter anderem  ein neuer "Blake & Mortimer"-Comic (Tagesspiegel), Charles Lewinskys "Der Stotterer" (SZ) und neue Hörbücher, darunter eine Hörspielbearbeitung von Heinz Strunks Roman "Der Goldene Handschuh" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Matthias Weichelt über Kito Lorencs "Sterbender Häher":

"Wir gehn
durch den Herbst oder einen späten Frühling,
Hahnenfuß und Löwenzahn.
..."
Archiv: Literatur

Musik

Satz mit x, das war wohl nix: Unter (insbesondere in den sozialen Medien) bemerkenswert weitreichender Fassungslosigkeit ging ein einigermaßen unterirdischer Jahrgang des Eurovision Song Contests zu Ende. Flaue Bildregie, mäßige Auftritte, ein überaschungsarmer Gewinner - es gewann einfach der Favorit, Duncan Laurence aus den Niederlanden, schreibt bekümmert Samir H. Köck in der Presse. Und auch Madonna konnte es nicht rausreißen: Dieser Abend war "ein Tiefpunkt ihrer Karriere", staunt Arno Frank auf SpOn. Bei Jens Balzer auf ZeitOnline klingt das ähnlich: Für ihre Kombination aus "Like a Prayer" und einem Stück aus ihrem neuen Album "hatte sie sich mit einer Piratenaugenklappe bekleidet sowie mit einer schwarzen strassbesetzten BDSM-Piratenritterrüstung mit wulstigen Schulterpolstern: einem Kostüm, in dem sie auf eher ungünstige Weise gestopft und gedrungen wirkte. Zu 'Like a Prayer' hatte sie sich, abweichend vom Original, einen pseudoaktuellen Trap-Rhythmus anfertigen lassen, ein dünnes Brrtl-di-grrl-klicker-di-klacker, über dem sie mit ihrer noch dünneren Stimme herzzerreißend schief sang, während um sie herum ein paar Dutzend Mönche auf einer Showtreppe standen."



Alles völlig anders sieht Jan Feddersen in der taz: Tolle Party, tolle Show, toller Gewinner, tolle Madonna. Besonders schön: Der israelische Gastgebersender stand sehr selbstverständlich dazu, dass ein überwältigender Großteil des anwesenden Publikums im Saal männlich und somit sehr wahrscheinlich schwul war: "Eine Fernsehshow, wie sie facettenreicher nicht sein könnte: die queere Familienshow schlechthin. Alles war in der großen Überraschungstüte, was am Zappen hinderte."

Weitere Artikel: Ziemlich episch rekonstruiert Dirk Peitz auf ZeitOnline den Missbrauchsskandal um R. Kelly. In der Berliner Zeitung spricht Jens Balzer ausführlich über sein neues Buch, das die Popmusik der 70er in den Blick nimmt. Für die NZZ spricht Christian Wildhagen mit dem Dirigenten, Komponisten und Musiker Heinz Holliger, der morgen 80 Jahre alt wird. Jan Brachmann stimmt in der FAZ auf das Mozartfest in Würzburg ein, das sich mit Fragen nach der strahlenden Wirkmacht des Komponisten auch auf die anderen Künste beschäftigt.

Besprochen werden ein Stelldichein alter Hip-Hop-Herren in Berlin mit dem Wu-Tang Clan, Public Enemy und De La Soul (taz, Tagesspiegel, Berliner Zeitung), die Compilation "Pacific Breeze: Japanese City Pop, AOR & Boogie 1976-1986" (Pitchfork), eine Schönberg-Aufnahme des Zimmermann Streichtrios (SZ), Soccer Mommys Album "Clean" (taz), das Debütalbum "Nothing Great About Britain" des Rappers Slowthai (Tagesspiegel) und ein Konzert von Von Wegen Lisbeth (taz).
Archiv: Musik