Efeu - Die Kulturrundschau

Vor Rembrandts Licht erschauern

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11.03.2019. Die Mode hat die Eleganz wieder entdeckt, erkennt die SZ in Paris und packt ihre Balenciaga-Turnschuhe in den Schrank. Der Laufsteg führt junge Frauen übrigens schon lange nicht mehr in den Olymp des Glamours, weiß die NZZ, nur noch der Nepotismus. In der Berliner Zeitung zeigt sich Christoph Hein erleichtert, nicht mehr in der Rolle des Mahners überfordert zu werden. Der Standard misstraut dem neuen Trend zum spektakulären Doppel in Gemäldegalerien. Und die FAZ erlebt mit Nathalie Djurberg in der Schirn das nackte Grauen vor Kinderschändertapete.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.03.2019 finden Sie hier

Design


Shock and Awe: I  Herbst 2019 wird wieder Eleganz getragen, verkündet Hedi Slimane. Foto: Celine.

Die Modewelt hat die Eleganz wiederentdeckt, berichtet Tanja Rest in der SZ, selbst noch ein wenig ungläubig von den Pariser Modeschauen. Bei den Herbstkolletionen gab es schöne Mäntel und Hosenröcke. Streetwear und Turnschuhe sind ausrangiert. Das kommt einer Vollbremsung gleich, staunt Rest: "Die Party ist vorbei. Der europäische Markt nahezu tot, die Luxusbranche hängt seit Jahren am Tropf von China, und selbst dort sprudelt das Geld nicht so munter wie erwartet. Frivole Experimente kann sich kein Haus mehr leisten. Es hat - und das ist neu - aber auch keiner mehr Lust auf Party. Man muss sich vorstellen: An den Pariser Laufstegen sitzen Menschen, die Mode nicht nur lieben, sondern atmen, und sie kriegen inzwischen kaum noch Luft. Jeden Monat eine Fashion Week irgendwo auf der Welt, jede Woche eine neue Capsule Collection, jeden Tag ein anderer Hype, eine andere schreiende Klamotte, ein anderer Influencer und ein paar Tausend Instagram-Bilder pro Stunde. Designer wechseln schneller als die Trainer beim VfB Stuttgart. Wie heißt das neue Kreativ-Duo bei Nina Ricci, wer macht jetzt eigentlich Lanvin? Keiner wusste es, keinen interessierte es. Die Modemenschen waren von der Mode diesmal wirklich unglaublich erschöpft."

Trotz aller feministischer Kritk an "Germany's Next Top Model", Schönheitszwang und anderen Zumutungen: Für viele junge Frauen ist es noch immer ein Traum, Model zu werden, stellt Antje Stahl in der NZZ fest. Ein Grund: Noch immer lockt die Modeindustrie mit der Aussicht darauf, vor dem grauen Alltagsmuff in den "gesellschaftlichen Olymp" fliehen zu können. Allerdings klaffen in diesem emanzipatorischen Narrativ längst Risse, der Nepotismus der Schönen und Reichen ist im vollen Gang: "Johnny Depps und Vanessa Paradis' Tochter Lily-Rose modelt. Ava, die Tochter von Reese Witherspoon und Ryan Phillippe, Snoop Doggs Sohn Cordell, die Kinder von Jude Law, Sylvester Stallone und Julianne Moore ebenfalls. Auch Lionel Richies Tochter Sofia, Pamela Andersons und Tommy Lees Söhne sowie Lenny Kravitzs Tochter Zoë stehen regelmäßig vor der Kamera oder auf dem Laufsteg. Die Liste ließe sich fortsetzen. Und vielleicht kann sie die Hoffnung, zum nächsten Gesicht einer weltweiten Parfumkampagne auserwählt zu werden, auch nicht brechen. Aber vielleicht regt sich der ein oder andere revolutionäre Geist, wenn er versteht, gegen wen (und was) er sich durchsetzen muss."
Archiv: Design

Kunst

Nathalie Djurberg & Hans Berg: One Need Not Be a House, The Brain Has Corridors. Schirn Kunsthalle

Verstört und fasziniert zugleich verliert sich FAZ-Kritiker Stefan Trinks im "Garten der Lüste und Laster", den die schwedische Künstlerin Nathalie Djurberg zusammen mit dem Musiker Hans Berg in der Frankfurter Schirn Kunsthalle geschaffen hat. Wie in einer visuellen Therapie fühlte sich Trinks mit all seinen Urängsten und Albträumen konfrontiert: "Dunkle Wälder, klaustrophobisch eng verbaute Zimmer mit Kinderschändertapeten, höhlenartige Räume oder endlose Korridore, die zu den Bildrequisiten jedes unvergesslichen Albtraums gehören. Die Wesen in diesen Räumen wandeln permanent ihre Gestalt. Sie vollführen frei schwebende Verrenkungen und Häutungen, die allen Naturgesetzen spotten und die sie ebenso unheimlich werden lassen wie die Horror-Räume mit ihrem offensichtlichen Anteil an den Metamorphosen ihrer Bewohner."

Mark Rothko, No. 16 (Red, White and Brown), 1957, © 1998 Kate Rothko Prizel & Christopher Rothko/Bildrecht, Wien, 2019, © Foto: Kunstmuseum Basel
Das Kunsthistorische Museum in Wien holt sich für eine große Retrospektive Mark Rothko in seine Altmeistersammlung. Im Standard ist Nicole Scheyerer nicht überzeugt von dem neuen Trend zum spektakulären Doppel: "Die Moderne soll als Jungbrunnen wirken, für einen 'frischen Blick' sorgen: durch Bacons schreiende Päpste eine Gänsehaut vor Velázquez' Porträts von Innozenz X. bekommen, mit Freuds üppigen Frauenakten Rubens verstehen und an Rothkos Hand vor Rembrandts Licht erschauern. Schließlich weiß ein jüngeres Publikum mit Madonnen, mythologischen Szenen und Fürstenporträts herzlich wenig anzufangen. Seit der Jahrtausendwende haben die Museen vor dem Markttrend kapituliert, dass nicht mehr Bildung, sondern das Besuchererlebnis zählt."

David Schnell: Splitter. Foto: Kunstsammlung Chemnitz

Baumgefängnis, Tiefseeerscheinung oder Canyon zum kapitalistischen Totenreich? Für die SZ besichtigt Till Briegleb die Ausstellung "Splitter", für die der Künstler David Schnell die Kunstsammlung Chemnitz sogar mit eigenen Glasfenstern ausstatten durfte: "Schnell führt den Täuschungsgedanken gerade ad absurdum. Wenn seine perspektivisch korrekten Anordnungen von schwebenden Elementen im Raum irgendetwas nicht sind, dann realistisch. Ihre absolute Künstlichkeit - ungeheurer dynamisch und extrem farbenfroh komponiert - macht seine Landschaften und Architekturen so attraktiv."

Besprochen wird eine Schau von Picassos Spätwerk im Museum Barberini in Potsdam (Tsp).
Archiv: Kunst

Bühne

Und vergleiche nie den Hühner-Holocaust mit dem Genozid in Gaza: Yael Ronens "Third Generation" am Maxim-Gorki-Theater. Foto: Esra Rotthoff

Eine politische Bestandsaufnahme im Jahr 2019 könnte durchaus bitter ausfallen, aber taz-Kritikerin Katrin Bettina Müller zufolge sorgt Yael Ronen mit der Neuauflage ihres Klassikers "Third Generation" für einen extrem lustigen Abend am Gorki-Theater: "Kann man einer verlorenen Hoffnung auf politische Lösungen mit Witz beikommen? Ronen ist eine Kämpferin, die es immer wieder versucht, vielleicht auch versuchen muss, um selbst den Kopf oben zu behalten." Auch in der Berliner Zeitung ist Ulrich Seidler voll auf seine Kosten gekommen: "Man weiß bei der Regisseurin und Ensemble-Stückentwicklerin Yael Ronen nie, wo Fake und Ironie anfangen. Man merkt es immer erst dann, wenn es schon zu spät ist und es kein Zurück mehr gibt. Das ist sehr giftig, aber eben auch sehr komisch. Deswegen grinsen wir vielleicht, aber doch nicht selbstzufrieden, sondern desorientiert." Bei Ronen ist der Nahost-Konflikt noch verfahrener als in der Realität, warnt Sophie Diesselhorst in der Nachtkritik.

Weiteres: Im Nachtkritik-Interview mit Matthias Dell beklagt Bianca Klose Kritik an ihrer Broschüre "Zum Umgang mit dem Kulturkampf von rechts": "Da wurde wegen des Fehlers und der angeblichen Schlampigkeit unsere gesamte Arbeit in Frage gestellt und behauptet, die gesamte Handreichung sei 'ideologisch verstiegen'. Was in der Broschüre eigentlich steht, interessierte nicht mehr."

Besprochen werden Marco Goeckes "Nijinski"-Ballett in Zürich (das Lilo Weber in der NZZ schlicht atemberaubend findet), die Uraufführung von Jacopo Godanis Choreografie "Ultimatum" mit der Dresden Frankfurt Dance Company im Bockenheimer Depot (FR), Nuran David Calis' Stück "Herero_Nama" am Schauspiel Köln (Nachtkritik), Martin Pfaffs Inszenierung von Christoph Nußbaumeders Volksstück "Mutter Kramers Fahrt zur Gnade" in Rendsburg (Nachtkritik), das Untergangsstück "Babylon" von Jörg Widmann und Peter Sloterdijk an der Berliner Staatsoper (taz), Aron Stiehls Inszenierung von Wagners "Fliegendem Holländer" an der Wiener Volksoper (Standard), Moritz Beichels Bühnenfassung von Roman Hochgatterers Roman "Der Tag, als mein Großvater ein Held war" in St. Pölten (Standard) und ein Gastspiel des Nowosibirsker Rote-Fackel-Theater mit den "Drei Schwestern" in Gebärdensprache am Züricher Schiffbau (FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Durchaus erleichtert zeigt sich Christoph Hein im großen Gespräch mit der Berliner Zeitung darüber, dass deutsche Schriftsteller heute, im Gegensatz zu den exponierten Schriftstellern damals in der DDR, nicht mehr die Rolle des Mahners und Kritikers einnehmen müssen. "Ich empfand das als eine Überforderung. Es ging dabei nicht um Literatur. Es ging darum, dass jemand, der etwas geschützter war, etwas ausdrückt, was anderen nicht möglich ist. Natürlich bin ich auch ein Zoon politikon, ein Bürger des Staates. Aber mit der eigentlichen literarischen Arbeit hatte das nichts zu tun. Das ist jetzt vorbei."

Weitere Artikel: Für die NZZ beugt sich Christina Rossi über die allerersten Text-Bild-Collagen, die Herta Müller vor vielen Jahren an ihren damaligen Ehemann Richard Wagner geschicht hat und in dessen Vorlass sie nun wieder aufgetaucht sind. Für den Standard hat Klaus Zeyringer den Schriftsteller Karl-Markus Gauß besucht. Gerhard Zeilinger spricht für den Standard mit dem Schriftsteller Michal Hvorecký.

Besprochen werden Tanja Maljartschuks "Blauwal der Erinnerung" (taz), Catherine Meurisse' Comic "Weites Land" (Tagesspiegel), Jimmy Liaos Bilderbuch "Das Kino des Lebens" (Tagesspiegel), Matthias Nawrats "Der traurige Gast" (ZeitOnline) und Antonio Muñoz Molinas "Schwindende Schatten" (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Wolfgang Matz über Charles Baudelaires "Exotischer Geruch":

"Das Auge schließt sich und der Sommer endet,
dein Körper riecht nach wärmeren Gestaden,
..."
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Film

Einsam beim Sport: "Helmut Berger, meine Mutter und ich"

Valesca Peters
' Porträtfilm "Helmut Berger, meine Mutter und ich" ist so etwas wie ein "'Dschungelcamp' für das Arthouse-Publikum", schreibt Dierk Saathoff in der Jungle World. Zu sehen gibt es den einstigen Superstar des europäischen Autorenfilms hier allerdings nicht in derb-peinlichen, sondern sehr privaten Momenten: Beim Sport-Treiben, beim Alkoholfasten, beim Trinken und Essen - und bei den Vorbereitungen eines zumindest kleinen Comebacks in Berliner Volksbühne. "Das eigentliche Thema des Films ist aber Bergers Älterwerden. 'Alt werden ist nichts für Feiglinge', zitiert er mit seiner wunderschön rauchigen und gleichsam zarten, nasalen Stimme aus dem Hintergrund einen Satz von Mae West. Berger ist ein Mann der einfachen Weisheiten - und er ist einsam."

Weitere Artikel: Für die Welt plaudert Martin Scholz mit Schauspielerin Felicity Jones. Im ZeitMagazin träumt Charly Hübner. Besprochen werden Jacques Audiards Western "The Sisters Brothers" (Freitag, SZ), ein opulenter Bildband über die "Star Wars"-Filme (Welt) und neue Heimmedien, darunter eine BluRay-Version von Wes Cravens Horrorfilm "Die Schlange im Regenbogen" aus dem Jahr 1987 (SZ).
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Musik

Bitte mehr Conentance, ruft Welt-Kritiker Manuel Brug in seinem Blog seinen Kollegen zu, die sich bei Kirill Petrenkos Gastauftritt bei den Berliner Philharmonikern regelrecht überschlagen haben: Dabei war der Abend "einfach nur normale Arbeit am Komponisten. Eine Etappe. Kein Hochamt. Doch eine ihrer verlorenen Bedeutung hinterherjagende Musikkritik kriegt sich darüber nicht mehr ein, macht aus Kirill Petrenko am Pult der Berliner Philharmoniker, ja um den geht es, den Heiland schlechthin! Und verteufelt allen Ernstes bereits jetzt Simon Rattle, dem sie vorher noch ähnlich albern zugejubelt hat."

Selbst sehr hin und weg ist Manuel Burg dann allerdings in Stuttgart, wo er mit Teodor Currentzis spricht und den Dirigenten bei den Proben mit dem SWR Symphonieorchester beobachtet. Das 2016 unter viel Protest zwangsfusionierte Orchester nehme unter seinem Dirigat künstlerisch derzeit enorm an Fahrt auf: "Tritt dieser hochgewachsene, sportive Mann mit den durchaus freundlichen, aber bisweilen auch düster und asketisch wirkenden Gesichtszügen in seinen knallengen Jeans über geschmeidigen Lederstiefeletten ans Dirigentenpult, dann rauscht es im Blätterwald, dann glühen die medialen Drähte, dann geraten Männlein wie Weiblein in Verzückung."

Weitere Artikel: Ljubisa Tosic spricht für den Standard mit Franz Welser-Möst über die Macht der Dirigenten.  Statt einer zwar mitnehmenden, aber eben doch zugespitzt einseitigen Doku wie "Leaving Neverland" hätte sich tazlerin Jenni Zylka in der Causa Michael Jackson lieber ein ordentliches Gerichtsverfahren und eine vernünftige Rechtsprechung gewünscht. Nachgereichte Nachrufe auf den Dirigenten Michael Gielen schreiben Gerhard R. Koch (FAZ), Corinne Holtz (NZZ) und Ulrich Amling (Tagesspiegel).

Besprochen werden das neue Album von Solange Knowles (SZ), ein Konzert von Bob Mould (Tagesspiegel), Cecilia Bartolis Auftritt in Neapel (FAZ), neue Musikveröffentlichungen, darunter das neue Album von Deerhunter (FAZ, mehr dazu hier) und zwei neue, bei der musica viva aufgeführte Kompositionen von Beat Furrer (SZ, Übertragung auf BR-Klassik am 22. März).
Archiv: Musik