Efeu - Die Kulturrundschau

Ein erhabener Effekt

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08.03.2019. Auf Zeit online erinnert die Schriftstellerin Annett Gröschner zum heutigen Frauentag daran, dass die DDR in Sachen Frauenrechte sehr viel fortschrittlicher war als der Westen. Die SZ rümpft die Nase über den Verein Deutsche Sprache, der in einem Aufruf "Schluss mit dem Gender-Unfug!" fordert. Der Guardian besucht die polnische Fotografin Joanna Piotrowska. Die Welt fordert die Bundeskunsthalle auf, ihre geplante Michael-Jackson-Ausstellung abzusagen. Die NZZ findet es dagegen absurd, Jackson aus dem Radio zu verbannen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.03.2019 finden Sie hier

Literatur

Auf Zeit online erinnert die Schriftstellerin Annett Gröschner zum heutigen Frauentag daran, dass die DDR, was Frauenrechte anging, sehr viel weiter war als Westdeutschland. Auch heute noch wünschte sie sich mehr Mut im Kampf um gleiche Rechte. Zu tun gäbe es genug: "Wie kommt es, dass die Regierung seit Jahren keine vernünftige Lösung für den Versicherungsschutz von Hebammen findet, aber im Handumdrehen fünf Millionen für eine sinnlose Studie über psychische Auswirkungen von Schwangerschaftsabbrüchen genehmigt? Wieso kann in Kommunen das Recht auf einen Kitaplatz missachtet werden? Wie können geflüchtete LQBTI besser gegen Gewalt in Unterkünften und vor Abschiebung geschützt werden? Wieso werden auf Binden und Tampons 19 Prozent Mehrwertsteuer berechnet, obwohl sich nicht verleugnen lässt, dass ein lebensnotwendiger Bedarf danach besteht, der sieben Prozent wie bei Hygieneprodukten rechtfertigt? Wieso dürfen Frauen nach wie vor nicht straffrei abtreiben und sich auch nach der Gesetzesänderung des §219a nicht einmal barrierefrei darüber im Netz informieren? Wieso sind so viele Alleinerziehende auf Hartz IV angewiesen?"

In einem online nachgereichten FAS-Text rollt Julia Encke mächtig mit den Augen bei der Lektüre von Feridun Zaimoglus und Kenah Cusanits letzten Büchern, "Die Geschichte der Frau" und "Babel", die von den Feuilletons im hohen Ton gefeiert werden und für den Leipziger Buchpreis nominiert sind. Blanke Bildungshuberei, allein für Feuilletonredakteure geschriebene Werke, meint Encke: "Platt sein, banal sein, eindeutig sein muss unter allen Umständen vermieden werden in diesen stattdessen völlig überdeterminierten Bildungsromanen, die die Kritik so liebt, weil sie anhand dieser Bücher ihre eigene Universalgelehrsamkeit so schön vorführen kann. Sie sind voll auf der Höhe, was ein erhabener Effekt sein mag, aber eben nur ein Effekt. Eine äußerliche Wirkung, die nicht vermag, was Literatur im besten Fall doch eigentlich anrichtet: Wahrnehmung schärfen, verunsichern, existentiell erschüttern, Leben verändern."

In der SZ rümpft Johan Schloemann die Nase über den Verein Deutsche Sprache, der in einem Aufruf "Schluss mit dem Gender-Unfug!" in der Sprache fordert. Die Unterzeichner wie Monika Maron, Wolfgang Schneider, Gerhard Stadelmaier, Reiner Kunze oder Katja Lange-Müller würden sich damit in "trübe Gesellschaft" begeben: "Manchen seiner Mitglieder mag die Pflege unserer Sprache ernsthaft am Herzen liegen, die für sich genommen nicht reaktionär ist, sondern notwendiger denn je. Aber mit Aufrufen gegen 'Gender-Unfug' begibt man sich keineswegs bloß in die Nähe der CDU-Vorsitzenden, die da 'das verkrampfteste Volk der Welt' am Werke sieht, sondern in den Dunstkreis der AfD, die dieses Thema emotional instrumentalisiert." Intellektuelle in Sippenhaft: Bloß nichts kritisieren, was die Rechten auch kritisieren!

Weitere Artikel: Ekkehard Kraft schildert in der NZZ den existenzbedrohenden Prozess, den der griechische Außenminister Nikos Kotzias gegen die Athen Review of Books führt, nachdem er dort 2010 in einem Leserbrief als fanatischer Stalinist bezeichnet wurde. In der NZZ erinnert Claudia Mäder an Johann Georg Tinius, der sich vor 200 Jahren massiv kriminell belastete, um seine Bücherlust zu stillen. Joseph Hanimann (SZ) und Helmut Mayer (FAZ) schreiben Nachrufe auf den Literaturwissenschaftler Jean Starobinski.

Besprochen werden unter anderem Han Kangs auf Deutsch nachgereichtes Debüt "Deine kalten Hände" (SZ), Angela Krauß' "Der Strom" (Tagesspiegel), Rocko Schamonis St.-Pauli-Roman "Große Freiheit" (Standard), Bora Cosics "Im Zustand stiller Auflösung" (FR) und Günter Kunerts nach 45 Jahren veröffentlichter Roman "Die zweite Frau" (Zeit).
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Kunst

Joanna Piotrowska, Untitled, 2017


Hettie Judah besucht für den Guardian die polnische Fotografin Joanna Piotrowska, die seit heute eine Ausstellung in der Tate Britain hat. Zwei Fotoserien zeigt sie: Eine zeigt sich selbst, wie sie verschiedene Positionen aus Selbstverteidigungsbüchern nachahmt. Für die zweite hat sie Menschen überall auf der Welt gebeten, sich aus ihren Besitztümern einen Unterschlupf zu bauen: "Diese Fotoserie wurde in mehreren Städten - London, Lissabon, Warschau und Rio de Janeiro - aufgenommen, in denen die Gefahren für die persönliche Sicherheit stark voneinander abweichen. Jede kleine Struktur gibt einen miniaturisierten Einblick in das Leben des Subjekts: die Objekte, mit denen sie sich umgeben, und ihren relativen Wunsch nach Komfort, Eleganz oder Solidität. 'Der Unterstand ist wie eine Festung für unsere Körper, eine Erweiterung unseres Selbsts. Es geht darum, wie wir uns entscheiden zu leben, mit was wir uns umgeben haben', sagt sie."

Weiteres: Nachrufe auf die feministische Künstlerin Carolee Schneemann finden wir im Standard und im Guardian.

Besprochen werden die Ausstellung "Frauen Über-Frauen" in der Berliner Galerie Deschler (taz), eine Ausstellung des MalerinnenNetzWerks Berlin-Leipzig (taz), eine Ausstellung mit Rodins Zeichnungen im Pariser Musée Rodin (FAZ) sowie die Ausstellung "Sound of Design", mit der Münchner Pinakothek der Moderne den Klang von Alltagsgegenständen des 20. Jahrhunderts (Schreibmaschinen!) wiedererweckt und die den SZ-Kritiker Helmut Mauro ins Träumen bringt: "Man könnte sich eine Symphonie der Siebzigerjahre vorstellen, die nur aus wohlgesetzten Alltagsgeräuschen besteht."
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Film

Besprochen werden Barry Jenkins' James-Baldwin-Verfilmung "Beale Street" (Presse, mehr dazu hier), das Biopic "Die Berufung" über Supreme-Court-Richterin Ruth Bader Ginsburg (Tagesspiegel), Jacques Audiards "The Sisters Brothers" (Welt), Peter Demetz' Studie "Diktatoren im Kino" (FAZ) und der Superheldinnenfilm "Captain Marvel" mit Brie Larson (ZeitOnline, Welt, SZ).
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Musik

Der vieldiskutierte HBO-Dokumentarfilm "Leaving Neverland", der die Anschuldigungen, Michael Jackson habe Minderjährige sexuell missbraucht, erneuert, muss auch Konsequenzen für die Bundeskunsthalle haben, die Ende des Monats eine Ausstellung über Michael Jackson und die Kunst eröffnen will, schreibt Swantje Karich in der Welt. "Die Museen tragen eine Verantwortung, wenn sie sich für eine Ausstellung entscheiden, dann schenken sie einem Künstler, einem Thema kostbare Aufmerksamkeit. Ein rares Gut - gerade in unüberschaubarer digitaler Zeit. Ist Michael Jackson wirklich der Künstler für das Jahr 2019 in der Bundeskunsthalle?" Ziemlich peinlich findet es unterdessen Ueli Bernays in der NZZ, dass nun einige Radiosender Jacksons Lieder aus ihrem Programm genommen haben: Dieser "Griff zur Zensur wirkt unbesonnen, ja geradezu absurd. Die Vorwürfe gegen Jackson sind alt. Wer unbedingte moralische Sauberkeit demonstrieren mag, hätte Michael Jackson längst aus dem Programm streichen können." Für Forbes trägt Joe Vogel unterdessen einige Hintergrundinformationen zu dem Film zusammen: Einer der beiden Männer, die hier erstmals aussagen, von Jackson missbraucht worden zu sein, hat zu Jacksons Tod vor zehn Jahren noch einen glühenden Nachruf geschrieben, soll sich aber in den darauf folgenden Jahren massiv mit den Jackson-Erben verkracht haben.

Sehr melancholisch durchstreift Welt-Redakteur Michael Pilz die von Max Dax kuratierte Schau "Hyper! A Journey into Art and Music" in den Deichtorhallen in Hamburg, die um die Austauschverhältnisse zwischen Pop und Kunst kreist. Sie "handelt von einer Musikkultur, die alles war, ein allumfassendes Gesamtkunstwerk des alltäglichen Lebens." Doch "am Ende der Musikgeschichte geht alles in Algorithmen auf, die sich selbst kuratieren."

Weitere Artikel: Diviam Hoffmann spricht in der taz mit Stella Sommer über ihr Bandprojekt Die Heiterkeit. Für ZeitOnline plaudert Florian Friedman mit Slash von Guns N' Roses. Auf der Seite Drei der SZ erinnert Peter Richter an die Initialzündung für Punk in Deutschland vor vierzig Jahren. Wolfgang Sandner schreibt in der FAZ zum Tod des Pianisten Jacques Loussier. Für den Tagesspiegel stellt Helena Davenport die Kunst von Kathleen Tagg und David Krakauer vor, die in dem Projekt Breath & Hammer Jazz, Klezmer, Klassik, Elektronik und Animationsfilm auf der Bühne amalgamisieren. In der Berliner Zeitung erinnert Peter Uehling an Hector Berlioz, der vor 150 Jahren gestorben ist. Außerdem kann man beim Dlf Kultur das gestrige Konzert der Berliner Philharmoniker unter ihrem künftigen Leiter Kirill Petrenko nachhören.

Besprochen werden das neue Album von Little Simz (Presse, Pitchfork), Solanges-Album "When I Get Home" ("Ohne dass das Album ausdrücklich formulierte politische Botschaften enthielte, hat die selbstbewusste Gelassenheit, mit der Solange Knowles die afroamerikanische Popgeschichte beschwört, doch eine hohe politische Note", schwärmt Jens Balzer Zeit online), Joachim Kühns Album "Melodic Ornette Coleman - Piano Works XIII" (Presse), eine Aufführung von Mendelssohns "Elias"-Oratorium durch das Tonhalle-Orchester unter Thomas Hengelbrock (NZZ), ein Konzert des Boulez Ensembles mit Michael Barenboim (Tagesspiegel) und ein Konzert des Bruckner Orchester Linz (Standard).
Archiv: Musik