Efeu - Die Kulturrundschau

Der schönste geplatzte Kopf

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17.05.2019. In der SZ legt Ai Weiwei wenig Wert auf die Reinheit der Haltung. Die FR erinnert an die Neue Heimat und eine Zeit, als man noch technologieaffin, fortschrittsgläubig und megaloman baute. Die Filmkritiker werden noch nicht recht warm in Cannes - trotz Udo Kier auf Menschenjagd in Kleber Mendonça Filhos im Weltall angesiedeltem brasilianischen Neo-Western "Bacurau". Zeit online hört The National. Die Feuilletons trauern um den Kolumnisten und Kabarettisten Wiglaf Droste. Einen ersten Nachruf auf den Architekten I.M. Pei bringt die New York Times.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.05.2019 finden Sie hier

Kunst

Life Cycle, 2018, Imgage courtesy of Ai Weiwei Studio

Alexander Menden ist ganz schön beeindruckt von der Konsequenz, mit der Ai Weiwei sich über die Jahre für Flüchtlinge und Unterdrückte eingesetzt hat. Man kann das ab morgen in einer großen Retrospektive im Düsseldorfer K20 und 21 sehen, erzählt er in der SZ. Seit er in den Westen gezogen ist, wird Ai Weiwei allerdings genau dafür immer härter kritisiert. Vor allem, weil sich seine Kritik nicht mehr nur auf China bezieht: "'Die Leute hier wollen vor allem recht haben', findet Ai Weiwei. In dieser Hinsicht sei Deutschland wie China: 'Es geht um die Reinheit der Haltung, nur mit dem Unterschied, dass das in China vom Staat vorgeschrieben ist und die Deutschen es sich selbst auferlegen.' Seine im Vergleich zu früher weit weniger häufige Kritik an China begründet er mit seiner langen Abwesenheit: 'Man muss in echter Gefahr sein, sich den Konsequenzen seiner Meinung stellen zu müssen, um legitim kritisieren zu können. Von hier aus ist es zu einfach. Viele sind deshalb sehr enttäuscht. Sollen sie enttäuscht sein.'"

Weiteres: Susan Meiselas gewinnt den Deutsche Börse Photography Foundation Prize 2019, meldet die Photographers Gallery (mehr über Meiselas in unserem Fotolot). Wo er auch hinschaut auf der Biennale in Venedig, der FAZ-Kritiker Stefan Trinks sieht überall den Einfluss von Joseph Beuys. In der Berliner Zeitung empfiehlt Ingeborg Ruthe einen Gang in die Alte Nationalgalerie in Berlin, wo man derzeit eine "spektakuläre Leihgabe aus Chicago" bewundern kann: Gustave Caillebottes "Rue de Paris, temps de pluie" (Straße in Paris, Regenwetter), 1877. Besprochen wird die Hermann-Nitsch-Ausstellung "Räume aus Farbe" in der Wiener Albertina ("Die farbsatten Wände treffen den Besucher in dieser Dichte wie eine Wucht. Von Beklemmung führen sie bis hin zu höchster Freude", begeistert sich Michael Wurmitzer im Standard)
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Architektur

Entlastungsstadt München Neuperlach, Foto: Kurt Otto © WSB Bayern, Bestand Neue Heimat


In der FR erinnert Robert Kaltenbrunner anlässlich einer gerade zu Ende gehenden Ausstellung in der Münchner Pinakothek der Moderne an den Wohnungsbaukonzern Neue Heimat, der "Anfang des 20. Jahrhunderts so hoffnungsvoll als Fanal eines neuen Denkens und Bauens begann - und nach etwa einer halben Million gebauter Wohnungen, von Skandalen und mafiösem Finanzgebaren lauthals orchestriert, im Debakel endete ... Mit einer Mischung aus Faszination und Befremden blickt man heute auf die visionären Stadtentwürfe der Nachkriegsmoderne, für deren namhafteste die Neue Heimat verantwortlich war. Ob nun die Nordweststadt in Frankfurt, Nürnberg-Langwasser, Osterholz-Tenever, Neuperlach in München, Hamburg-Mümmelmannsberg oder Darmstadt-Kranichstein: Bei aller Unterschiedlichkeit in Konzeption und Formensprache erscheinen sie vom gleichen, ungebrochen optimistischen Geist getragen, der für das Jahrzehnt zwischen 1960 und 1970 so bezeichnend war: technologieaffin, fortschrittsgläubig und megaloman. Heute muten die Bauten und Siedlungen, aber auch die Modelle und Zeichnungen wie Relikte einer fernen Zeit an, die man halb skeptisch, halb neidisch um ihre von Fragen nach Maßstäblichkeit, Nachhaltigkeit oder sogar Realisierbarkeit unbeschwerte Kreativität bestaunt."

Der amerikanisch-chinesische Architekt und Pritzker-Preisträger I. M. Pei ist gestorben, meldet die Welt. Ein ausführlicher Nachruf findet sich in der New York Times. Der Guardian zeigt Fotos seiner bekanntesten Bauten, darunter die Glaspyramide des Louvre und die Wendeltreppe des Deutschen Historischen Museums in Berlin.
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Bühne

Die nachtkritik will ab heute abend bis Montag abend jeweils um 23 Uhr eine Aufzeichnung der Generalprobe von Ersan Mondtags "Das Internat" zeigen (das Stück kann wegen technischer Schwierigkeiten nicht beim Theatertreffen gezeigt werden).

Besprochen werden Antú Romero Nunes' Inszenierung von "Max und Moritz" bei den Ruhrfestspielen (SZ), eine Ausstellung zum Wiener Staatsballett im Theatermuseum Wien (Standard) und Andreas Wilckes Filmdoku über die letzte Spielzeit von Frank Castorf an der Berliner Volksbühne (Tagesspiegel),
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Film

Die Goldene Palme im Visier: Udo Kier in "Bacurau"


In Cannes kommt der Wettbewerb derzeit "noch schwergängig auf Betriebstemperatur", schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel - und tatsächlich hört man derzeit noch nicht so richtig viel von der Croisette. Liegt es wirklich an den verschobenen Presseterminen, die Hanns-Georg Rodek in der Welt kritisierte? Ladj Lys Wettbewerbsfilm "Les Misérables" hat immerhin "eine ungebremste Energie, der in den besten Momenten nicht einmal das arg konventionelle Drehbuch etwas anhaben kann", und auch Kleber Mendonça Filhos im Weltall angesiedelter brasilianischer Neo-Western "Bacurau" kann Busche - trotz Udo Kier, der als amerikanischer Tourist mit Schießgewehr auf Menschenjagd geht - nur halb überzeugen: "Zu unentschieden zwischen Politparabel und den Gewaltexzessen eines Quentin Tarantino entwickelt 'Bacurau' selten ein Gefühl für seine Figuren oder den richtigen Rhythmus eines Thrillers." Immerhin: "Im Wettbewerb um den schönsten geplatzten Kopf kann ihm auch Jarmuschs Zombiefilm nicht das Wasser reichen." Taz-Kritiker Tim Caspar Boehme schätzt diesen eigensinnigen Film ein bisschen mehr: "Trotz des schwarzen Humors lassen die düster-apokalyptischen und gewalttätigen Elemente der Handlung einem beim Gedanken an den neuen Präsidenten Brasiliens, Jair Bolsonaro, allerdings das Lachen im Hals stecken. Großes, rätselhaftes Kino."

Voodoo-realistisches Drama: "Atlantque"

Verrätselt angesichts einer sehr speziellen Film-Melange ist auch SZ-Kritikerin Susan Vahabzadeh in ihrem Bericht, kommt aber im Weiteren auf Mati Diops "Atlantique" zu sprechen, den uns Rüdiger Suchsland bereits allerwärmstens empfohlen hatte: Der in Dakar spielende Film über nicht bezahlte Arbeitslöhne, Frauenversammlungen und Fluchtvorhaben bewegt sich mit fortlaufender Spielzeit "ins Reich der Mythen, wo die Geister der Entrechteten ihre Peiniger heimsuchen, die Ertrunkenen zurückkehren, um offene Rechnungen zu begleichen. Das ist ein im wahrsten Sinne des Wortes fantastischer Ansatz, von der Flüchtlingsproblematik zu erzählen. Aber es sind ein paar Webfehler zu viel in Mati Diops großartig gefilmter Geschichte, die es einem schwer machen, zu unterscheiden zwischen Realität und Geisterwelt." Von einem "voodoo-realistischen Drama" oder einem "doku-übernatürlichen Mysteryfilm" spricht Peter Bradshaw im Guardian. Weitere Kritiken auf critic.de und bei Kinozeit. Außerdem twittern Jenny Jecke und Beatrice Behn fleißig vom Festival.

Weiteres: Elena Erdmann verabschiedet sich auf ZeitOnline von der Serie "The Big Bang Theory". Besprochen werden Nikolaus Geyrhalters Essayfilm "Erde" (Presse, unsere Kritik hier), der Psychothriller "Greta" mit Isabelle Huppert (Tagesspiegel, Welt, Filmbulletin), Florian Heinzen-Hiobs Dokumentarfilm "Klasse Deutsch" (Berliner Zeitung) und John R. Leonettis Horrorfilm "The Silence" (Presse).
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Literatur

Die Feuilletons trauern um Wiglaf Droste, der im Alter von 57 Jahren in der Fränkischen Schweiz gestorben ist. Den schönsten Nachruf schreibt Friedrich Küppersbusch online bei der taz: "Droste kam, dafür gibt es Augenzeugen, nachweislich als Mensch zur Welt. Und stellte sich fortan der ungleich schwierigeren Aufgabe, das auch zu bleiben. ... Und zugleich bestaunte man die jähe Wut, die aus Droste hervorbrach, wenn der Rest der Welt gesinnungsgemütlich im Eigenmief dämmerte. Er war eben kein Kirmesschläger, der sich vom Gaudium des Publikums zum Schlachtfest anstacheln ließe. Wo andere zaghaft ein Fenster spaltbreit öffnen, sprang er hindurch, und was dann hinterher blutet, ist nicht selten er selbst. Warum er das tut - Gewalt wittert, wo andere noch schunkeln; gewaltig austeilt, wo der sanfte Ordnungsruf als Hochliteratur gilt - das wurzelt in Wiglafs Wissen um Verletzung."

Dass Droste ein "taz-Dissident" gewesen sei, wie Küppersbusch schreibt, kann man so aber nicht stehen lassen - denn seine Interventionen in der taz gefielen vor allem stets der Betonfraktion im Blatt. Droste verachtete die "Realos" im Blatt und die wirklichen Dissidenten, die aus der DDR, aus tiefster Seele (Anmerkung von ex-tazler und Perlentaucher Thierry Chervel.)



Als "Meister der kleinen Form" behält SZ-Autor Gustav Seibt den Verstorbenen in Erinnerung: Er war ein Sprachbeobachter mit "scharfem Blick auf gesellschaftliche Praktiken, in denen Mitarbeiter 'gut aufgestellt' zu sein haben, um 'zeitnah' und 'zielführend' agieren zu können, gehetzt von rollkofferbollernden und mobiltelefonbrüllenden Managementbarbaren. Dabei mobilisierte Droste die autoerotische Sprachlust ungebremsten Schimpfens ebenso wie das raue Gelächter über öffentlichen Schwachsinn. Wer sich daran erfreuen wollte, musste keine einzige seiner Ansichten teilen, um doch gebannt zu werden von Sprachklang, Satzmelodien und Witz dieses perfekten Handwerkers. Aber meistens hatte er ja recht." Im Dlf Kultur erinnern sich der Satiriker Rayk Wieland (hier) und Drostes Verleger Klaus Bittermann (dort) an den Verstorbenen. Weitere Nachrufe: Ambros Waibel in der taz (hier), Hans Zippert in der Welt (hier), Arno Frank auf SpOn (hier), Kai Müller im Tagesspiegel (hier).

Weitere Artikel: In der NZZ rät Roman Bucheli zu Gedichten als Mittel gegen den Klimawandel. Besprochen werden unter anderem Barbara Honigmanns "Georg" (Standard) und Gilbert Carrs "Demolierung - Gründung - Ursprung: Zu Karl Kraus' frühen Schriften und zur frühen Fackel " (FAZ).
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Musik

"I Am Easy to Find" ist nicht nur das neue Album von The National, sondern auch ein Kurzfilm mit Alicia Vikander von Mike Mills, zu dem das gleichnamige Album die Musik stellt. Die Band ist eben "eines der letzten Lebensgefühle, die es noch gibt in der Rockmusik", erklärt Daniel Gehardt auf ZeitOnline, der das Album allerdings nicht ohne Vorbehalte genießt: Erstmals ist ein Album der Band zu lang geraten, "nicht zuletzt, weil sie diesmal einige Songs loswerden wollte, die seit Längerem ohne passenden Verwendungszweck herumlagen. Es ist aber auch deshalb mehr National-Musik als je zuvor, weil sich Aaron und Bryce Dessner in neue orchestrale Höhen aufschwingen, Grenzen verwischen zwischen Kammermusik und Stadionrock und durch kurze Zusammenarbeiten mit befreundeten Musikern (darunter der Berliner Techno-Thinktank Mouse on Mars) eine enorme Detailfülle in die Songs einschleusen. Aufregend außerdem für Ultrafans: Zahlreiche überwiegend weibliche Gastsängerinnen unterbrechen diesmal den ewigwährenden Berninger-Monolog." Weitere Besprechungen im Tagesspiegel und auf SpOn.



Der Eurovision Song Contest war anfangs vor allem eine Werbemaßnahme für das Fernsehen als neues Medium, erklärt Jan Feddersen im Rückblick auf die Geschichte des Schlagerwettbewerbs in der taz. Zur Gründung in den 50ern gab es da auch politische Empfindlichkeiten: "Dass die Bundesrepublik elf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg mitmachen durfte, war eine Geste des Goodwill ihrer Nachbarn. Kein Wunder, dass die Kandidat*innen der ARD bis 1970 kaum einen Blumenpott mit nach Hause nahmen: Deutsche Beiträge waren, von ihrer Altbackenhaftigkeit abgesehen, schon qua Jüngstgeschichte nicht besonders sympathieverdächtig. Der Reflex nach einem ESC war meist der gleiche: Schnitt ein Land schlecht ab - sehr oft: Norwegen, Finnland, Österreich, die BRD -, forderten die jeweiligen Medien am Montag nach der Show sogleich die Abschaffung des ESC, warfen den anderen Ländern Ignoranz vor oder grübelten über die Fragen, ob man keine Freunde in Europa habe."

Weitere Artikel: Andreas Borcholte spricht auf SpOn mit Holly Herndon über deren neues, mit Algorithmen und KI produziertes, in der Berliner Zeitung besprochenes Album "Proto" (mehr dazu bereits hier). Besprochen werden ein Konzert von Planningtorock (taz, SZ), das neue Album von Rammstein (taz, Freitag, mehr dazu hier und dort), ein Beethoven-Konzert des Tonhalle-Orchesters unter David Zinman (NZZ), Joe Lovanos Konzert im Berliner Pierre Boulez Saal (Tagesspiegel) und Mark Knopflers Berliner Auftritt (Welt).
Archiv: Musik