Efeu - Die Kulturrundschau

Das Tschirpen der Vögel im Dschungel

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09.01.2019. Die FAZ berichtet, dass Norman Foster in New York die nächste Stufe in Kampf der Wolkenkatzer zündet. In der SZ mahnt der Schauspieler Jürgen Holtz zu einer Demut, die ihr Talent nicht verkauft. Über das Gebaren der Schwedischen Akademie kann die SZ nur noch den Kopf schütteln. Die taz beobachtet, wie Netflix jetzt auch den Filmmarkt in Nigeria aufrollt. Der Standard wiegt sich zu den Avantgarde-Metal-Klängen des indonesischen Duos Senyawa. Die Berliner Zeitung vermisst Heiner Müller.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.01.2019 finden Sie hier

Architektur

Natalie Griffin de Blois' Union Carbide Building "270 Park Avenue". Foto: official-ly cool / Wikipedia Takes Manhattan / CC
Niklas Maak gibt in der FAZ einen Vorgeschmack auf einen "Kampf der Wolkenkratzer" in New York, wo Norman Foster einen 360 Meter hohen Riesen für das Finanzimperium JP Morgan bauen will - und den supereleganten Bau "270 Park" der Architektin Natalie Griffin de Blois abreißen, der seinerseits bereits zweihundert Meter hoch ist: "Einen solchen Koloss mitten in Manhattan wieder verschwinden zu lassen - es wäre der größte Abriss in der Geschichte New Yorks - kostet ein Vermögen und lässt sich ökonomisch nur dann rechtfertigen, wenn man mindestens hundert Meter höher bauen darf. Genau das ist jetzt durch die neuen 'Zoning'-Regelungen für diesen Teil Manhattans möglich; die zweihundert Meter hohen Wolkenkratzer werden bald mickrig aussehen neben dem, was aus dem Boden nahe dem südlichen Central Park schießt."
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Bühne

Jürgen Holtz mit Sina Martens und Andreas Döhler in Frank Castorfs "Le Misérables" am Berliner Ensemble. Foto: Matthias Horn

Für die SZ interviewt Peter Laudenbach den 86-jährigen Schauspieler Jürgen Holtz, der sich nicht nur als "Motzki" unvergesslich machte, sondern auch mit seinem Monolog über die Kloaken von Paris. Holtz spricht über die dumme Ironie, die schon das Theater der DDR vergiftete, über den Zirkus als Nationalität und seine Arbeit mit Frank Castorf für Brechts "Galileo Galilei": "Am Anfang der Aufführung bin ich ganz nackt. Ich muss das volle Risiko eingehen, anders geht es nicht. Theater hat mit Demut zu tun, mit Demut gegenüber den Texten, den Kollegen, den Zuschauern, auch mit Demut gegenüber dem eigenen Talent." Und wie drückt man das aus? "Indem man sein Talent nicht verkauft. Ich habe nichts zu verkaufen, ich habe nur etwas zu verschenken. Das ist etwas Kostbares. Wenn alles zur Handelsware wird und das Theater sich vor allem gut verkaufen will, ist das nicht besonders attraktiv."

Weiteres: In der Berliner Zeitung erinnert Petra Kohse an Heiner Müller, der heute neunzig Jahre alt geworden wäre: "Heiner Müller, der fließende Fels. Der Pointenmümmler, Dauerräusperer, der Unverstellte und doch Posierende, der Schonungslose, der aber nicht verurteilte, sondern einfach konstant die Wunde offen hielt." Auch Standard-Kritiker Ronald Pohl vermisst Müller. Ebenfalls in der Berliner erinnert Doris Meierhenrich an Einar Schleef, "den ungeschliffensten, widersprüchlichsten Solitär im Chor der Theatermenschen", der nächste Woche fünfundsiebzig geworden wäre.

Corina Kolbe bereitet uns auf die anstehende Premiere von Beat Furrers neuer Oper "Violetter Schnee" in Berlin vor, die mit einem Libretto des österreichischen Dramatikers Händl Klaus auf einem Roman von Vladimir Sorokin und Andrei Tarkowskis Filmklassiker "Solaris" beruht, aber auch auf Lukrez: "Darin wird beschrieben, wie die Mauern des Weltalls auseinanderbrechen."Im Standard unterhält sich Stefan Ender mit Axel Kober, der an der Wiener Staatsoper den Ring des Nibelungen dirigiert. In der taz porträtiert Shirin Sojitrawalla die 1962 in Slowenien geborene Regisseurin Mateja Koležnik, die vor allem am Münchner Residenztheater inszeniert.
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Literatur

Ziemlich angewidert reagiert Thomas Steinfeld in der SZ auf die mangelnde Einsicht der Schwedischen Akademie in das selbstangerichtete Fiasko der letzten Monate: Öffentlich geworden ist nun, wie zum Rücktritt aufgeforderte Mitglieder für diesen Fall um künftige Alimentationen buhlen. "Immer stärker wird der Eindruck, die Akademie habe sich in eine Art höchste Kaste verwandelt, deren Mitglieder sich als natürliche Elite verstehen, die sich weder bürgerlichen noch höfischen Verhaltensregeln zu unterwerfen habe. In diesem Sinne erklärte Katarina Frostensons Anwalt, seine Mandantin müsse auch in Zukunft von etwas leben können. Ähnlich treten gegenwärtig auch andere Mitglieder der Akademie auf. Der Literaturkritiker Horace Engdahl ließ zu seinem 70. Geburtstag Ende Dezember erklären, er verlange, so bleiben zu dürfen, wie er sei - als hätte er, durch Protektionismus, Missachtung des Rechtswesens und gravierende Fehlurteile nicht wesentlich zum Niedergang der Akademie beigetragen."

Wie unser Gedächtnis funktioniert, darüber denkt der Schriftsteller Artur Becker in der NZZ anlässlich eines autobiografischen Buchs von Susanne Fritz nach, die in "Wie kommt der Krieg ins Kind" die Haft ihrer Mutter Ingrid Charlotte beschreibt, die als Teenager zwischen 1945 und 1949 im polnisch-stalinistischen Arbeitslager für Deutsche in Potulice bei Bydgoszcz (Bromberg) saß. Auch sie könne nicht ganz einem Vorwurf entkommen, den der polnische Kritiker Hubert Orlowski einst Günter Grass machte: "Der angesehene Germanist warf dem Nobelpreisträger vor, dass er die Geschichte der Söhne und Väter in seinem tabubrechenden Buch 'Im Krebsgang' geschickt ausgeklammert habe, womit die eigentliche Ursache der leidvollen Odyssee der deutschen Flüchtlinge ausgeblendet werde. Orlowski benutzte in dem Zusammenhang das philosophisch-kulturgeschichtliche Konzept der 'Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen' (Ernst Bloch, Wilhelm Pinder). Denn während die sowjetischen Torpedos die 'Gustloff' träfen und Frauen, Kinder und Greise töteten, sei das Morden von der Hand deutscher Männer an allen Fronten des Krieges fortgesetzt worden."

Weitere Artikel: Aldo Keel erzählt in der NZZ, wie beschwerlich der Weg war, bis der Schweizer Schriftsteller Carl Spitteler 1920 den Nobelpreis erhielt. Neue Jugendbücher greifen Mechanismen des Schauerromans auf, erklärt Manuela Kalbermatten in der NZZ.

Besprochen werden unter anderem Gerd Dietrichs "Kulturgeschichte der DDR" (Freitag), Rolf Schneiders "Ebereschenfeuer" (FR), Maggie Nelsons "Bluets" (SZ) sowie Inge Thöns' und Herbert Blanks Band "Librairie Au Pont de l'Europe - die erste Exilbuchhandlung in Paris" (FAZ).

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Kunst

Auch die taz fragt jetzt, wie das Münchner Haus der Kunst die noch von Okwui Enwezor geplanten Ausstellungen von Joan Jonas und Adrian Piper absagen konnte, um dann Jörg Immendorf und Markus Lüpertz zu zeigen: "Spies, Werner, Lüpertz, Smerling, ein fein und edel gesponnenes rheinisches Netzwerk, das sich für die als freundlich kaschierte feindliche Übernahme des bayerischen Tempels der zeitgenössischen Kunst bereit macht? Ein brutal orchestrierter ultimativer Schlag gegen die Ausstellungspolitik einer international hochgeschätzten Koryphäe?"

Besprochen werden eine Ausstellung des sizilianischen Impressionisten Antonino Leto in der Galleria d'Arte Moderna in Palermo (der FAZ-Kritiker Andreas Rossmann zufolge geradezu veristisch jeder Idealisierung des Südens eine Absage erteilte), die Ausstellung "Local Histories" im Hamburger Bahnhof, die unter Bezug auf Donald Judd amerikanische Konzeptkunst, Pop-Art und Kapitalistischen Realismus versammelt (taz) und eine Schau der französischen Künstlerin Perrine Lacroix in der Kunsthalle Krems (Standard).
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Film

Die Gretchen-Frage unserer Tage ist die, wie man es denn mit Netflix halte. Dass Netflix mit seinen selbstproduzierten oder aufgekauften Exlusivinhalten immer globaler agiert - gerade hat der Anbieter seinen ersten nigerianischen Film lanciert -, hat durchaus positive Effekte für die Industrien vor Ort, glauben Carolina Schwarz und Fatma Aydemir in der taz, zumal der Streaminganbieter im strukturschwachen Nigeria auch in die Internetversorgung investiert. Zudem zeigt der Actionfilm "The Protector", die erste türkische Netflix-Produktion, "wie viel ungeahntes Potenzial noch in der türkischen Industrie steckt. ... Netflix bereichert nicht nur sich selbst, sondern auch die nichtwestlichen Filmindustrien, in die das Unternehmen nun zunehmend investiert. Diese werden unabhängiger, schärfen ihre Profile und können sich mit dem neuen Riesen im Rücken erlauben, gängige Stereotype endlich hinter sich zu lassen."



Viel diskutiert wurde auch über die Produktion "Roma", ein (von Netflix allerdings nur aufgekaufter, nicht produzierter) Erinnerungsfilm des Regisseurs Alfonso Cuarón über seine Kindheit im Mexiko der Siebziger, für die er eine Hausangestellte in den Mittelpunkt rückt. Unserem Kritiker Lukas Foerster hat der Film sehr gefallen, weil Netflix den Venedig-Sieger aber nicht in die Kinos bringen wollte, bevor es ihn im Stream zeigt, sahen einige Kritiker darin einen weiteren Sargnagel fürs Kino. In der taz äußert sich Schriftsteller Ilija Trojanow auch ziemlich skeptisch, was diese Form der historischen Aufarbeitung durch subjektive Zuspitzung betrifft: "Politische Zusammenhänge werden in Nebensätzen versteckt, die sich nur den Kundigen erschließen. 'Roma' ist mehr als ein überschätztes Kunstwerk, es ist repräsentativ für eine parzielle Blindheit des globalen Nordens. Die nostalgische Grundstimmung und die schwerfällige Ästhetisierung sind Ausdruck einer imperialen Sehweise, die den Blick auf die Brutalitäten der Realität verstellt." (Alfonso Cuaron ist Mexikaner, nicht Nordeuropäer, aber was soll's.)

Peter Praschl nimmt derweil in der Welt die Debatte über die Episode "Bandersnatch" der Netflix-Serie "Black Mirror" auf, die dem Zuschauer interaktive Entscheidungsmöglichkeiten vorgaukelt: Doch "egal, wofür es sich entscheidet, es bleibt immer in derselben Geschichte gefangen, in jener dystopischen Tristesse, die einem schon Hunderte Male eingebläut worden ist."

Szenenwechsel von Netflix zur neuen "Das Boot"-Serie, die eher ein Sequel als ein Remake von Wolfgang Petersens Klassiker aus den Achtzigern darstellt. In einem großen Essay in der Jungle World nimmt Georg Seeßlen diese neue Serie vor dem Hintergrund der Geschichte der Darstellung des Zweiten Weltkriegs im deutschen Nachkriegskino und dem horizontalen Erzählen neuerer Serien aufs Korn und gibt seinem verschwörungstheoretischen Affen Zucker: Sie "betreibt ihr world building mit solcher Konsequenz, dass es ein Außen nicht mehr geben kann. Eben dies ist das Geheimnis der nun auch nicht mehr ganz neuen Serien: Dass sie eine zwar vielfältige und wuchernde, aber letztlich in sich geschlossene und schließlich entropische Welt zeigen. Das heißt: Die einzige Zeit, in der solche Serien spielen können, ist eine Endzeit, eine Niemandszeit. Konkreter freilich könnte man auch behaupten, 'Das Boot' sei, so wie der alte deutsche Kriegsfilm ein Propagandaakt für die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik gewesen ist, eine Propaganda für eine Von-der Leyen-Armee. Eine Geisterarmee."

Weitere Artikel: Für ZeitOnline hat Gerhard Midding Kevin Spaceys ersten öffentlichen Auftritt nach seinem MeToo-Skandal beobachtet. Christoph Egger wirft für die NZZ einen Blick ins Programm des Stummfilmfestivals in Zürich. Auf der Medienseite der FAZ spricht Oliver Jungen mit Harald Schmidt über die von dem ehemaligen TV-Moderator konzipierte Zeitungshaus-Satire "Labaule & Erben", die der SWR online gestellt hat.

Besprochen werden Andreas Goldsteins und Jakobine Motz' Verfilmung von Ingo Schulzes Wenderoman "Adam und Evelyn" (Tagesspiegel, für die FR hat Cornelia Geißler mit dem Regisseur gesprochen, für ZeitOnline Anke Sterneborg mit dem Autor), James Grahams am Montag in Großbritannien ausgestrahlter "Brexit - The Uncivil War" mit Benedict Cumberbatch (ZeitOnline, FAZ) und Paolo Sorrentinos Berlusconi-Biopic "Loro" (Standard).

Und schön, davon bitte mehr: Arte bietet in einem Hitchcock-Online-Dossier einige frühe Filme des Suspense-Meisters aus seiner britischen Phase an.
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Musik

Im Standard lobpreist Christian Schachinger den experimentellen Avantgarde-Metal des indonesischen Duos Senyawa, das seinen derben Sound mit traditionelleren Klängen aus seiner Heimat verbindet: "Instrumentalist Wukir Suryadi und Vokalakrobat Rully Shabara entwickeln dabei mit zunehmend größer werdendem Erfolg seit 2010 eine Form gleichzeitig frei flottierender und doch in geordneten Flugbahnen bleibender Sounds." Zu hören gibt es "eine hoch hinaus und dann wieder tief fliegende Mischung aus Doom Metal, klöppelndem Neotribalismus, kreischender Avantgarde mit Ohrenschmerzen und einer aus dem Punk kommenden Haltung an. Dazu kommt dann noch der guttural den Höllenfürsten oder verzaubert das Tschirpen der Vögel im Dschungel beschwörende Extremgesang." Liest sich wüst und klingt auch wüst - hier ein Live-Auftritt:



Weitere Artikel: Frank Junghänel gratuliert in der Berliner Zeitung Jimmy Page zum 75. Geburtstag. Besprochen werden Marie Reichs Kino-Dokumentatfilm "Meine Welt ist die Musik" über den Schlager- und Filmmusikkomponisten Christian Bruhn (Welt), ein psychedelisch angehauchtes Tape des Berliner DJS und Produzenten Çaykh (Pitchfork), ein Liederabend mit Matthias Goerne und Daniil Trifonov (Tagesspiegel), der Auftakt der Russian Season an der Berliner Philharmonie mit Valery Gergiev und seinem Mariinsky-Ensemble (FAZ) und neue Popveröffentlichungen, darunter das Debütalbum "X100PRE" des puerto-ricanischen Rappers Bad Bunny (SZ).
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