Efeu - Die Kulturrundschau

Im Guerilla Style

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27.03.2019. Die NZZ taumelt durch das neue New Yorker Milliardärsviertel Hudson Yards, bis sie sich am Burger-Food-Truck der Veteranen niederlassen kann. Der Standard verabschiedet sich von Andrea Breth, die nach zwanzig Jahren das Burgtheater verlässt. Die syrische Autorin Rabab Haidar streift auf ZeitOnline durch ein Damaskus der Kriegsversehrten. Die SZ erhebt sich mit Lee Ufan im Metzer Centre Pompidou gegen die Zivilisation des Überflusses. Die FAZ warf bei der Maerzmusik Knallerbsen. Und das Filmbulletin erinnert an Larry Cohen und sein erstklassiges B-Movie "Black Caesar".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.03.2019 finden Sie hier

Architektur

Arme sind auch erwünscht: In den Hudson Yards in New York

Die Hudson Yards in New York sind als neues Milliardärsviertel reichlich verteufelt worden, als Blase für Supperreiche, als Tummelplatz für Hedgefonds, Blackrock und L'Oreal. In der NZZ findet Sarah Pines das Ganze gar nicht so schlimm. Erstens sei das Einkaufszentrum viel luftiger als andere New Yorker Kaufhäuser. Und zweitens stehe es allen offen: "Die sinnlosesten Superlative des ökonomischen Wahnsinns finden anderswo statt. Am Südrand des Central Park beispielsweise wurde in den Slim Towers unlängst das mit 238 Millionen Dollar teuerste Penthouse der USA verkauft. Im Gegensatz zu solchen megalomanischen New Yorker Exzessen gleichen die Hudson Yards dem Rockefeller Center. Beides sind Orte, an dem die Öffentlichkeit präzise kalkuliert und ausdrücklich erwünscht ist - auch das Rockefeller Center ist begehbar, davor sind Cafés, im Winter die Eisbahn mit Weihnachtsbaum. Die U-Bahn fährt direkt an die Vessel heran. Der Park ist für alle, die Geschäfte ohnehin, es gibt einen Burger-Food-Truck der Veteranen (ergo: 'Arme' sollen hier auch verweilen können) und eine Aussichtsplattform - eine Vorrichtung, die vielen anderen Hochhauskomplexen abhandenkommt: Dort nämlich gibt es kein Außen mehr, keine Plattform, keine einsehbare Lobby. Dort haben sich die Reichen abgewendet."
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Kunst

Peinture à l'eau sur les pierres, 1998, Vallée Hakone © Atelier Lee Ufan

Feinsinnig und diskret, aber durchaus einflussreich nennt Joseph Hanimann in der SZ das Werk des koreanischen Künstlers Lee Ufan, dem das Centre Pompidou Metz eine große Schau widmet: "Unter den Fortsetzern der Minimal Art ist der Koreaner Lee Ufan der wohl radikalste. Vielleicht auch der Nachhaltigste. Die extreme Verknappung seiner Gestaltungsmittel Farbe, Glas, Stahl, Stein, Watte erweist sich als Einspruch nicht nur gegen allzu üppige Bilderwelten, sondern gegen eine Zivilisation des Überflusses schlechthin. Dadurch schlägt bei ihm jede Retrospektive in eine Art Manifest um."

Die bereits in London und Paris gezeigte Schau "On the Wall" über das Verhältnis der bildenden Kunst zu Michael Jackson als Ikone lässt sich nun, da sich nach den Eindrücken der HBO-Doku "Leaving Neverland" in der Bundeskunsthalle Bonn Station macht, kaum mehr unbefangen ansehen, schreibt Johannes Franzen auf ZeitOnline. Manuel Brug machte die Ausstellung als Zeugnis eines maßlosen Personenkults dagegen ebenso wütend wie traurig, wie er in der Welt schreibt.

Besprochen werden eine Isa-Genzken-Schau in der Kunsthalle Bern (NZZ), eine van-Gogh-Ausstellung in der Tate Britain (Guardian), die Schau "The Joy of Nature", die dafür Vincent van Gogh und David Hockney im Van Gogh Museum in Amsterdam zusammenbringt (Hyperallergic), die Tutenchamun-Blockbusterschau in Paris (Tsp) und eine Ausstellung des in Berlin lebenden syrischen Künstlers Ammar al-Beik (Tsp).
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Bühne

Margarete Affenzeller verbeugt sich im Standard vor Andrea Breth, die nach zwanzig Jahren das Burgtheater verlässt und eine ausgesprochene Schauspiel-Regisseurin war: "Den Grad der Verletzlichkeit, dem Schauspielerinnen und Schauspieler während der Probenzeit unterliegen können, hat Andrea Breth einmal anatomisch beschrieben: Sie laufen mit offenen Fontanellen herum!" In der FAZ plädiert die Schriftstellerin Nino Haratischwili dafür, wieder Hans Henny Jahnns düstere Bearbeitung der "Medea" auf die Bühne zu bringen: "Das Stück zwingt uns, in das Gesicht der Barbaren zu blicken, nämlich in unser eigenes. Denn wie Jahnn selbst zu sagen pflegte: 'Wir Menschen sind alle durch die Menschheit gegangen, durch ihr Blut...'" Außerdem meldet die Nachtkritik, dass der Regisseur Ersan Mondtag für seine Dortmunder Produktion "Das Internat" beim diesjährigen Theatertreffen in Berlin den 3sat-Preis erhalten soll, dort aber gar nicht gezeigt werden kann: Das Bühnenbild ist so aufwändig, dass keine Spielstätte gefunden werden konnte.

Besprochen werden Stefan Bachmanns Shakespeare-Blend "Rom" am Hamburger Thalia Theater (bei der sich SZ-Kritiker Till Briegleb vor allem für den Schauspieler Thomas Niehaus begeistert), Aribert Reimanns "Medea" am Aalto-Theater Essen (NMZ) und David Littles Kennedy-Oper "JFK" in Augsburg (NMZ).
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Literatur

Die ZeitOnline-Serie "10 nach 8" bringt einen Brief der Schriftstellerin Rabab Haidar aus Damaskus - ihr letzter Text aus der Stadt, bevor sie dank eines Stipendiums nach Deutschland gekommen ist. Es ist eine Momentaufnahme aus einer vom Krieg erschütterten Stadt: Die Straßen "sind voll mit Kriegsversehrten: Halblebendige, Halbüberlebende und Halb-'Gott-sei-Dank-es-geht-schon'-Leute. Man sieht so viele Leute um sich herum, dass man denkt, alle seien lieber im Freien als zu Hause. ... Uns Frauen geht es jedenfalls gut hier. Wir lecken unseren Männern die Köpfe und unsere Männer lecken ihre Furcht. Ich habe mir vor Kurzem verboten, zu schreien. Vorher habe ich mir schon das Weinen verboten. Ich habe meinen Augen beigebracht, wie man Tränen herunterschluckt. Augen auf und Tränen runter, runterschluckennnnnnnn! Ich schreibe und zerreiße, was ich geschrieben habe, und schreibe es neu."

Die taz hat Schriftstellerinnen und Schriftsteller nach einer Einschätzung der Herausforderungen angesichts von Rechtsruck und Rechtspopulismus für die Literatur gebeten. Geantwortet haben Manja Präkels, die Geschichten von Menschen sammelt, die mit dem Rechtsradikalismus der frühen 90er umgehen mussten, Thomas Wagner, der sich fragt, warum er politisch nicht rechts ist, aber rechte Texte liest, Jörg-Uwe Albig, der sich fragt, welche Belastungen der Psyche mit rechtem Denken einhergehen, und die Lyrikerin Sandra Gugić, die auf das Politische der Kunstgattung beharrt: Denn "das Politische ist dem Poetischen immer inhärent, als innerer Widerstand, der jedes Wort treffen muss, gegen Erwartungshaltungen, gegen gewohntes Denken, gegen gelernte Strukturen und Muster, gegen die Einordnung von Realität, als close reading des Geschriebenen und als Beschreibung gesellschaftlicher Soll- und Ist-Zustände. Literatur, die Verantwortung übernimmt."

Weitere Artikel: Angesichts des Chaos um den Brexit hat die FAZ Schriftstellerinnen und Schriftsteller um Texte über ihre England-Bilder gebeten, unter anderem antworteten Sibylle Lewitscharoff, die von David Bowie und Lewis Caroll schwärmt, und Jaroslav Rudiš, der sich an von The Cure, The Clash und Nachrichten aus dem Westen durchtränkte BBC-Abende in der Tschechoslowakei erinnert. Im Dlf Kultur stellt Jule Hoffmann den russischen Comickünstler Georgy Elaev und die russische Comicsczene vor. Für Tell Review unterzieht Sieglinde Geisel Anke Stellings "Schäfchen im Trockenen" dem berüchtigten Page-99-Test. Die Literaturwissenschaftlerin Sarah Bärtschi, die an der Berner Humboldt-Ausgabe mitarbeitet, schreibt in der NZZ über Alexander von Humboldts Tierstudien. Johan Schloemann berichtet in der SZ von einer Marbacher Tagung zum Verhältnis der Deutschen zur Rhetorik.

Besprochen werden unter anderem Aslı Erdoğans "Haus aus Stein" (Zeit), Wendell Berrys Essayband "Die Erde unter den Füssen" (NZZ), Cécile Oumhanis "Tunisian Yankee" (Tagesspiegel), Johan Harstads "Max, Mischa und die Tet-Offensive" (Dlf Kultur), Stewart O'Nans "Stadt der Geheimnisse" (NZZ) und Stephen Parkers Brecht-Biografie (SZ).
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Film

Zum Tod von Larry Cohen hat das Filmbulletin ein 2013 geführtes Interview mit dem B-Movie-Regisseur und Drehbuchautor online gestellt. Unter anderem geht es um seinen Blaxploitation-Film "Black Caesar", den er in den frühen 70ern ohne Drehgenehmigung und teils mit echten Gangstern auf den Straßen New Yorks im Guerilla-Stil filmte. Heute wäre das nicht mehr möglich, "zumindest könnte man nicht so mit Waffen hantieren wie damals. Heute gibt es überall Videoüberwachung und Polizeipräsenz, dadurch liefe man Gefahr, erschossen zu werden. ... Das waren wundervolle Zeiten, aber sie sind nun einmal vorbei. Seit den Terroranschlägen geht so etwas nicht mehr - der Terrorismus hat das Filmemachen im guerilla style unmöglich gemacht." Ein paar Szenen aus dem Film:



Besprochen werden Harmony Korines "The Beach Bum" mit Matthew McConaughey als langhaarigem Strandphilosophen (Berliner Zeitung, FAZ), Tim Burtons "Dumbo"-Neuverfilmung (Welt), "Ein Gauner und Gentleman" mit Robert Redford (SZ), Sebastian Winkels Dokumentarfilm "Talking Money" (critic.de), Robert Zemeckis "Willkommen in Marwen" (ZeitOnline) und die Amazon-Serie "Hanna" (FAZ).
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Musik

Große Freude hatte FAZ-Kritikerin Christiane Tewinkel beim Maerzmusik-Abend mit Jennifer Walshe, M.C. Schmidt und dem Philosophen Timothy Morton: "Man schritt gemeinsam vor und zurück durch das rätselhafte Gebilde 'Zeit', warf Knallerbsen und tanzte, dachte laut über die Konzeptionierung von Temporalität nach, das Meer, das Wetter oder teure Uhren, die Anfänge der Erde und das praktische Vor-Erleben von Trauer." Dazu "liefen Walshes Videos mit keimenden Samen, Dinosauriern aus Plastik, einem Eisprung-Computer und Experimenten zur Arbeitsorganisation. Erfüllte Zeit!"

Weitere Artikel: In der Jungle World berichtet Tal Leder von den Vorbereitungen in Tel Aviv auf den European Song Contest. Für Pitchfork spricht Camille Dodero mit Sky Ferreira über deren anstehendes Comeback nach sechs Jahren Albumpause. Sehr beglückt berichtet Katharina Granzin in der taz vom Alte-Musik-Festival Aequinox in Neuruppin. Im "Remain in Light"-Blog des Standard erinnert Karl Fluch an Dusty Springfields "Dusty in Memphis". Ein schönes Partikel Popgeschichte: Auf Electronic Beats erinnern sich junge britische Soldaten aus den 90ern in Bild und Wort, wie sie seinerzeit Berlins aufblühende Technoszene für sich entdeckten. In der Spex schreibt Hendrik Otremba einen Nachruf auf Scott Walker (mehr dazu im gestrigen Efeu).

Besprochen werden eine Edition von Wilhelm Furtwänglers während der Weltkriegsjahre entstandenen Rundfunkaufnahmen, die Helmut Mauró in der SZ zum Anlass nimmt, ausführlich über Furtwänglers Verhältnis zum "Dritten Reich" nachzudenken (SZ), Flo Haylers Buch über die Ramones (taz), ein in Österreich startender Dokumentarfilm über den Musikkritiker und Komponisten Walter Arlen (Standard), ein Abend mit Rachel Harnisch (NZZ), Kitty Solaris' Auftritt im Berghain (taz) und neue Popveröffentlichungen, darunter die erste Vinyl-Edition von Marvin Gayes "You're the Man"-Aufnahmen aus dem Jahr 1972 (SZ).
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