Efeu - Die Kulturrundschau

In der Welt der Floskelfreunde

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.01.2019. In der SZ erzählt der Kameramann Jürgen Jürges von den allzu realistischen Dreharbeiten zum DAU-Projekt, das die Sowjetunion des Jahres 1940 bis ins kleinste Detail nachstellt. Schon Florian Henckel von Donnersmarcks "Das Leben der anderen" war entsetzlich realitätsfern, ärgert sich Christoph Hein ebenfalls in der SZ. In der Zeit hat Volker Lösch keine Lust mehr auf "gefühliges Verständnisgerede" über die AfD. Im Perlentaucher nimmt Rüdiger Wischenbart Bruegel unter die Lupe. Und die Filmkritiker trauern um Jonas Mekas.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.01.2019 finden Sie hier

Film


Der Experimental- und Avantgarde-Filmpoet Jonas Mekas ist im Alter von 96 Jahren in New York verstorben. Er zählt zu den zentralen Protagonisten des New American Cinema, war Mitbegründer der Anthology Film Archives und der Zeitschrift Film Culture und ab den späten Fünfzigern der erste Vollzeit-Filmkritiker der Village Voice. Noch bis zuletzt füllte er sein Blog mit diaristischen Videos. Patrick Straumann spricht im NZZ-Nachruf Mekas' prägende Erfahrung als litauischer Migrant, der 1949 in die USA gekommen ist, an: "Diese biografische Zäsur hat (...) sein in vieler Hinsicht singuläres Werk geprägt, dessen prismatische Form die Spannung zwischen seiner europäisch-provinziellen Vergangenheit und seiner amerikanisch-urbanen Gegenwart ideal wiederzugeben wusste. ... Als fremdsprachiger Dichter, dessen Vaterland 'auf dem Altar von Jalta geopfert' wurde, musste sich Mekas in Manhattan jahrelang selbst 'verlieren', bevor er in der fragmentarischen Form seines 'Cinejournals' einen seiner Existenz entsprechenden Ausdruck finden konnte."

Für Christoph Terhechte war Mekas "wie ein Kind, das vor der Größe des Universums staunt", sagte der langjährige Leiter des Berlinale-Forums im Dlf Kultur. In einem Feature über New Yorker Persönlichkeiten, die sich eines gesegneten Alters erfreuen, widmete die New York Times Mekas kürzlich noch ein Porträt.



Bevor Ilya Khrzhanovskys DAU ein umstrittenes und schließlich nicht genehmigtes Berliner Bühnenprojekt wurde, das nun in Paris realisiert wird, war es vor allem ein megalomanisches Filmprojekt, für das der Regisseur 400 Menschen drei Jahre lang in einem eigens errichteten Arreal festsetzte, das der Sowjetunion des Jahres 1940 bis in kleinste Details nachempfunden ist - sogar KGB-Verhöre waren Bestandteil des filmischen Experiments. Kameramann Jürgen Jürges gibt im SZ-Gespräch Einblick in diese zehrende Arbeit: "Es gab keine geschriebenen Dialoge mehr, keine Drehpläne oder verabredete Szenen, nichts." Bei den Verhören "waren die Menschen merkwürdigerweise wirklich eingeschüchtert, obwohl klar war, dass sie jederzeit abbrechen können. Unter dem Druck der nächtlichen Verhöre denunzierten ganz normale Leute, die man immer als freundlich und anständig erlebt hatte, ihre Nachbarn und Kollegen. Das hatte etwas sehr Unheimliches. Diese ständige Angst, auch bei den Wissenschaftlern und anderen Privilegierten, hatte etwas sehr Reales."

Weitere Artikel: Sarah Pines schreibt in der NZZ über Tippi Hedrens Leidenschaft für Raubkatzen. Der Zürcher Filmemacher Christoph Schaub hält im NZZ-Gespräch Rückschau auf 40 Jahre Solothurner Filmtage. In der taz empfiehlt Carolin Weidner Gábor Bódys "Narziss und Psyche", den das Berliner Kino Brotfabrik am Wochenende zeigt. Rudolf Neumaier gratuliert in der SZ Joseph Vilsmaier zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden der Boxerfilm "Creed 2", in dem Sylvester Stallone endgültig Abschied nimmt von seiner Rocky-Figur (Perlentaucher, SZ), Yorgos Lanthimos' "The Favourite" (taz, FR, Welt, mehr dazu hier), der neue Disney-Film "Chaos im Netz" (FR), Melanie Gärtners Migrations-Doku "Yves' Versprechen" (FR), die Wiederaufführung von Steven Spielbergs "Schindlers Liste" (Standard), Greg Pritikins Road- und Buddy-Komödie "The Last Laugh" (Perlentaucher), Eva Spreitzhofers "Womit haben wir das verdient?" (taz), Marie Kondos Netflix-Serie darüber, wie man gut aufräumt (taz). und die Starzplay-Serie "Castle Rock" nach Motiven von Stephen King (FAZ).
Archiv: Film

Kunst

Wunderhübsche Eins der Libération heute, die all ihre Artikel durch Comiczeichner illustrieren lässt. Anlass ist das Festival von Angoulême, das der Königin des Manga, Rumiko Takahashi, seinen Ehrenpreis gibt, mehr hier.

In Mumbai gibt es nur drei Kunstmuseen, aber eine Vielzahl von Galerien, die vor allem in den ehemaligen Kolonialvierteln liegen, weiß Birgit Rieger, die für den Tagesspiegel zum dortigen Gallery Weekend gereist ist. Was die indische Kunstszene bewegt, erfährt sie etwa im Werk des Künstlers Sahej Rahal: "Kunst, die alte indische Mythen mit Gegenwart und Zukunft zusammenbringt. Und die ist, wenn es nach Rahal geht, ungewiss und dystopisch. Mischwesen, halb Tier, halb Comicfigur, bevölkern seine Gemälde. In ihnen schlägt die DNA von Raubvögeln und Tigern ebenso durch wie die Spiritualität der Götter, die seit ewigen Zeiten die Geschicke der Menschen lenken. Wer weiß schon, ob diese Kreaturen ihre vorrevolutionären Krallen und Schnäbeln für das Gute oder das Böse einsetzen. Auch der Künstler gibt darauf keine Antwort. Doch der Rechtsruck in Politik und Gesellschaft, die zunehmende Intoleranz gegenüber Menschen anderer Klassen und Religionen ist auch in Indien ein Thema, und in Rahals Bilderkosmos schwingt das damit verbundene Unbehagen deutlich mit."
 
Die Waffelbäckerin aus Bruegels Gemälde "Kampf zwischen Fasching und Fasten", 1559, KHM Wien
All jenen, die es nicht unter die ausgewählten 400.000 Besucher der komplett ausgebuchten Bruegel-Ausstellung im Wiener KHM geschafft haben, empfiehlt Rüdiger Wischenbart im Perlentaucher die Digitalversion "Inside Bruegel", in der man jedes noch so winzige Detail der zwölf "Wimmelbilder" heranzoomen kann: "Wie genau in welchem Beruf gearbeitet wurde, wie die Spiele der Kinder tatsächlich abliefen, was mittags auf den Tisch kam, und vieles mehr ist da zu sehen. Ich habe etwa herausgefunden, dass die Waffeleisen für die bis heute verwendeten flämisch-belgischen 'Gaufres', die sich mit Puderzucker bestreuen und mit allerlei süßen Cremes noch weiter versüßen lassen (was ich gar nicht mag), schon damals genau dasselbe Rastermuster hatten wie noch heute!"

Weitere Artikel: Schon fast wieder von der Bildfläche verschwundene Netzkunst hat sich Sophie Haigney in der New York Times in der Ausstellung "The Art Happes Here: Net Art's Archival Poetics" im New Yorker New Museum angeschaut, die digitale Kunstwerke aus dem Web 1.0 zeigt.

Besprochen werden eine Ausstellung der Fotografin Éva Besnyő (1910-2003) in den Museen Böttcherstraße in Bremen ("eine wunderbar geglückte Ausstellung", schwärmt Adam Soboczynski in der Zeit), die Stuttgarter Ausstellung "Marcel Duchamp - 100 Fragen. 100 Antworten", die Gabrielle Boller in der NZZ "schön saftig greifbar" findet), die Ausstellung "#womenphotographer Vol. I" im Kreuzberger Projektraum f3 - Freiraum für Fotografie (Tagesspiegel) und die Installation "Random Access Memory" des polnischen  Bildhauers Miroslaw Balka (Guardian).
Archiv: Kunst

Literatur

Nachdem Gerhard Richter kürzlich im New Yorker sein Missfallen über Florian Henckel von Donnersmarcks lose auf seiner Biografie basierenden Film "Werk ohne Autor" zum Ausdruck gebracht hatte, äußert sich nun auch Schriftsteller Christoph Hein in der SZ über den Regisseur: Dem hatte Hein ausgiebig aus seinem Leben in der DDR erzählt, war dann aber vom Ergebnis - "Das Leben der Anderen" - so entsetzt, dass er nach der Premiere zum Ärger des Filmemachers umgehend die Streichung seines Namens aus dem Vorspann erwirkte: Die zugespitzte Dramatik des Films "ist bunt durcheinandergemischter Unsinn", der Filme beschreibe "nicht die Achtzigerjahre in der DDR, der Film ist ein Gruselmärchen, das in einem sagenhaften Land spielt." Mit fatalen Folgen, denn gerade junge Leute ohne direkte Erfahrung mit der DDR halten den Film für einen Tatsachenbericht: "Ich werde meine Erinnerungen dem Kino anpassen müssen. Denn wenn auch die Tragödie zur Farce wird und schließlich zur Hanswurstiade, so endet doch alles als Melodram."

Ach Max Goldt, was haben wir dich vermisst. In der Zeit denkt er über das nach, was gern Absurditäten des Alltags genannt wird. Aber was ist schon absurd? "In der Welt der Floskelfreunde steckt der Alltag jedoch voller 'Tücken' und 'Fallstricke' sowie 'großer und kleiner Katastrophen', und wenn man bei denen ist, dann sind auch drei versteinerte und somit leider unvergängliche Phrasen nicht weit, nämlich erstens der 'alltägliche Wahnsinn', zweitens die 'Banalität des Alltags' und drittens natürlich die kaum zu umschiffenden 'Absurditäten des Alltags'. Knöpfte man sich den Alltag unvoreingenommen vor, wäre allerdings, worüber man Rechenschaft abzulegen hätte als unvernebelter Chronist, seine Tückenlosigkeit, Wahnsinnsferne und Katastrophenarmut." Könnte das bitte eine dauerhafte Kolumne werden?

Weitere Artikel: Arno Widmann wirft für die FR einen Blick auf die chinesische Bestsellerlisten, wo die Autorin Yang Hongying - "Chinas J.K. Rowling" - klar die vorderen Positionen dominiert, während Yu Hua mit seinem Roman "Leben" an der Spitze steht. Alexander Menden berichtet in der SZ vom Auftakt der Kölner "Poetica", die in diesem Jahr unter dem Motto "Rausch" steht.

Besprochen werden Warlam Schalamows "Über die Kolyma" (Tell-Review), Lina Wolffs "Die polyglotten Liebhaber" (SZ), Michael Endes von Wieland Freund fertiggestellte Geschichte "Rodrigo Raubein" (Standard, FR), Simone Regina Adams' Novelle "Flugfedern" (FR), John Lanchesters "Die Mauer" (online nachgereicht von der FAS), Ted Naifehs Comic "Courtney Crumrin" (Tagesspiegel) und Hannes Köhlers "Ein mögliches Leben" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik


In der Türkei ärgert man sich darüber, dass der Pianist Fazil Say, sonst ein glühender Kritiker des Islams und des türkischen Staatspräsidenten, bei einem Konzert buchstäblich den Kotau vor Erdogan gemacht hat, berichtet Istanbul-Korrespondentin Susanne Güsten im Tagesspiegel. "Aus Says Haltung spreche 'pure Feigheit', schimpfte der Autor Ahmet Nesin, Sohn des berühmten Schriftstellers Aziz Nesin. ... Manche Beobachter sehen in Erdogans Geste einen cleveren Schachzug, um einen wichtigen Künstler zu vereinnahmen und sich vor den Kommunalwahlen im März als toleranter Landesvater zu präsentieren. Says Kritiker stellen den Komponisten unterdessen in eine Reihe mit den so genannten Staatskünstlern, die Erdogan zu Frontbesuchen in Syrien begleiten und artig Propagandalieder mit ihm singen."

Weitere Artikel: In der taz freut sich Julian Weber auf den Auftakt der Club Transmediale in Berlin, die in diesem Jahr ihre 20. Ausgabe feiert. Udo Badelt erkundigt sich für den Tagesspiegel nach dem Stand der Dinge beim Artemis Quartett.

Besprochen werden James Blakes neues Album "Assume Form" (Blake nimmt "als Doo-Wop-Balladensänger Gestalt an" und verneigt sich wohl auch vor Brian Wilson, meint Perlentaucher Thierry Chervel, Presse, mehr dazu hier), ein Konzert der Swiss Chamber Soloists zu Ehren von Heinz Holliger (NZZ), das Berliner Abschiedskonzert von Ennio Morricone (Tagesspiegel), ein Mozart- und Mahler-Abend der Deutschen Philharmonie Merck (FR), Eric Dolphys "Musical Prophet: The Expanded 1963 New York Studio Sessions" (Pitchfork), Finlay Shakespeares Debütalbum "Domestic Economy" (Standard), das Debütalbum von Kahlenberg (Standard) und das Comeback-Album der Backstreet Boys, die damit nach Ansicht von ZeitOnline-Kritiker Jens Balzer das Genre des "realistischen Gefühlskrüppelpop für die Fortysomethings" begründen.
Archiv: Musik

Architektur

Das neue Bauhausmuseum in Dessau ist wegen seiner spiegelnden Fassade in der Kritik - Vögel zerschellen an den Glasscheiben, die sie nicht erkennen, trotz eines Punkterasters an der Fassade, berichtet Lisa Garn in der Mitteldeutschen Zeitung. Der Naturschutzverein BUND mache gegen das Museum mobil: "Ein Vogel erkenne das Raster zu spät, ein Aufprall ende in 75 Prozent der Fälle tödlich. Der BUND will sich nun auch an Bund und Land wenden. Er fordert: Das Gebäude müsse durch eine Folie mit Muster nachgerüstet werden, die die Spiegelung durchbricht. 'So erkennt der Vogel von Weitem: Hier komme ich nicht vorbei.'" Und der Bauhaus-Fan kommt dann natürlich auch nicht vorbei.
Archiv: Architektur

Bühne

Martin Machowecz besucht für das Zeit-Dossier die Proben zu Volker Löschs Inszenierung seines, Löschs, Stücks "Das Blaue Wunder" am Dresdner Staatsschauspiel. Das Stück spielt in einer fiktiven Zukunft, in der die AfD das Land regiert und eine rechte Diktatur errichtet hat. Machowecz sympathisiert, sieht aber auch eine gewisse westdeutsche Überheblichkeit am Werk: "Dieses Stück, sagt Lösch, 'soll mitten rein in die politische Großlage'. Wer die AfD wählt, der soll bei Lösch lernen, dass er sich mitschuldig machen kann. 'Ich habe keinen Bock mehr auf gefühliges Verständnisgerede.' Das Zugehen auf Pegida vor drei Jahren in Graf Öderland? Das habe doch nichts gebracht, die politische Lage sei schlimmer geworden, antwortet Lösch. Aber dieses Stück jetzt, überlegt er, das habe was von brechtschem Theater - ein Theater, das gesellschaftliche Strukturen analysiert und dadurch aufklärerisch wirkt. Man sitzt diesem müden und zugleich energiegeladenen Mann gegenüber und denkt sich: Er wollte immer die Verlorenen und Abgehängten auf die Bühne holen. Er wollte Probleme sichtbar machen, die sonst niemand sehen wollte. Aber im Jahr 2019, in einem ohnehin polarisierten und dauerstreitenden Land - könnte seine Methode da womöglich ins Leere laufen?"

Viel hat sich in puncto Gleichstellung zwischen Mann und Frau in den letzten Jahrzehnten in Afrika nicht getan, erkennt Michael Laages im Dlf bei den Hamburger Lessing-Tagen, die sich dem Schwerpunkt Afrika widmen. Im Gastspiel "Hear Word" der Regisseurin Ifeoma Fawuna etwa erzählen zehn Frauen Alltagsgeschichten: "Von jungen Nigerianerinnen, die zunächst vernünftigerweise angehalten werden, nicht bloß mit weiblichen Reizen um sich zu schmeißen, sondern auf gute Ausbildung und fundierten sozialen Status zu achten. Die von den selben familiären Ratgeberinnen aber prompt für mangelndes Engagement kritisiert werden, wenn sie den Absprung verpassen und mit 38 immer noch nicht verheiratet und ohne Kinder sind. Wenn sie aber beides haben, womöglich gar trotzdem erfolgreiche Geschäftsfrauen geworden sind, werden sie missachtet und misshandelt von Männern, deren Weltbild sich seit der Steinzeit um keinen Deut verändert hat."

Besprochen werden Johan Simons Bochumer Inszenierung von Michel Houellebecqs Romanen "Plattform" und "Unterwerfung". (Der Simons "bärbeißiger Schalk" harmoniert mit Houellebecqs "düsterem Witz", meint Martin Krumbholz in der SZ), Detlef Heusingers Neufassung des dritten Aktes von Alban Bergs "Lulu" am Theater Bremen (SZ), Frank Castorfs "Galilei"-Inszenierung am Berliner Ensemble, (die Peter Kümmel in der Zeit wie eine "eitel private Abschiedstournee" erscheint), Krzysztof Warlikowskis Inszenierung von Leoš Janáčeks "Aus einem Totenhaus" an der Oper Lyon (FAZ) und Corinne Orlowskis Einar-Schleef-Band "Vor dem Palast" (Nachtkritik).
Archiv: Bühne