Efeu - Die Kulturrundschau

Katzenhaftigkeit und vorsichtige Intelligenz

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12.01.2019. "Stella" ist doch die Wunscherfüllung deutscher Literaturkritik, nimmt die Literarische Welt Takis Würger vor seinen Kritikern in Schutz. Die FAZ versucht derweil Michel Houellebecq mit H. P. Lovecraft zu verstehen. Artechock rauft sich mit Blick auf die Harmlosigkeit der Longlist zum Deutschen Filmpreis die Haare. Die NZZ lernt von Ferdinand Försch, wie man mit Schrottplatz-Instrumenten die Neue Musik herausfordert. Und Hyperallergic begibt sich auf die Suche nach dem verschwundenen "Salvator Mundi".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.01.2019 finden Sie hier

Literatur

Habemus Literaturdebatte, ruft Hannah Lühmann in der Literarischen Welt nach den ersten, gepfefferten Verrissen von "Stella" aus, dem neuen Roman des Spiegel-Journalisten und Autors Takis Würger, der darin die Geschichte der "Greiferin" Stella Goldschlag erzählt. Die im Raum stehenden Vorwürfe, Würger erzähle eine tragische Episode aus der Shoah als spannungsgeladenen Page-Turner, lässt Lühmann zwar gelten, doch "ist dieses Buch schlecht, weil es unterhält? 'Stella' ist eigentlich auch eine Wunscherfüllung deutscher Literaturkritik, die so gerne an jungen ('jung' ist bekanntlich relativ, wenn es um Schriftsteller geht) Autoren kritisiert, dass ihre Romane zu dröge oder ich-zentriert seien. 'Stella' ist auf fast amerikanische Weise 'well-written'. ... Es gibt keine schriftstellerische Pflicht zur Tiefe oder zum Abgrund." Auf ZeitOnline stampft derweil Jan Süselbeck den Roman seinerseits in den Boden: Das Buch falle "angesichts der Nazigräuel immer wieder in einen verknappten Kinderbuchton. ... Es kommt schnell der Verdacht auf, dass dem Autor überhaupt nicht bewusst war, wie heikel sein Thema angeblicher jüdischer Schuld im Holocaust tatsächlich ist. Solchen Fragen sollte man zumindest nicht mit stilistischen Fingerübungen beizukommen versuchen, wie man sie in der Journalistenschule lernt."

Für die taz hat sich Sophie Schmalz mit der kurdischen Dichterin Widad Nabi zum ausführlichen Gespräch getroffen, die 2016 nach Deutschland kam und  über ihre Erfahrungen im syrischen Bürgerkrieg spricht: "Weil ich keinen Schleier trage, konnte ich nicht mehr in den Osten Aleppos, der von oppositionellen Milizen vereinnahmt wurde. Wegen meiner regimekritischen Texte konnte ich jedoch auch nicht mehr in den Westen, der vom Regime kontrolliert wurde."

Wer Michel Houellebecqs Literatur verstehen will, muss auf dessen literarische Wurzeln zurückblicken, schreibt Niklas Bender im literarischen Wochenend-Essay der FAZ. Und diese liegen in seiner Begeisterung für die Geschichten des amerikanischen Pulp- und Horror-Autors H.P. Lovecraft, dem Houellebecqs in den frühen Neunzigern seinen ersten großen Essay gewidmet hatte. Lovecraft artikulierte zwar ein kosmisches Grauen vor der Weite des Alls, wohingegen Houellebecq im Register des Realismus bleibt. Dennoch haben die beiden in mehrerer Hinsicht miteinander zu tun, meint Bender: Beide arbeiten an einer posthumanen Perspektive, nicht zuletzt unterfüttert beider literarische Welten "die schiere Angst." Houellebecqs Figuren "sind getrieben von der Furcht, im ökonomisch-libidinösen Wettkampf aussortiert zu werden, eine Angst, die in der tieferen vor dem körperlichen Verfall wurzelt. Nun mag man einwenden, dass diese Alltagssorge eine andere sei als die, von Cthulhu oder Ghatanothoa, mythischen Monstren aus den Tiefen des Weltalls, vernichtet zu werden. Houellebecq ficht das nicht an, er vergleicht die Situation von Lovecrafts Figuren mit der seiner Zeitgenossen und Modelle, um zu schließen: 'Menschen des endenden 20. Jahrhunderts, dieser ausweglose Kosmos ist ganz der unsere. Dieses schändliche Universum, in dem die Furcht in konzentrischen Kreisen stufenweise bis zur ekelhaften Offenbarung ansteigt, dieses Universum, in dem unser einzig vorstellbares Schicksal darin besteht, zermalmt und verschlungen zu werden, erkennen wir absolut als unser geistiges Universum wieder.'"

Weitere Artikel: Für ein Dlfkultur-Feature liest Andreas Schäfer Romane über das Bauhaus. In der NZZ verneigt sich Andreas Breitenstein vor der Schriftstellerin Maria Stepanova und ihrem Roman "Nach dem Gedächtnis": "ein Buch zur rechten Zeit - für Putins Russland, dessen machiavellistische Erinnerungspolitik es nach wie vor ablehnt, sich der eigenen Gewaltgeschichte zu stellen." Für Dlf Kultur hat Igal Avidan in Israel die Trauerfeier zu Ehren von Amos Oz besucht. Schriftsteller Thomas Glavinic berichtet in der Literarischen Welt aufs Bedrückendste von seinem gesellschaftlichen Absturz der letzten Monate - Schlaflosigkeit weit jenseits der Grenze zum Erträglichen, Beziehungs-Aus, Kümmerer-Syndrom, schwere depressive Schübe und aus all dem folgend finanzielle Probleme, die er auch als gut verdienender Literat zu bewältigen sich kaum in der Lage sieht. "Fontane war der Mario Barth des Bürgertums", schimpft Fabian Stark in der taz und zeiht den Schriftsteller, für die Misere der deutschen Komödie verantwortlich zu sein. Gerrit Bartels (Tagesspiegel) und Andreas Platthaus (FAZ) gratulieren dem Schriftsteller Haruki Murakami zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Judith Schalanskys "Verzeichnis einiger Verluste" (NZZ), Viginie Despentes' "King Kong Theory" (taz), Anke Stellings "Schäfchen im Trockenen" (Berliner Zeitung), Brigitte Reimanns Geschwisterbriefe "Post vom schwarzen Schaf" (taz), Guntram Vespers gesammelte Gedichte (taz), Bettany Hughes' "Istanbul. Die Biographie einer Weltstadt" (taz) und Patrick Modianos "Schlafende Erinnerungen" (FAZ).
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Film

Auf Artechock rauft sich Rüdiger Suchsland die Haare vor Zorn über die Longlist für den Deutschen Filmpreis: Diese "bietet wieder einmal ein Panoptikum der Mittelmäßigkeit und künstlerischen Bedeutungslosigkeit, dass es zum Himmel schreit." Dass eine Vielzahl herausragender Filme auf dieser Liste gar nicht erst vorkommt, ist für Suchsland ein schlagender Beleg dafür, "dass es mit der Filmakademie nach nunmehr 15 Jahren Verschlimmbesserung des Bundesfilmpreises nichts mehr werden kann. ... Diversität wird gern gefordert. Es gibt aber auch eine ästhetische Diversität. Der deutsche Film according to deutsche Filmakademie ist ein Biotop der Harmlosigkeit und Irrelevanz."

Von Testosteron erfülltes Leiden: Die dritte "True Detective"-Staffel
Die erste "True Detective"-Staffel war Top, die zweite ein Flop - für die dritte Staffel der von Nic Pizzolatto geschriebenen Serie hat HBO sich und seinem Autor deshalb gemächlich viel Zeit gelassen. Und das hat sich durchaus gelohnt, meint Nina Rehfeld in der FAZ: Die Hauptfigur ist diesmal ein schwarzer, von Mahershala Ali gespielter Ermittler, die neue Staffel "erzählt weniger von einem Kriminalfall denn von der Suche nach Identität in den amerikanischen Südstaaten, in denen Rassismus so tief verwurzelt ist, dass er noch in scheinbaren Nebensächlichkeiten zum Ausdruck kommt." Und wie die erste Staffel zeigt auch diese "ein Testosteron-erfülltes Leiden an der Welt. Die Katzenhaftigkeit und vorsichtige Intelligenz, die Ali seiner Figur verleiht, ist reizvoll: ein Jäger, der in Vietnam allein durch den Dschungel streifte, um feindliche Positionen auszuspähen, und dessen Aufmerksamkeit wenig entgeht." Zuvor zeigte sich auf SpiegelOnline auch Hannah Pilarczyk von der neuen Staffel sehr beeindruckt.

Weitere Artikel: Marisa Buovolo schreibt in der NZZ über die Filmgeschichte der Kurzhaarfrisuren von Frauen. Arne Koltermann verbeugt sich im Filmdienst vor den "Sopranos", die vor 20 Jahren auf HBO starteten. Im Standard plaudert Michael Wurmitzer mit Wim Wenders. Jörg Gerle präsentiert im Filmdienst die besten und schönsten BluRays der letzten sechs Monate. Und, oh weh, das hatten wir leider übersehen: Bereits an Silvester veröffentlichte Rainer Knepperges auf New Filmkritik den dritten Teil seiner tollen Screenshot/Text-Collagenreihe "Auge und Umkreis".

Besprochen werden unter anderem Michael Moores "Fahrenheit 11/9" (taz), die von Harald Schmidt angeregte SWR-Serie "Labaule & Erben" (Welt), der Netflix-Film "Aufräumen" mit Marie Kondo (FAZ) und der Arte-Mehrteiler "Ein Wunder" (Filmdienst).
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Kunst

Franz Wilhelm Seiwert. Diskussion. Kunstmuseum Bonn. Foto: Reni Hansen.

Als gelungenen Auftakt zur Wiedereröffnung der erweiterten Mannheimer Kunsthalle würdigt Annika Wind im Tagesspiegel die Schau "Konstruktion der Welt", die sich in Zeitspannen zwischen 2008 bis 2018 und 1919 bis 1939 mit der Verbindung von Kunst und Ökonomie auseinandersetzt: "Maya Zack zeigt in ihrem Video 'Mother Economy' eine jüdische Hausfrau, die versucht, die Erinnerung an ihre wohl im Holocaust umgekommenen Familienmitglieder zu ökonomisieren: Da werden akribisch Portionen eines traditionellen Kuchens zugeteilt - aber die Plätze am Tisch bleiben leer. Maja Bajevi hat von bosnischen Näherinnen Börsenkurse globaler Handelsgüter in Teppiche weben lassen. Dazu ziehen beunruhigende Roboter-Skulpturen der Künstlergruppe BBM (Beobachter der Bediener von Maschinen) ihre Runden - Gerätschaften, die mit Computerstimmen miteinander kommunizieren und doch auf nur ein einziges Vorhaben getrimmt sind: Kontrolle."

Hyperallergic hat sich mit mehr als zwanzig prominenten Kunst- und Medienfachleuten, unter anderem Louvre-Angestellten, in Verbindung gesetzt, um Informationen zum Verschwinden des für 450.000 Millionen Dollar versteigerten "Salvator Mundi" von Leonardo da Vinci zu erhalten. Alle weigerten sich, den Fall zu kommentieren. Als Käufer gilt der Louvre Abu Dhabi. Vermutlich ist der eigentliche Käufer der saudische Kronzprinz Mohammed bin Salman, den man schützen wolle, sagt der Kunsthistoriker Mark Levine im Interview: "Das Problem ist, auf der einen Seite steht der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman, der sich als Reformer, Kämpfer gegen Korruption, Modernisierer und jemand, der mit dem Westen verhandelt, inszeniert. Jemand aus einer wahhabitischen Königsfamilie kauft ein Gemälde von Jesus als Retter der Welt - es gibt nichts, das weniger muslimisch ist. Andererseits führt er eines der repressivsten Regime der Welt und einen katastrophalen Krieg im Jemen. Innerhalb eines Jahres gibt er fast eine Milliarde Dollar für eine Yacht und ein Gemälde aus. Sie zahlen nicht 450 Millionen Dollar für ein Gemälde, von dem sie glauben, es sei von einem Studenten gemalt, aber dies ist ein Typ, der noch mehr für eine Yacht ausgegeben hat, also hat er offensichtlich kein Interesse an etwas anderem als an der Steigerung seines Egos."

Weitere Artikel: Mit Beiträgen von Helge Schneider, Alexander Kluge, Richard Sennett, dem Literaturwissenschaftler Joseph Vogel, der Kunsthistorikerin Julia Voss und anderen ist im Berliner Haus der Kulturen der Welt das Langzeitprojekt "Das neue Alphabet" eröffnet worden, das sich der Zukunft von algorithmischem Denken und digitalen Alphabeten widmet. Als "intellektuelle Wundertüte", die allerdings nicht über eine "gigantomanische Einführung in Fluch und Segen unserer digitalen Zukunft" hinauskommt, erlebt Gregor Dotzauer im Tagesspiegel den Abend. In der FAZ schreibt Hannah Bethke. Im pünktlich zu seinem Achtzigsten geführten SZ-Interview mit Catrin Lorch spricht Walther König über seine Anfänge als Verleger und Kunstbuchhändler.

Besprochen wird eine Schau mit Werken der Privatsammlung des Berliner Galeristen Michael Haas im Centre of Contemporary Art "Znaki Czasu" im polnischen Torun (Tagesspiegel), die Kris-Lemsalu-Schau in der Wiener Secession (Standard) und die Ausstellung "Dominique Gonzalez-Foerster: Martian Dreams Ensemble" in der Galerie für zeitgenössische Kunst, Leipzig (FAZ).
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Musik

Thomas David führt in der NZZ durch den musikalischen Kosmos von Ferdinand Försch, der mit seinen teils aus Schrottplatzmaterial selbstgebauten Instrumenten die Neue Musik herausfordert. Von Klangoptimierungen wie in der Elbphilharmonie hält er nichts: Das sei "'reiner Selbstzweck, eine völlig unnatürliche, in sich geschlossene Welt, die keine neuen, unvorhergesehenen Klänge mehr zulässt. ... Ähnliches erlebe ich, wenn ich mir Konzerte Neuer Musik anhöre', sagt er: 'Das klingt zum Teil wie aus den fünfziger Jahren. Die gleichen Geigen, kein Unterschied. Vielleicht einmal ein chinesisches Becken, das irgendwann 'pling' macht. Ich denke dann: 'Habt ihr noch alle Tassen im Schrank? Geht runter in meinen Keller und hört euch das alles endlich einmal an.'"

Weitere Artikel: In der Welt singt Timo Feldhaus ein Loblied auf die Dlf-Sendung "Klassik-Pop-et-cetera", die "einfachste, perfekteste und schönste Radiosendung der Welt." In der FR erinnert Thomas Stillbauer an das Ruts-Album "The Crack".  Andrian Kreye führt die SZ-Leser in die Welt des Deep Jazz, einem nahen Verwandten des Spiritual Jazz, und damit in eine Welt der Plattenkisten-Digger, Reissue-Labels und spezialisierten Plattenläden. Insbesondere das Stück "Nine Degrees and Cold" des World's Experience Orchestras empfiehlt er als Anspieltipp:



Besprochen wird das neue Album von Deerhunter (Jungle World, mehr dazu bereits hier).
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Bühne

Szene aus "Frankenstein". Tanja Dorendorf
Als "Kolloquium" und nicht als Theaterstück erlebt Daniele Muscionico in der NZZ Mary Shelleys "Frankenstein" am Schauspielhaus Zürich, den Autor Dietmar Dath und Stefan Pucher in eine Zukunft der künstlichen Intelligenz fortgeschrieben haben: "Daths Fachkraft gilt nicht dem Theater, sondern der Theorie, er interessiert sich für die Poetik der fantastischen Literatur und die Kunst, die Wahrheitsmaschinen und Instrumente der Erkenntnis eigener Kraft sind und in Konkurrenz zur Wissenschaft stehen. Aber warum ist die Kunst als Erkenntnis-Generator gegenüber der Wissenschaft im Laufe der Geschichte ins Hintertreffen geraten? 'Frankenstein' in Zürich gibt eine Antwort. Das Hauptproblem des Abends ist das Problem Dath, und es wird schon nach wenigen Wortwechseln deutlich. 'Frankenstein' ist ein dramaturgisches Bildergewitter zu zähen, theorieschweren Monologen ohne schauspielerische Energie. Bei allem Witz, der den Text anreichert: Darsteller, dazu verurteilt, unter Schwachstrom zu agieren, sind kein lustiger Anblick." Nicht ganz folgen kann auch Nachtkritikerin Valeria Heintges. Im Dlf-Kultur-Interview spricht Dietmar Dath über seine Bühnenfassung.

Weitere Artikel: Zum Tod des im Alter von 92 Jahren verstorbenen Bassbariton und Wagnersängers Theo Adam erinnert Arno Widmann in der FR an einen "denkenden Sänger", der "nicht davor zurückschreckte, sich dem Publikum an den Hals zu schmeißen". Weitere Nachrufe in Tagesspiegel und Welt.

Besprochen wird Ian Kalers "On the Cusp" im Tanzquartier Wien (Standard), die Einar Schleef gewidmete Inszenierung "Tarzan rettet Berlin" am Berliner HAU (nachtkritik), Henri Hüsters "Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen" am Lichthof Theater (nachtkritik), die Tanztage Berlin in den Sophiensälen (Tagesspiegel)und Ehel Matala de Mazzas Buch "Der populäre Pakt. Verhandlungen der Moderne zwischen Operette und Feuilleton" (Tagesspiegel).
Archiv: Bühne