Efeu - Die Kulturrundschau

Wahre Schönheit liegt im Insekt

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.04.2019. In der NZZ erkundet Gabriel Zimmer die innere Verbindung von Dichtern und Spitzensportlern. Die SZ folgt dem Bauhaus auf der Seidenstraße nach Krefeld. In der taz fragt der Filmverleiher Jakob Kijas, wer Jugendlichen heute eigentlich noch Cinephilie vermittelt. Die taz erinnert auch an die vor fünf Jahren getötete Fotografin Anja Niedringhaus. Der Standard erkennt in Peter Doig den Gauguin der Gegenwart. Außerdem trauern die Feuilltons um die Schauspielerin und Bergman-Ikone Bibi Andersson.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.04.2019 finden Sie hier

Kunst

Anja Niedringhaus: Bilderkriegerin. Ausstellungsplakat des Käthe-Kollwitz-Museums in Köln

In der taz schreibt die frühere Fotoredakteurin Gunda Schwantje über die erste posthume Einzelausstellung der Fotografien Anja Niedringhaus im Käthe Kollwitz Museum in Köln. Schwantje lässt auch die AP-Reporterin Kathy Gannon zu Wort kommen, die bei dem Attentat auf Niedringhaus in Kabul schwer verletzt wurde, jetzt aber wieder in Afghanistan arbeitet: "'Kein Verrückter mit einer Waffe wird für mich entscheiden, ob ich arbeite, wie ich arbeite, wann ich arbeite. Ich spüre dieselbe Dankbarkeit, in der Lage zu sein, die Geschichten der Menschen zu hören. Ich betrachte die Menschen nicht anders als früher. Davor hatte ich Angst', sagt sie. 'Afghanen, Pakistaner, Deutsche: Man definiert sie nicht durch die Verrückten unter ihnen, sondern durch die Masse. Afghanen sind wirklich wundervolle Leute. Pakistaner und Deutsche sind es. Ich werde keiner verrückten Person erlauben, eine Nation zu definieren. Und Anja ist die ganze Zeit präsent. Ich vermisse sie schrecklich.'"

Peter Doig: Lion in the Road (Sailors), 2019, Ausstellungsansicht Secession 2019, Foto: Hannes Böck, Courtesy the artist and Michael Werner Gallery, New York and London / Bildrecht Wien

Im Standard feiert Michael Wurmitzer eine Schau des in Trinidad lebenden schottischen Malers Peter Doig in der Wiener Secession: "Peter Doig wirkt wie ein Paul Gauguin der Gegenwart. Mit seinem Lebensmittelpunkt entzieht er sich der Kunstszene ein Stück weit. Er bietet dem westlichen Kunstmarkt keine Gender- und Medienkritik, keine Kapitalismus- und Selbstreferenzen, sondern zeigt das Fremde. Was schimmert da in der Ferne am Horizont? Es ist die Gefängnisinsel Carrera. Die Szenen umweht ein Hauch von Animismus und Voodoo."

Besprochen werden die große Schau "Baselitz Richter Polke Kiefer" über die jungen Jahre der Alten Meister in der der Stuttgarter Staatsgalerie (FR), Ausstellungen zu Bauhaus-Porzellan im Staatliches Museum für Porzellan in Hohenberg und im Rosenthal-Werk in Rotbühl/Selb (FAZ), und eine Schau von Tish Murtha, Benita Suchodrev und "Distant Islands zur Gegenwart in Großbritannien im Willy-Brandt-Haus in Berlin (Tsp).
Archiv: Kunst

Film

Im Interview mit der taz erklärt der Filmverleiher Jakob Kijas, was es mit dem von ihm mitbegründeten Hauptverband Cinephilie auf sich hat, der mit einem ersten Arbeitstreffen vor wenigen Tagen die Arbeit aufgenommen hat. Mit dem Verband wolle man gezielt Filmschaffende, Verleiher, Kinos und Kritiker an einen Tisch bringen und mit gemeinsamer Stimme sprechen lassen, erklärt Kijas. Außerdem fordere man Förderungen: "Der Jugend wird nicht beigebracht, Film zu lesen und Film als Kunstform wahrzunehmen. Das heißt, dass die Filme, die die Kollegen aus Nürnberg oder ich herausbringen, an diesen Leuten vorbeigehen. ... Es braucht eine institutionelle Förderung zum Beispiel für Kinos, wenn sie bewiesen haben, dass sie in den letzten drei Jahren ein herausragendes Kinoprogramm gemacht haben. Ähnlich bei Verleihern. Hier ist es von Film zu Film abhängig, ob man eine Förderung bekommt oder nicht. Das wäre auch für Verleiher wie Grandfilm oder uns oder andere eine Hilfe, zu wissen, wir können diese oftmals schwierige Arbeit mit einer gewissen Sicherheit im Rücken ausführen."

Christiane Peitz (Tagesspiegel) und Jürg Zbinden (NZZ) schreiben Nachrufe auf die Schauspielerin Bibi Andersson, die mit Ingmar Bergmans Drama "Persona" in die Filmgeschichte eingegangen ist, wie Tobias Kniebe in der SZ festhält: "Bibi Andersson war eine der Frauen in diesem obsessiven Projekt, die Bergman verehrte und benutzte und vergötterte und überhöhte, bis sie unter dem liebevoll-gnadenlosen Blick seiner Kamera Wahrheiten in sich fanden, von denen sie selbst noch nichts ahnten." Unvergesslich ist diese Szene, in der sie Liv Ullmann von einer erotischen Begegnung am Strand berichtet:



Weitere Artikel: Für den Standard unterhält sich Dominik Kamalzadeh mit dem Filmemacher Julian Schnabel über dessen Van-Gogh-Film. Silvia Hallensleben berichtet in der taz vom Internationalen Frauenfilmfestival in Dortmund/Köln, das sich in diesem Jahr erstmals unter der neuen Leiterin Maxa Zoller präsentierte.

Besprochen werden die erste Folge der letzten Staffel von "Game of Thrones" (ZeitOnline, Welt), die vom Ersten online gestellte Doku "Deniz Yücel. Wenn Pressefreiheit im Gefängnis landet" (ZeitOnline), Andreas Goldsteins Porträtfilm "Der Funktionär" über seinen Vater Klaus Gysi (Freitag, mehr dazu hier), Ali Abbasis "Border" (Jungle World, unsere Kritik hier), Jasmin Herolds und Michael Beamishs Fracking-Dokumentarfilm "Dark Eden" (SZ) sowie Marco Kreuzpaintners "Der Fall Collini" (Berliner Zeitung).
Archiv: Film

Architektur

Ludwig Mies van der Rohe: Färberei- und HE-Gebäude, Verseidag 1930. Bild: Projekt MIK

Das Bauhaus fand im Osten Deutschlands statt, in Weimar, Dessau und Berlin, im Westen hat es nur wenige Spuren hinterlassen. Die große Ausnahme ist Krefeld. Hier baute Ludwig Mies van der Rohe seinen einzigen Industriebau (für die Vereinigten Seidenwebereien) und das Villenpaar Haus Lange und Haus Esters. Das Bauhaus war eng verflochten mit der Textilindustrie am Niederrhein, wie SZ-Autor Alexander Menden in der Krefelder Ausstellung "Bauhaus und Seidenindustrie" lernt: "Gunta Stölzl, später erste Bauhaus-Meisterin und Leiterin der Weberei, hospitierte etwa an der Krefelder Färberei- und Weberschule. Die deutsche Samt- und Seidenindustrie wollte sich nach dem Ersten Weltkrieg stärker von der dominanten französischen Konkurrenz absetzen. Der Branchenverband mit Hauptsitz in Krefeld beschäftigte Bauhäusler nicht nur zur Ausbildung des Nachwuchses und bei der Gestaltung von Stoffen. Besonders Mies van der Rohe und Lilly Reich trugen zum internationalen 'Branding' bei, indem sie spektakuläre Ausstellungsarchitekturen entwarfen: das Café 'Samt und Seide' bei der Berliner Ausstellung 'Die Mode der Dame' 1927 und den Beitrag der deutschen Seidenindustrie zur Weltausstellung 1929 mit Mies' berühmtem 'Barcelona-Pavillon'."

Weiteres: Die Architektur der Hudson Yards ist schon furchtbar genug, meint Zachary Small auf Hyperallergic, noch schlimmer sei allerdings ihre Finanzierung: Mit Visaprogrammen für superreiche Ausländer und insgesamt 1,2 Milliarden Dollar öffentlichen Geldern.
Archiv: Architektur

Literatur

In einem schönen, knappen aber dichten Essay in der NZZ erklärt Gabriel Zimmer, warum Spitzensportler, Dichter und andere Wortkünstler durchaus wesensverwandt sind: "Muhammad Ali und Sokrates beherrschten beide den Tanz des Schmetterlings und der Biene. Zwei Menschen aus Fleisch, Blut und Geist, und doch beide seltsam entrückt aus dieser Welt, weil zum Symbol geworden, zur Momentaufnahme, die etwas Einmaliges einfängt. Wahre Schönheit liegt im Insekt. ... Wir sprechen von der Tagesform eines Spielers, von der Formvollendung eines Gedichts - man merkt darin schon, dass es um nichts Starres geht. Nicht nur um die Anordnung von Inhalt, sondern um dessen Lebendigkeit. Eine Mischung aus Regelbefolgung und Regelbruch, darin entfaltet sich das Spiel aus Körper oder Sprache."

Weitere Artikel: Für die NZZ hat Tobias Sedlmaier das Literaturfestival in Ascona besucht. In seiner "Lahme Literaten"-Kolumne in der Jungle World knöpft sich Magnus Klaue diesmal Reinhard Jirgl vor. Tor.com meldet den Tod des hierzulande fast nur Insidern bekannten, in den USA aber als anspruchsvoller Literat gefeierten Science-Fiction- und Fantasy-Autors Gene Wolfe, den der New Yorker vor wenigen Jahren in einem Porträt als "das schwierige Genie der Science-Fiction" würdigte.

Besprochen werden unter anderem Oleg Senzows "Leben - Geschichten" (Standard), Jonathan Robijns Krimi "Kongo Blues" (Freitag), Tana Frenchs Krimi "Der dunkle Garten" (Freitag), Nell Zinks "Virginia" (Standard), Ulrike Draesners "Eine Frau wird älter" (SZ), Karel Čapeks Glossensammlung "Seltsames England" (NZZ) und Louise Erdrichs "Der Gott am Ende der Straße" (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Bühne

Eine Atmosphäre wie in Martin Scorseses "Taxi Driver", aber auch einen Hauch von "Cosi fan tutte" spürte Standard-Kritiker Ljubisa Tosic in Claus Guth "Orlando"-Inszenierung im Theater an der Wien, die Händels Soldatenoper in die unheroische Gegewart verlegt: "Da ist rhetorische Prägnanz wie auch Noblesse. Trotz Schönklang ist da präzise Ausgestaltung der Strukturen." Als absolut verrückt, wunderbar gesungen, aber auch ein bisschen unverständlich beschreibt Niklaus Hablützel in der taz Dmitri Tcherniakovs "Verlobung im Kloster", die an der Berliner Staatsoper aus Prokofjews Opernkomödie eine Therapiesitzung für anonymer Opern-Abhängige macht.

Besprochen werden zudem Verdis "Otello" von Robert Wilsson und Zubin Mehta bei den Osterfetspielen in Baden-Baden (NZZ, Tsp, FAZ), Manuel Bürgins Inszenierung von Konstantin Küsperts Stück "Sterben helfen" am Theater St. Gallen (die Daniele Muscionico in der NZZ als Meisterreich feiert).
Archiv: Bühne

Musik

Terry Riley ist auch mit 83 Jahren noch vergnügt aufgelegt, erfahren wir aus Franziska Dürmeiers großem SZ-Porträt über den Impro-Musiker, der seit einiger Zeit gemeinsam mit seinem Sohn Gyan auftritt. Auf der Bühne funktioniert das Duo sichtlich gut: "Von einem Moment auf den anderen fließt die Musik, fließen die Melodien, mit einer Selbstsicherheit, die sich aus jahrzehntelanger Auftrittserfahrung speist. Elemente von Jazz, indischer Musik, Klassik und Minimal verschmelzen, Terry wechselt mehrmals zwischen Flügel, Synthesizer und Melodica, spielt zwischendurch über eine App auf seinem Tablet, singt Ragas. ... Vorbereitung irgendeiner Art brauche er grundsätzlich nicht. 'Ich warte einfach, bis es los geht. Sobald ich auf die Bühne komme, finde ich Musik.'"

Weitere Artikel: Deniz Utlu porträtiert im Tagesspiegel die Londoner Popmusikerin Nilüfer Yanya. Besprochen werden ein Auftritt von Soap & Skin (Tagesspiegel) und neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine Schubert-Aufnahme von András Schiff (SZ). Eine Hörprobe:

Archiv: Musik